Es ist November. Vor 100 Jahren breitete sich eine revolutionäre Bewegung im deutschen Kaiserreich aus. Die organisierte Arbeiter*innenbewegung stellte sich nicht nur dem Krieg in den Weg, sondern baute regionale Räterepubliken auf. Hundert Jahre nach deren Zerschlagung verwirklicht sich der Rätegedanke in der Revolution von Rojava.
Revolutionäre Geschichte verteidigen
Von staatlicher Seite wird das diesjährige Jubiläum der Novemberrevolution erneut als Geburtsstunde des bürgerlichen Staates und wichtiger Bezugspunkt der Nationalgeschichte gefeiert. Die damalige Revolution wird mit dem bürgerlichen Staat und der parlamentarische Demokratie gleichgesetzt, welche uns als Beste und einzige aller Systeme verkauft wird. Diejenigen, die eine sozialistische Gesellschaft anstrebten, werden als Träumer*innen oder Terrorist*innen dargestellt. Diese Geschichtsverdrehung, die den Ereignissen ihren revolutionären Gehalt beraubt, wird zur Legitimierung jener Herrschaft benutzt, welche auf den gleichen Kapitalinteressen und der gleichen Kriegslogik beruht, gegen die die Arbeiter*innen vor 100 Jahren revoltiert haben. Um uns unsere Geschichte von herrschender Seite nicht aus den Händen reißen zu lassen, müssen wir sie erzählen, würdigen und verteidigen.
Räterepublik statt Kaiserreich
Die Novemberrevolution entstammte aus der Arbeiter*innenbewegung, die sich radikal gegen den ersten Weltkrieges organisierte, der im Namen des Kapitals Europa in ein Schlachtfeld verwandelt hatte. Als die SPD durch ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 die Kriegspolitik des deutschen Kaisers unterstützte und ihr wahres Interesse an Herrschaft und Unterdrückung zeigte, organisierten sich die kriegsgegnerischen revolutionären Arbeiter*innen abseits der SPD. Inspiriert von der russischen Oktoberrevolution wollten sie eine gesamtdeutsche Räterepublik erkämpfen. Vor allem die Spartakusgruppe um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, agitierten gegen den Krieg und verbreiteten die Idee des Sozialismus. Die Unzufriedenheit über den andauernden Krieg, sowie die damit verbundene soziale Not in der Bevölkerung legten die Bedingungen für revolutionäre Entwicklungen.
Der Novemberrevolution ging eine Reihe von Massenstreiks voraus, die sich gegen den Krieg richteten und die maßgeblich von den Spartakist*innen organisiert wurden. Einer der größten Streiks fand im Januar 1918 statt. Allein in Berlin legten 400.000 Menschen ihre Arbeit nieder. Frauen, die in den Pulverfabriken beschäftigt waren, nahmen dabei eine führende Rolle ein. Die Streiks weiteten sich in kurzer Zeit aus und landesweit bauten Soldaten und Arbeiter*innen in den Betrieben, der Marine und im Heer Rätestrukturen auf. Bei Massendemonstrationen, die teilweise in Ausschreitungen endeten, wurden große Teile der radikalen Arbeiter*innen verhaftet. Trotzdem wuchs der Widerstand gegen Kaiserreich und Krieg und der Wunsch nach einer sozialistischen Räterepublik.
Das Feuer entfacht in Kiel
Trotz der faktischen militärischen Niederlage des deutschen Kaiserreiches, gab die deutsche Marineführung im Oktober 1918 den Befehl, eine letzte angeblich entscheidende Seeschlacht mit England in Form eines Blitzangriffes herbeizuführen. Als die Nachricht die Matrosen auf den Schiffen vor Wilhelmshaven erreichte, zettelten diese den Aufstand an. Sie verweigerten den Befehl, besetzen Kommandostellen und verhinderten mit Sabotageakten das geplante Auslaufen der Flotte. Matrosen, die daraufhin in Kiel verhaftet wurden, werden Anfang November durch eine Großdemonstration, die hauptsächlich aus Arbeiter*innen, Matrosen und Frauen bestand, befreit. Trotz anschließender Zusammenstöße, bei denen es auch Tote gab, kann die Ausbreitung des Aufstandes nicht verhindert werden. Es werden Arbeiter- und Soldatenräte gewählt, die schon am 4. November die politische und militärische Macht in Kiel vollständig übernehmen.
Die Revolution, die in Kiel startete, breitete sich schnell aus. Innerhalb weniger Tage konnten auch alle größeren Städte unter die Kontrolle der Räte gebracht werden. Am 9. November füllten sich die Straßen Berlins mit Hunderttausenden Demonstrant*innen, wo am gleichen Tag die Abdankung Kaiser Wilhelms II. bekannt gegeben wird und der Spartakist Karl Liebknecht die freie, sozialistsiche Republik ausruft. Zwei Tage später endet schließlich der erste Weltkrieg. Landesweit organisieren sich regionale Räterepubliken wie in München und Bremen. Es folgen weitere Aufstände und Generalstreiks.
Die Rätebewegung konnte jedoch nicht lange stand halten. Die Sozialdemokratie hatte bereits intensiv versucht, die Revolution von innen heraus zu ersticken. Um ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen, setzte sie als Teil einer Übergangsregierung einige Forderungen der radikalen Arbeiter*innen um, wie zum Beispiel das Frauenwahlrecht. Um die Sozialist*innen endgültig zu stoppen, greifen sie schließlich militärisch ein. Die mit ihr verbündeten rechts-nationalistischen Freikorpsverbände schießen Demonstrationen nieder und zerschlagen die regionalen Räterepubliken. Am 15. Januar 1919 ermorden sie mit der Zustimmung des Sozialdemokraten Gustav Noske die Spartakist*innen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Die Arbeiter*innenbewegung kann der Zerschlagung der jungen Revolution letztlich nichts mehr entgegensetzen. Sie ist tief gespalten und kann nicht mehr verhindern, dass die alten Eliten in politische Ämter zurückkehren und mit der Weimarer Republik die Zeit beginnt, die zum Wegbereiter des Faschismus wird.
