Syrische Verhältnisse in Libyen

Der Journalist und Analyst Ersin Çaksu schreibt in einem Kommentar zur Entwicklung der türkischen Interessen in Libyen, die Türkei versuche ihren Nutzen aus den Widersprüchen zwischen den USA und Russland zu ziehen.

Seit 2014 herrscht in Libyen Krieg. In den vergangenen Monaten sind die Kräfte, die hinter den Kriegsparteien stehen, deutlich hervorgetreten. Alle beteiligten Kräfte versuchen im Moment ihre Positionen neu abzustecken. Es werden Abkommen mit Feinden getroffen und Alliierte wenn nötig fallen gelassen. Eine solche Form der Win-Win-Diplomatie Feinden gegenüber und der Win-Loose-Diplomatie Alliierten gegenüber scheint den Charakter der Kriege des 21. Jahrhunderts auszumachen.

In den letzten Monaten des Jahres 2019 konnte General Chalifa Haftar mit der offenen Unterstützung Russlands, Ägyptens und der Vereinigten Arabischen Emirate sowie dem billigenden Schweigen der USA schnell gegen die Muslimbruderregierung vorrücken. Er konnte schließlich mit seiner Libyschen Nationalarmee (LNA) die von der Türkei, Katar und Italien unterstützte Einheitsregierung in Tripolis und Misrata einschließen. Die LNA konnte ihren Vormarsch bis Ende April fortsetzen und viele Gebiete der Koalition aus Muslimbrüdern und Salafisten der Einheitsregierung (Government of National Accord - GNA) abnehmen. Allerdings begann sich in den vergangenen zwei Monaten der Wind zu drehen und die LNA verließ viele Ort ohne ernsthaften Widerstand.

Ohne Zweifel kann man eine Bewertung der Situation mit Hilfe der Lage auf dem Schlachtfeld treffen, doch der Kern der Veränderung des Kriegsverlaufs liegt woanders. Es geht um Positionsveränderungen der Kräfte, die hinter der LNA mit ihrem Zentrum in Tobruk und der GNA mit Zentrum in Tripolis stehen. Daher sollten wir zuerst einen Blick auf die Situation und die sich verändernden Positionen der einzelnen Kräfte werfen und die Akteure kurz in ihrer Interessenlage betrachten.

Italien – durch Corona-Virus vor allem mit sich selbst beschäftigt

Italien als ehemalige Kolonialmacht in Libyen unterstützt das Muslimbruderregime der GNA seit dem Sturz Ghaddafis. Allerdings zog sich der EU-Staat in den letzten Monaten aufgrund der Corona-Pandemie außenpolitisch etwas zurück und überließ damit der Türkei das Terrain. Obwohl Italien und die Türkei in Libyen in einer Front stehen, bedeutet das nicht, dass es keine unterschiedlichen Sichtweisen gäbe. So sorgte die türkische Delegation auf der Libyenkonferenz in Palermo im November 2018 für einen Eklat, da sie sich in ihrem Einfluss auf die Gespräche eingeschränkt sah. Jedes Treffen, das die Türkei ausschließe, sei kontraproduktiv für die Lösung der libyschen Krise, erklärte damals der türkische Vizepräsident Fuat Oktay. Das informelle Treffen in Italien mit einer Reihe von Akteuren, die auch noch „als prominente Protagonisten des Mittelmeers“ präsentiert worden seien, sei ein „sehr irreführender und schädlicher Ansatz, dem wir vehement widersprechen“. Die Türkei verlasse die Konferenz mit „tiefer Enttäuschung“.

Türkei – 7.000 Soldaten und Agenten sowie 10.000 Söldner in Libyen

Das Verhalten auf der Konferenz von Palermo steht beispielhaft für die Haltung der Türkei gegenüber Libyen und dem Mittelmeerraum. Das Osmanische Reich versuchte Libyen bis 1912 zu halten, wurde jedoch in einem erbitterten Befreiungskampf geschlagen. Da sich Libyen nicht an der italienischen Kolonialmacht zu orientieren bereit war, marschierte 1912 Italien ein und besetzte das Land. Libyen war der letzte nordafrikanische Staat, der dem osmanischen Großmachtstreben entglitt. Daher betrachtet die Türkei insbesondere Libyen als Kernstück ihres „osmanischen Erbes“ und unterstützt die von Muslimbrüdern dominierte GNA als Hebel, ihren Einfluss in der Region auszudehnen und Nachbarstaaten wie Ägypten ins Visier zu nehmen.

Die Türkei ist mittlerweile direkte Kriegspartei in Libyen geworden. Der türkische Staat hat bisher 7.000 Soldaten und Geheimdienstmitarbeiter nach Libyen entsandt und eine große Zahl von bewaffneten und unbewaffneten Drohnen dort im Einsatz. Außerdem wurden 10.000 Söldner aus Syrien nach Libyen gebracht.

