Vincent Gerber: Murray Bookchins Ideen sind in Rojava präsent

Die gesellschaftspolitischen Ideen des ökoanarchistischen Theoretikers Murray Bookchin und des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan haben viele Gemeinsamkeiten, aber es gibt auch Unterschiede.

Soziale Ökologie und demokratischer Konföderalismus

Wenn von sozialer Ökologie die Rede ist, fällt einem als erstes der Name Murray Bookchin ein. Die von dem 2006 verstorbenen US-amerikanischen Denker und Theoretiker entwickelten Ideen haben bis heute Bedeutung in der politischen und sozialen Philosophie. Auch der kurdische Vordenker Abdullah Öcalan ließ sich davon inspirieren, zwischen ihm und Bookchin gab es einen Briefwechsel.

Wie sieht Murray Bookchins Theorie des libertären Munizipalismus und der sozialen Ökologie aus, die in Rojava erstmals von der Theorie in die Praxis umgesetzt wurde? Wie ist in diesem Kontext die Verbindung zwischen dem seit 25 Jahren in der Türkei inhaftierten PKK-Begründer Abdullah Öcalan und Murray Bookchin entstanden? Inwieweit hat Bookchins Theorie Öcalans Paradigma des demokratischen Konföderalismus beeinflusst? Und was bedeutete die Revolution von Rojava in einer Zeit, in der die Hoffnungen für die Linke in der Welt schwanden? Über diese und viele andere Fragen hat Serkan Demirel für ANF mit dem Schweizer Historiker und Buchautor Vincent Gerber gesprochen.


Können Sie uns zum besseren Verständnis ein wenig über das Konzept der sozialen Ökologie erzählen, das Murray Bookchin als Theorie vorgebracht und dann in eine Bewegung umgewandelt hat?

Die soziale Ökologie ist, wie Sie bereits erwähnt haben, eine von Murray Bookchin in den 1960er Jahren initiierte Umweltbewegung, die die These vertritt, dass die Wurzeln der ökologischen Probleme in sozialen Problemen liegen. Die Lösung des ökologischen Problems ist nicht nur eine Frage des Naturschutzes, sondern auch eine Frage unserer Probleme mit gesellschaftlicher Herrschaft. Mit anderen Worten: Das soziale und das ökologische Problem sind von gleicher Natur und müssen, vereinfacht ausgedrückt, gemeinsam gelöst werden.

Sie sagen, dass Abdullah Öcalan sich von den Gedanken Murray Bookchins inspirieren ließ. Welche Verbindung besteht zwischen Öcalan und Bookchin im Kontext der politischen und sozialen Philosophie?

Abdullah Öcalan schrieb 2004 einen Brief an Murray Bookchin. Es wurden einige Briefe zwischen ihnen ausgetauscht. Allerdings war Bookchin zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich alt und starb einige Jahre später. Daher konnte dieser Informationsaustausch nicht lange dauern. Es gab eine politische Verbindung, in der Öcalan nach einem Weg suchte, eine Revolution ohne die Gründung eines neuen Staates durchzuführen und sich von Bookchins politischen Ideen inspirieren ließ. Mit dem demokratischen Konföderalismus versuchte er, eine Art Konföderation von Kommunen zu gründen, die durch ökologische Prinzipien miteinander verbunden waren.

Könnten Sie Murray Bookchins Paradigma des libertären Munizipalismus für ein besseres Verständnis des demokratischen Konföderalismus näher erläutern?

Der libertäre Munizipalismus ist ein politischer Aspekt des Denkens von Murray Bookchin. Seiner Meinung nach sollte die Gesellschaft dezentralisiert werden, politisch dezentralisiert, und dann so viele politisch autonome Kommunen wie möglich haben. Diese Kommunen können ihre eigenen Gesetze und Grundsätze festlegen und sich zusammenschließen, um Ressourcen zu teilen. Es geht um ein spezifisches Netzwerk von Kommunen, die sich selbst strukturieren, ohne erneut eine zentralisierte staatliche Verwaltung zu gründen. Es geht also darum, eine Konföderation zu schaffen, ohne einen zentralisierten Staat neu zu errichten.

Wie hat sich der libertäre Munizipalismus von Bookchin auf das Paradigma des demokratischen Konföderalismus von Öcalan ausgewirkt? Und was sind die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen diesen beiden politischen Ansätzen?

Soweit ich weiß, hat Öcalan im Gefängnis Bookchin gelesen und sich von seiner Theorie inspirieren lassen. Anstatt einen kurdischen Nationalstaat zu gründen, entwickelte er inspiriert von Bookchins Gedanken eine Alternative, die ohne eine gewaltsame Machtübernahme auf einer gesellschaftlichen Revolution beruht.

