Was passiert im Irak?

Die Proteste, die letzte Woche in vielen irakischen Städten begannen, läuten einen neuen Prozess im Irak ein. Es ist allerdings schwer vorherzusagen, wohin dieser Prozess führen wird.

Der Irak hat lange Zeit gegen den Islamischen Staat (IS) gekämpft. Im Jahr 2016 begann die irakische Regierung mit der Unterstützung der internationalen Anti-IS-Koalition und den Hashd-al-Shaabi-Kräften eine Offensive, um den IS vom irakischen Territorium zu vertreiben. Mit der Befreiung des Kreises Havice in der Region Kerkûk war der IS auf irakischem Territorium weitgehend besiegt worden. Danach benutzte die irakische Regierung das Referendum in Südkurdistan am 25. September 2017 als Vorwand, marschierte in die umstrittene Region ein und brachte diese über Nacht unter ihre Kontrolle. Damit wurde die Macht der irakischen Regierung unter Haider al-Abadi gestärkt. Abadi entschied sich die Gelegenheit zu nutzen und aus einem Moment der Stärke heraus die notwendigen irakischen Parlamentswahlen am 12. Mai 2018 durchzuführen. Mittlerweile sind mehr als zwei Monate seit den Wahlen vergangen. Aber die Ergebnisse der Wahlen wurden immer noch nicht offiziell verkündet. In den Gebieten, in denen Widerspruch eingelegt wurde, hat die Auszählung per Hand begonnen. In Kerkûk wurde die Zählung per Hand abgeschlossen, in Silêmanî ebenfalls, aber es wurden bisher keine Ergebnisse veröffentlicht. In Hewlêr hat die Zählung vor vier Tagen begonnen, sie dauert noch immer an. Gestern begann die Auszählung per Hand in Duhok. Einerseits wurde Widerspruch eingelegt und in manchen Gebieten also die Handauszählung beschlossen, andererseits findet gerade eine Regierungsbildung im Irak statt. Der Wahlsieger, die Sairun-Liste mit dem Führer der Sadr-Bewegung Muqtada al-Sadr, die zweitstärkste Kraft Bedir-Liste mit dem Begründer von Hashd al-Shaabi, Hadi al-Amiri an der Spitze, das nationale Bündnis von Iyad Alawi und auch der aktuelle Ministerpräsident Abadi haben sich getroffen und sich über eine Regierungsbildung geeinigt.

Auch wenn es unter den Kurd*innen äußerst tiefgehende Widersprüche gibt, haben sich die KDP (Demokratische Partei Kurdistan) und die YNK (Patriotische Union Kurdistans) über eine Regierungsbeteiligung geeinigt. Der Irak hatte auch früher schon häufig nach Wahlen längere Zeit keine Regierung. Aber zum ersten Mal wurden bei den Wahlen am 12. Mai – das sind die vierten Wahlen nach der Zeit Saddam Husseins – Widersprüche wegen Wahlbetrug gegen die Wahlen eingelegt. Die Widersprüche nahmen kontinuierlich zu und es gab Erklärungen die deutlich machten, dass die Parteien, wenn sie die Widersprüche nicht akzeptierten, nicht am politischen Prozess im Irak teilnehmen würden.

Die Probleme, die den Irak ersticken …

Die Ergebnislosigkeit der Wahlen, die Probleme mit Südkurdistan, die Probleme zwischen sunnitischer und schiitischer Bevölkerung, wie auch die Zersplitterung der Schiit*innen, rufen viele weitere Probleme hervor, und obwohl der Irak ein Ölland ist, herrscht im Irak hohe Arbeitslosigkeit. Die Gebiete, die reich an Öl sind, sind besonders von Armut, von fehlenden öffentlichen Dienstleistungen und von Problemen mit der Wasser- und Stromversorgung betroffen. Dass die irakische Regierung und ihr Ministerpräsident Abadi mit Hilfe der internationalen Koalition gegen den IS erfolgreich war, und auch die Intervention in die umstrittenen Gebiete bei Kerkûk, brachte nicht die von ihnen gewünschten Ergebnisse. Während der Irak in seinen Problemen erstickt, haben auch die regionalen und internationalen Mächte, allen voran die Türkei, noch weitere Probleme geschaffen. Die Türkei versucht über die Irakische Turkmenische Front (ITC) Einfluss auf den gesamten Irak und insbesondere in Kerkûk zu nehmen. Die ITC hat bewaffnete Gruppen gebildet, sie sind ausgebildet und mit Waffen ausgestattet. Über diese Situation hat zuletzt der YNK Parlamentarier Şiwan Dawudî berichtet. Er betonte er habe Dokumente, die dieses belegen. Er sei bereit, diese bei der irakischen Regierung vorzulegen.

Die USA und der Iran verwenden größte Mühen darauf, dass im Irak eine ihnen jeweils nahestehende Regierung gebildet wird. Mit Sadr hat eine für ihre Nähe zu den USA und Saudi-Arabien bekannte Liste die Führung übernommen, direkt gefolgt von Amiris Liste, die dem Iran nahesteht. Der wiederum den USA nahestehende Abadi wurde dritter, während Amr Hekims Stimmanteil zu vernachlässigen ist. Obwohl Sadr Treffen einberief, bei denen sich auf eine Regierungsbeteiligung geeinigt wurde, konnte keine Regierung gebildet werden. Denn die Wahlergebnisse wurden noch nicht offiziell verkündet. Die Regierungsbildung hat sich in einen Kampf zwischen den USA und dem Iran gewandelt. Deshalb bringt das aktuelle Geschehen und die Nichtbekanntgabe der Wahlergebnisse den Verdacht mit sich, internationale Mächte würden auf die Wahlen Einfluss nehmen. Politiker*innen aus dem Irak, wie aus Südkurdistan, Intellektuelle und Autor*innen stellen einen solchen Zusammenhang her.