In den vergangenen Wochen haben die USA und die NATO-Erklärungen zur Unterstützung der GNA abgegeben, während Russland die Unterstützung von General Haftar eingeschränkt. Der türkische Staat konnte gemeinsam mit der GNA Tarhuna, die Al-Watiya-Basis und Beni Welid ohne großen Widerstand erobern.

Die Türkei hat mit dem Präsidenten der GNA, Sarradsch, ein Abkommen über die Kontrolle des Mittelmeers unterzeichnet. Daher beschränkt sich das Interesse der Türkei in der Region nicht nur auf Nordafrika und Libyen selbst, es geht um den türkischen Expansionismus, insbesondere auf den Erdgasfeldern im griechischen Mittelmeerraum. Weiterhin versucht die Türkei über Ableger der Muslimbruderschaft in Tunesien und Algerien, Wege zur logistischen Unterstützung der GNA aufzubauen.

Vieles deutet darauf hin, dass die Türkei ein Geheimabkommen mit Russland anstrebt und so eine Machtbalance wie in Syrien schaffen will.

Russland

Russland nimmt bis heute mit seiner Unterstützung von General Haftar eine ebenso offene Rolle im Krieg in Libyen ein wie die Türkei. Die russische Söldnergruppe „Wagner“ unterstützt die LNA in Libyen aktiv, unter anderem mit Scharfschützen.

Aber Russland setzt in den vergangenen Wochen immer mehr auf ein anderes Pferd. Während Haftars LNA vor den Toren von Tripolis stand, hat sich Russland dem ebenfalls der LNA nahestehenden Parlament unter dem Vorsitz von Aqila Salih Isa al-Ubaidi in Tobruk zugewandt. Verschiedene Kommentatoren meinen, dass Aqila Salih als Alternative zu Haftar aufgebaut wird. Haftar hatte sich im Aufwind des militärischen Erfolgs im April zum alleinigen Ansprechpartner in Libyen erklärt und damit viele Kreise, die gegen die GNA sind, verprellt.

Allerdings dauerte Haftars Erfolgssträhne nicht an und die GNA drängte den General mit Hilfe des türkischen Staates und von der Türkei in die Region gebrachten Söldnern Schritt für Schritt zurück. Auch die NATO machte ihre Unterstützung für die GNA-Regierung deutlich. NATO-Generalsekretär Stoltenberg erklärte: „Die NATO ist zur Unterstützung der GNA bereit.“ Diese offene Positionierung hängt ohne Zweifel auch mit dem Ausbleiben der russischen Unterstützung für die LNA zusammen. Ohne einen Rückzug Russlands hätte die NATO keine solch offene Stellung beziehen können.

Russland hat seine Wagner-Söldner von Tarhuna im Südosten von Tripolis abgezogen und ins Ölfördergebiet bei Kufra verlegt. Dahinter könnte unter anderem der Wunsch nach einem Abkommen mit der Türkei stehen, ähnlich der Übereinkunft in Syrien. Russland will wahrscheinlich auch nicht den Fehler wiederholen, den es nach der Abzugserklärung der USA aus Syrien gemacht hat, und diesmal sofort die Ölfördergebiete unter seine Kontrolle bringen. Die USA hatten nach ihrer Rückzugserklärung aus Syrien die Ölfelder bei Rimelan militärisch besetzt und damit der Kontrolle des syrischen Regimes und Russlands entzogen.

Russlands Rückzug hatte für die LNA einen hohen Preis und führte zum Verlust einiger Gebiete.

Frankreich als große NATO-Macht im Widerstreit mit NATO-Haltung

Frankreich unterstützt in Libyen Haftar und ist dort de facto mit Russland alliiert. Einer der größten NATO-Staaten vertritt also eine der NATO entgegengesetzte Position. Frankreich fordert einerseits eine aktivere Rolle der NATO in Libyen und erklärt, es habe Absprachen zwischen Russland und der Türkei, ähnlich wie in Syrien gegeben. Die jüngste Erklärung des französischen Außenministers Jean-Yves Le Drian, wonach Libyen „syrisiert“ werde und Russlands Einfluss zunehme, muss unter diesem Gesichtspunkt interpretiert werden. Nachdem die NATO und die Vereinigten Staaten Stellung zu Gunsten der GNA bezogen hatten, begann Frankreich den diplomatischen Verkehr mit Ägypten zu verstärken, um das Land dazu zu bewegen, eine aktivere Rolle gegenüber der GNA zu einzunehmen. Frankreich scheint außerdem das Waffenembargo gegen Libyen ernsthaft durchsetzen zu wollen, es wurden verdächtige Frachter kontrolliert. Dabei kam es in den letzten Tagen immer wieder zu Konfrontationen mit der Türkei. So erfasste ein türkisches Kriegsschiff eine französische Fregatte mit dem Zielradar und drohte mit militärischer Gewalt, sollte das unter ghanaischer-Flagge fahrende Frachtschiff kontrolliert werden. Frankreich protestierte scharf bei der NATO.