Die Idee hierbei ist, direkte Demokratie so weit wie möglich in Räten zu organisieren, damit die Menschen eigene Entscheidungen treffen und demokratische Institutionen schaffen, ohne auf staatliche Unterstützung oder Ermächtigung zu hoffen. In diesem Sinne scheint es Einflüsse aus Bookchins Texten zu geben.

Es gibt jedoch auch Unterschiede. Da das in Rojava errichtete System vor dem Hintergrund von Krieg und politischen Schwierigkeiten existiert, scheint es, dass das gewünschte System noch nicht vollständig aufgebaut werden konnte. Bookchin hatte eine sehr radikale Vorstellung davon, dass es keine politisch gewählten Vertreter geben soll, sondern alle an den demokratischen Versammlungen innerhalb der Kommune teilnehmen.

Ich war nie in Rojava, aber soweit ich es verstanden habe und nach den mir vorliegenden Informationen gibt es noch wenig Unabhängigkeit für die Kommunen. Angesichts der Geschehnisse scheint es auch eine Spannung zwischen dem Wunsch nach Zentralisierung und dem Bedürfnis nach Demokratie zu geben, um allen die Möglichkeit zu geben, ihre Meinung einzubringen.

Außerdem hat Bookchin sich vor allem auf ökologische Fragen konzentriert, während Abdullah Öcalan sich mehr mit Feminismus oder der Freiheit der Frauen beschäftigt. Meiner Meinung nach es ist wirklich gut und richtig, dass Öcalan das Thema der Geschlechtergleichstellung mit Maßnahmen wie dem Ko-Vorsitz und Quoten unterstützt. Das ist ein weiterer Unterschied zwischen den Paradigmen von Bookchin und Abdullah Öcalan.

Vincent Gerbers Buch „Murray Bookchin und die soziale Ökologie“ erscheint im August im Unrast Verlag.

In Artikeln, die Sie zu Beginn der Rojava-Revolution geschrieben haben, betonten Sie, dass Bookchins Ideen in Rojava keimten und umgesetzt wurden. Halten Sie diesen Gedanken auch heute noch aufrecht?

Ja, Bookchins Ideen werden in Rojava weiterhin umgesetzt, und ich denke, dass es auf Grundlage der Idee des demokratischen Konföderalismus geschieht. Es ist klar, dass es aufgrund der Situation in Rojava nicht einfach ist. Auch wenn ich nicht genau weiß, was in Rojava passiert ist, weiß ich, dass es einen Gesellschaftsvertrag gibt und dass der Wille besteht, in dem System, das man aufbauen möchte, weiterzugehen, insbesondere durch die Abhaltung von Wahlen. Auch wenn das System nicht wie gewünscht umgesetzt wurde, denke ich, dass die Absicht immer darin bestand, einen demokratischen Konföderalismus umzusetzen. Wenn man einmal auf den Geschmack der Demokratie oder der direkten Demokratie gekommen ist, ist es nicht leicht, sie wieder aufzugeben. Auch wenn das umgesetzte System nicht ganz den Vorstellungen von Bookchin entspricht, ist es nicht weit davon entfernt. Bookchins Ideen werden weiter vor Ort präsent sein.

Wie wichtig ist Abdullah Öcalans Paradigma des demokratischen Konföderalismus aus heutiger Sicht?

Ich denke, dass es sehr angemessen ist und für große Stärke steht, weil es ein System vorschlägt und damit die bisherigen Systeme in Frage stellt. Es zeugt von Weisheit und Intelligenz, das alte System herauszufordern und zu sagen, dass es nicht funktioniert und etwas anderes gefunden werden muss. Ich denke, das ist sehr wichtig. Die Art und Weise, wie es gefördert und geteilt wird, ist sehr inklusiv und ermöglicht vielen verschiedenen Menschen, sich auszudrücken und miteinander verbunden zu sein. Außerdem bietet es allen Völkern, einschließlich des kurdischen Volkes, die Freiheit, ihre Kultur, Religion und viele andere Dinge auszudrücken. Laut Bookchin ist das der Zweck der Demokratie: allen Stimmen zu ermöglichen, sich unter einem Dach zu versammeln, unabhängig von Nationalität, Kultur, Geschichte und ähnlichen Faktoren. Alle sollen gleichberechtigt sein, und Öcalan hat dies sehr gut erkannt und verstanden. Ich halte es für sehr angemessen, dass Abdullah Öcalan diesen Weg eingeschlagen hat.

Abdullah Öcalans Paradigma des demokratischen Konföderalismus hat auch die radikale Linke in Europa beeinflusst, der es seit langem an neuen Ideen mangelt. Nach den Zapatisten hat es in diesem Teil der Welt seit Jahrzehnten keine großen Fortschritte mehr gegeben. Ich denke, das ist eine der großen Stärken dieser Bewegung. Und jetzt befindet sie sich in einer sehr heiklen Situation. Umgeben von Kräften, die sie stoppen wollen, will sie einfach nur überleben.