Das als „Kommunistenprozess“ bezeichnete Mammut-Verfahren gegen zehn Angeklagte wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der TKP/ML (Kommunistische Partei der Türkei/Marxistisch-Leninistisch) naht sich dem Ende (ANF berichtete). Seit 17. Juni 2016 wird vor dem Oberlandesgericht (OLG) in München verhandelt. Nach den Plädoyers der Bundesanwaltschaft und der Verteidiger*innen haben jetzt die Angeklagten das letzte Wort.
Zu Beginn der Abschlussreden hatte der Hauptangeklagte Müslüm Elma das Wort, der als Einziger immer noch in Haft ist. Der Vertreter der Generalbundesanwaltschaft, Oberstaatsanwalt Heise, fordert für ihn eine Haftstrafe von insgesamt sechs Jahren und neun Monaten.
Der 60-jährige Müslüm Elma wurde beim Militärputsch 1980 in Amed (türk. Diyarbakir) verhaftet und verbrachte 22 Jahre seines Lebens in türkischen Gefängnissen, wo er schwerster Folter ausgesetzt war und irreversible Gesundheitsschäden davon trug. Schon zum Auftakt des Prozesses vor vier Jahren sagte er: „Dieser Prozess wird nicht im Gerichtssaal, sondern auf der Straße entschieden.“
Sein ausführliches und leidenschaftliches Schlusswort leitete Müslüm Elma ein mit seinem Fazit über den Prozess, der nur deshalb zustande kam, weil der deutsche Staat nach Paragraph § 129b eine „Verfolgungsermächtigung“ erteilt hat. Diese setzt eine „die Würde des Menschen achtende staatliche Ordnung“ voraus, was die Anwälte vehement bestreiten.
Elma stellt fest: „Sie haben uns beschuldigt und beschuldigen uns auch weiterhin, ‚Terroristen' zu sein. …. Die Antwort darauf, wer wir sind, ist gleichzeitig eine Antwort darauf, warum wir hier sind. Der Vorwurf des ‚Terrorismus‘ ist eine der größten Lügen des 20. und 21. Jahrhunderts. Die wirklichen Terroristen sind diejenigen, die Rüstungsunternehmen leiten, und die ausbeuterische Bourgeoisie, die die großen Monopole und Banken kontrolliert. Sie nehmen die Zerstörung der Erde in Kauf und treiben diese in eine Katastrophe.“
Nach Müslüm Elmas Überzeugung könne in politischen Prozessen niemals ein gerechtes Urteil gefällt werden. Deshalb wirft er dem Gericht entgegen: „Ihr könnt nicht über uns richten!” Er beruft sich auf das Widerstandsrecht und bezeichnet die unabhängige Justiz als „Märchen“.
Im Folgenden geht Elma auf Einzelheiten der Prozessführung ein. Als Beispiel nennt er die Zulassung illegal beschaffter Dokumente oder die Übersetzung vertraulicher Anwaltspost durch Übersetzungsbüros in der Türkei. Im Weiteren werden die Verbrechen des auf den Trümmern des osmanischen Imperiums gegründeten türkischen Staates benannt und die Frage aufgeworfen: „Ist denn der Umstand, von Mördern Informationen zu ihren Morden oder von Dieben Berichte zu ihren Diebstählen zu verlangen … etwas anderes als die Bestrebung, diese reinzuwaschen? Die Anklagebehörde ist von Beginn an auf diese Art vorgegangen.”
In seinen leidenschaftlichen Ausführungen kritisiert der 60-Jährige die rassistische Ideologie, die in dem Schlachtruf der Kemalisten zum Ausdruck kommt: „Eine Sprache, eine Religion, ein Staat, eine Fahne“. Dazu führt er zahlreiche Beweise der Entrechtung und Unterdrückung an, die vor allem Kurd*innen betreffen: „Nicht nur, dass der türkische Staat das Recht des kurdischen Volkes auf Selbstbestimmung nicht respektiert, er akzeptiert nicht einmal, dass es solch ein Recht überhaupt gibt. Wie allen bekannt ist, ist die Muttersprache ein Recht, das einem qua Geburt zusteht. Doch wird die Forderung der Kurden nach Bildung in der Muttersprache abgelehnt.“
Im weiteren Verlauf geht er detailliert auf die Geschichte der türkischen Republik sowie die Rolle Europas und vor allem Deutschlands ein – eine Geschichte der Unterdrückung und des Widerstands dagegen. Von der Beihilfe zum Völkermord an den Armeniern im letzten Jahrhundert bis zu den aktuellen Waffenlieferungen und Finanzhilfen werden deutsche Regierungen „zum Claqueur des Staatsterrors eines Erdogan und seiner Bande“.
Dem patriarchalen Denken, das mit der islamischen Identität des türkischen Staates einher geht, widmet Elma weite Teile seiner Rede: „Die Gewalt an Frauen ist verwoben mit der Sklaverei, die der Frau seit der Entstehung der Klassengesellschaft auferlegt wurde.“
In der Analyse der aktuellen politische Situation werden schließlich eine Reihe von Beweisen für die Zusammenarbeit des AKP/MHP-Regimes mit dem sogenannten Islamischen Staat (IS) aufgezählt und die Propaganda vom „Recht auf Selbstverteidigung“ als Legitimierung der Besatzungspolitik entlarvt. Nach einer Abrechnung mit dem Konzept des Nationalismus und einer Analyse des Kapitalismus kommt Müslüm Elma zu dem Schluss: „Kapitalismus heißt Krise“.
Gegen Ende seiner Rede richtet der Angeklagte das Wort an die Richter: „Sie haben die Wahl: Werden Sie, indem Sie uns verurteilen, noch einmal ihre Zusammenarbeit mit dieser rückständigen Mentalität bekräftigen oder werden Sie von diesem Fehler Abstand nehmen? Bisher haben die Gerichte des deutschen Staates immer die Wahl zum Schutze der Interessen der regionalen Diktatoren getroffen.“
Müslüm Elmas letzte Worte enden mit der Prognose: „Die unrechtmäßigen Inhaftierungen, Ihre Urteile werden Sie viel mehr als uns verletzen. Sie werden in der fortschrittlichen Öffentlichkeit das Verständnis dafür schärfen, dass die europäische „Demokratie“ ein Märchen ist. Mit anderen Worten: Ihre Urteile werden zeigen, dass wir im Recht sind, und dafür sorgen, dass sich unsere Freunde vermehren werden.“ Als Revolutionär verspricht er, dies sei „nicht die Zeit für Klagen und Wehleidigkeit, sondern die Zeit, sich in Bewegung zu setzen.“
Die vollständige Rede kann auf dem Blog der Anwälte des TKP/ML-Verfahrens nachgelesen werden.
Mammutprozess in München
Die TKP/ML wurde 1972 in der Türkei gegründet und im Jahr 2007 als terroristische Organisation durch die Türkei eingestuft. Ab 2006 nahm das Bundeskriminalamt (BKA) Ermittlungen gegen die Organisation auf. Neun Jahre später wurden im April 2015 die ersten Personen für das derzeitige Verfahren verhaftet. Hierzu erließ die Generalbundesanwaltschaft (GBA) aus Karlsruhe vier internationale Haftbefehle, die unter anderem in Griechenland und Frankreich vollstreckt wurden.
Seit Juni 2015 wird vor dem OLG München ein Verfahren gegen zehn türkisch- und kurdischstämmige Angeklagte geführt. Ihnen wird vorgeworfen, das Auslandskomitee der TKP/ML gebildet zu haben. Die Anklage lautet Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung nach § 129 b StGB.