100 Jahre nach der Novemberrevolution: Rätedemokratie und Frauenrevolution in Rojava
Die neue Gesellschaft, die damals für kurze Zeit erkämpft werden konnte, wird heute – 100 Jahre später – in Rojava umgesetzt. 2012 konnte die Bevölkerung Nordsyriens, die seit Jahrzehnten von der revolutionären Ideologie der kurdischen Arbeiterpartei PKK geprägt war, das Land unblutig aus den Händen des Assad-Regimes übernehmen. Seitdem findet eine grundlegende Umstrukturierung der Gesellschaft in allen Bereichen hin zum demokratischen Konföderalismus statt. Dieses Modell einer nicht-staatlichen Basisdemokratie, welches vom PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan entwickelt wurde, beruht auf der Selbstverwaltung der Gesellschaft durch Räte und Kommunen.
Die Revolution von Rojava steht in der Tradition vergangener, sozialistischer Revolutionen. Die revolutionäre Theorie und Praxis wurde jedoch um diejenigen Punkte weiterentwickelt, an denen vorherige Freiheitskämpfe gescheitert sind. Durch die Erfahrungen des Realsozialismus wurde schließlich deutlich, dass ein Staat niemals Mittel zur Befreiung sein kann. Das besondere an der Rojava-Revolution ist jedoch, dass Frauen die treibende Kraft im gesellschaftlichen Aufbauprozess sind. Sie organisieren sich in allen Bereichen autonom, bauen eigene Institutionen auf und setzen anti-patriarchale Perspektiven gesellschaftlich um. Dabei geht es nicht um die gleichberechtigte Teilhabe an einem ausbeuterischen System, sondern um die Überwindung des ausbeuterischen Systems durch Frauenorganisierung.
Vorgehen des Feindes
Die Strategien des Feindes gegenüber der revolutionären Linken sind im Kern die gleichen geblieben. Die Angriffe auf die revolutionäre Bewegung in Kurdistan gleichen den Angriffen von damals. Durch öffentliche Fahndungen wird versucht, einen Keil zwischen den Militanten und der Bevölkerung zu treiben. Gefangennahme und Ermordung von Revolutionär*innen zielen schließlich auf das Auslöschen ihrer Ideen ab. Diese Absichten, die hinter dem Doppelmord an der Spartakus-Führung steckten, werden auch heute mit der Inhaftierung und Isolationshaft von Abdullah Öcalan weiter verfolgt. Ebenso das in diesem Monat von den USA verhängte Kopfgeld auf die PKK-Revolutionäre Murat Karayılan, Cemil Bayık und Duran Kalkan.
Neben den Versuchen revolutionäre Führungspersonen auszuschalten, zählt auch das blutige Vorgehen gegen aufgebaute Rätestrukturen zur Strategie des Feindes. Die faschistischen Freikorps-Verbände, die damals die regionalen Republiken niederschlugen, finden sich heute im Mittleren Osten im Form von dschihadistische Milizen wieder. Den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf den Kanton Efrîn Anfang diesen Jahres führte das türkische Militär gemeinsam mit islamistischen Paramilitärs, die bis heute die Zivilbevölkerung im von ihnen besetzen Efrîn terrorisieren. Dass die in diesem Krieg eingesetzten deutschen Panzer vom damaligen SPD-Vizekanzler Sigmar Gabriel an die Türkei verkauft wurden, zeigt, dass an den Händen der deutschen Sozialdemokratie nach wie vor das Blut revolutionärer Bewegungen klebt.
Aus der Geschichte lernen
Was Rosa Luxemburg damals mit den Worten „Sozialismus oder Barbarei” ausdrückte, versteht die Befreiungsbewegung Kurdistans als den Kampf zwischen demokratischer und kapitalistischer Moderne. Die Novemberrevolution war eine Zuspitzungen dieses Kampfes, in der die kapitalistische Moderne siegte. Der Kampf für eine neue Gesellschaftsordnung ist deswegen jedoch keine Unmöglichkeit, kein Hirngespinst oder lediglich träumerische Utopie. Revolutionen sind eine Notwendigkeit, die sich nach wie vor aus der Gewalttätigkeit der Verhältnisse ableitet. In Rojava wird durch den Aufbau der demokratischen Autonomie die Utopie konkret gelebt und die kapitalistische Moderne zurückgedrängt. Die Türkei versucht diese Entwicklung mit allen Mitteln aufzuhalten. In den vergangenen Wochen beschoss das türkische Militär mehrmals von der Grenze heraus die Selbstverwaltungsgebiete. Damals haben die revolutionären Matrosen durch Sabotage, Streiks und Befehlsverweigerung die Kriegsstrategie durchbrochen. Deutschland ist durch seine Rüstungsexporte und seine Beziehungen zur faschistischen Türkei aktive Kriegspartei in Kurdistan. Daher liegt die Verantwortung, dass sich die Geschichte der gescheiterten Novemberrevolution in Rojava nicht wiederholt, auch in Deutschland. Die Kämpfe der Novemberrevolution können wir schließlich damit würdigen, wenn wir uns in ihrer Kontinuität als Subjekte desselben Befreiungskampfes verstehen und weiter an einer revolutionären Perspektive festhalten.