Die Parolen auf den Demonstrationen

Während der Irak aufgrund von inneren, internationalen und regionalen Konflikten in großen Schwierigkeiten steckt, begann die die Bevölkerung von Basra wegen den Unterbrechungen der Stromversorgung, der Arbeitslosigkeit, der Wirtschaftspolitik und der daraus resultierenden Armut, auf die Straße zu gehen. In kurzer Zeit breiteten sich die Proteste in den schiitischen Regionen im Süden aus. Den Protesten in Basra schlossen sich Städte wie Nadschaf, Kerbela, Zukkar, Babylon, Hille, Misan und zuletzt Nasiriye an. Trotz Verbot entwickelten sich Massenproteste. Die Bevölkerung machte klar, dass sie keine Verbote anerkennen würde und setzte die Demonstrationen durch.

Die Demonstrant*innen nahmen die Gebäude der Partei von Nuri al-Maliki und der schiitischen Parteien, wie auch die Kreisräte ins Visier. In manchen Städten wurden Parteigebäude angezündet. Die Flughäfen und die Grenzen wurden geschlossen, die Stadtverwaltungen besetzt. Nach dem Ende der ersten Woche der Proteste tauchte eine Struktur mit dem Namen „Rat der Protestierenden im Irak“ auf. Auf Flugblättern wurde eine Militärregierung gefordert. Die Forderungen auf den Flugblättern des „Rats“ deuten auf den Versuch hin, ein ägyptisches Modell zu installieren. Die Demonstrant*innen riefen zuletzt immer wieder auf Demonstrationen „Weder die Sunniten, noch die Schiitischen Liberalen.“ Nuri al-Maliki und seine Basis, die schiitische Fazilet-Partei, wie auch die anderen Parteien, wurden zum Angriffsziel der Protestierenden, es wird deutlich, dass es sich hierbei auch um eine Reaktion auf dem Iran nahestehende Parteien und Organisationen handelt. Denn Maliki steht dem Iran nahe und versucht eine den iranischen Forderungen entsprechende Regierung zu bilden. Zuletzt kam ein Dokument an die Öffentlichkeit, das belegt, dass man sich im Thema des Ministerpräsidenten und Republikspräsidenten mit der KDP geeinigt habe. Dem Dokument nach soll Nuri al-Maliki als Ministerpräsident die neue Regierung bilden, während Mesûd Barzanî Republikspräsident wird. Die Demonstrationen richten sich auch gegen diese Vereinbarung zur Regierungsbildung.

Haider al-Abadi führte das Ministertreffen durch, danach trafen sich die Sicherheitskräfte. Abadi teilte nach diesem Treffen Basra drei Milliarden Dollar Budget zu. Aber dennoch endeten die Demonstrationen nicht. Nach dem Treffen wurden weitere Sicherheitskräfte zur Verstärkung in die Region entsandt. Es gab Erklärungen, in denen Abadi mit Gewalt drohte: „Gegen die Teilnehmer an den unerlaubten Demonstrationen, diejenigen, die sich nicht an Verbote halten, werden wir vorgehen.“ Nach dem Sicherheitstreffen wurde eine Brigade nach Basra geschickt. Aber diese Brigade schloss sich den Demonstrant*innen an und begann die Bevölkerung zu unterstützen.

Die USA und der Iran schweigen

Während sich die Proteste immer weiter bis nach Bagdad ausbreiten, haben die Türkei, Kuweit und manche westlichen Länder bisher eine Erklärung dazu abgegeben. Kuweit hat schon am dritten Tag der Proteste damit begonnen, die eigenen Grenzschutzkräfte zu mobilisieren. Aktuell besuchte der kuweitische Generalstabschef die an der Grenze stationierten Kräfte.

Der Iran hat bisher keine Erklärung zu den Protesten im Irak abgegeben, in seinen Medien befanden sich allerdings Nachrichten, die vor allem auf die Verarmung der Bevölkerung als Protestursache hinwiesen. Auch die Koalitionsmitglieder USA, England und Frankreich haben bisher keine Erklärung abgegeben. Die Proteste finden zu einer Zeit statt, in denen sowohl in den USA als auch im Europaparlament Diskussionen stattfinden, Hashd al-Shaabi auf die Terrorliste zu nehmen. In diesem Zusammenhang betrachtet scheint es nicht falsch zu sein, zu sagen, dass die westlichen Länder eine Art Einfluss auf die Proteste nehmen.

Wohin werden sich die Proteste entwickeln?

Trotz der Ankündigungen Abadis gegen die Proteste vorzugehen, gehen diese bis heute weiter. Es ist schwer zu sagen, wohin sie sich entwickeln werden. Es gibt mittlerweile Sorgen, dass es zu einem Militärputsch kommt. Die irakische Regierung versucht Maßnahmen zu ergreifen, um die Proteste auf ökonomische, militärische und viele andere Weisen zu stoppen. Aber sie konnten nicht nur die Proteste nicht stoppen, sondern auch deren Ausweitung nicht verhindern. Daher ist es schwer zu beurteilen, was aus diesen Protesten erwachsen wird.