Ägypten – Kampf gegen türkischen Einfluss und Muslimbrüder

Ägypten unterstützt in Libyen direkt Haftar. Der Nachbarstaat betrachtet die Muslimbrüder und den Einfluss der Türkei als direkte Bedrohung. Die Schrecken, die der Muslimbruder Mursi in Ägypten mit seiner islamistischen Herrschaft verbreitet hatte, sind noch präsent und das Militärregime verfolgt die Islamisten mit aller Brutalität.

Mit Unterstützung Frankreichs empfing der ägyptische Präsident Abd al-Fatah al-Sisi gleichzeitig General Haftar und den Präsidenten des Parlaments in Tobruk, Aqila Salih Isa al-Ubaidi, in Kairo. Das erste Ziel war es, das Auseinanderdriften Russlands, Haftars und Salihs zu stoppen. Mit Hilfe der Diplomatie sollte der Block gegen die GNA wieder zusammengebracht werden. Nach den Gesprächen fand eine trilaterale Pressekonferenz statt, und die Erklärung von Kairo, in der politische Verhandlungen unter UN-Beobachtung, ein Waffenstillstand und der Abzug aller „ausländischen Kräfte“ gefordert werden, wurde bekannt gegeben. Die Türkei und Katar verweigerten der Erklärung ihre Unterstützung, da sie insbesondere in der letzten Forderung ein Ende ihrer Machtbasis sehen. Die Europäischen Staaten, die USA, die Arabische Union und Frankreich unterstützen den Appell.

Tunesien – von Muslimbrüdern beherrscht

Wie Ägypten ist auch Tunesien ein Nachbarstaat Libyens. Da im Moment die GNA Oberhand in Libyen hat, will sich das von der islamistischen Enahda beherrschte Tunesien ebenfalls in den Konflikt einmischen. Der Führer des tunesischen Ablegers der Muslimbruderschaft, Rached al-Ghannouchi, traf sich im Januar zu einem Vieraugengespräch mit dem türkischen Regimechef Erdoğan. Nach dem Treffen mit Erdoğan begann die Türkei, die GNA über Tunesien logistisch zu unterstützen.

Sechs Oppositionsparteien beschuldigten daraufhin Enahda und vor allem al-Ghannouchi sein „Muslimbruderprojekt von Tunesien über ganz Nordafrika verbreiten“ zu wollen. Allerdings konnte al-Ghannouchi bisher nicht viel erreichen, da er das Widerstandspotential der durch den sogenannten arabischen Frühling politisierten Bevölkerung fürchtet. Doch nach der offenen Unterstützung der GNA durch die NATO und die Vereinigten Staaten scheint eine direkte Intervention al-Ghannouchis in Libyen wahrscheinlicher.  

Das Spiel der Türkei mit den Machtbalancen

Als die Erklärung von Kairo bekanntgegeben wurde, befand sich GNA-Präsident al-Sarradsch in Ankara. Anschließend brach der Chef der Muslimbruderregierung nach Moskau auf. Auch wenn diese Reise von Sarradsch die These stützt, es gebe eine geheime Einigung zwischen Ankara und Moskau, reicht dies nicht aus, um ein koordiniertes Vorgehen der beiden Mächte in Libyen zu attestieren. Tatsächlich ist es wichtig, im Kopf zu behalten, dass Erdoğan nach seinem Telefonat mit dem US-Präsidenten Donald Trump zu Libyen erklärte: „Wir können ein neues Kapitel mit den Vereinigten Staaten aufschlagen“.

Unterdessen wurden der russische Außenminister Sergej Lawrow und Verteidigungsminister Sergej Schoigu am 14. Juni in der Türkei zur Erörterung der Libyen-Frage erwartet. Das Treffen wurde jedoch abgesagt. Es hieß, der Grund für die Absage des Treffens sei die Operation des türkischen Staats und der GNA gegen die libysche Küstenstadt Sirte gewesen. Eine Einnahme von Sirte würde einen Vormarsch auf die von Russland kontrollierte Ölregierung um Kufra bedeuten. Sie stellt daher einen direkten Angriff auf russische Interessen dar.

Es scheint, als ob der türkische Staat versuchen wird, in Libyen die Konflikte zwischen den Vereinigten Staaten und Russland auszuspielen, so wie er es in den letzten Jahren in Syrien getan hat. Auf diese Weise versucht das AKP/MHP-Regime seine Interessen durchzusetzen. Ein gutes Beispiel für diese Politik ist Idlib. Wenn die Türkei durch Russland unter Druck gesetzt wurde, suchte sie bei den USA und der NATO um Hilfe; wenn sie nicht die entsprechenden Zugeständnisse von den USA und der NATO erhielt, wandte sie sich an Russland und versuchte den Interessen der NATO und der USA in der Region zu schaden. Ein ähnliches Vorgehen zeichnet sich auch in Libyen ab.