Der kurdische Politiker Serhat Eren, Abgeordneter der Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM), gehört zu den Delegierten der am Wochenende im nordostsyrischen Qamişlo abgehaltenen Konferenz für eine Einheit und gemeinsame politische Haltung der Kurd:innen in Rojava. Im Gespräch mit ANF bewertete Eren die Konferenz, die er als wichtigen Schritt zur Verwirklichung eines Kurdistan-weiten Nationalkongresses sieht, und betont die Bedeutung des „Aufrufs für Frieden und eine demokratische Gesellschaft“ von Abdullah Öcalan.
Was sind Ihre ersten Eindrücke von der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien?
Wir sind seit zwei Tagen in Rojava und hatten Gelegenheit, einige Institutionen zu besuchen. Hier leben die Völker gemeinsam mit den Kurd:innen, bewahren ihre Sprache, Kultur, Geschichte und Identität und nehmen aktiv an allen Entscheidungsprozessen teil. Das Modell ist bedeutsam, weil es trotz fehlender juristischer Anerkennung seit 15 Jahren Bestand hat – und das nur, weil es auf das Volk gestützt ist. Es zeigt eindrucksvoll, wie richtig und lebensfähig das von Herrn Abdullah Öcalan entwickelte Paradigma ist. Dieses Modell ist eine Hoffnung für alle Völker des Nahen Ostens.
Was denken Sie über die Ziele und Ergebnisse der Konferenz in Rojava?
Die Geschichte der Kurd:innen wurde bislang immer von anderen geschrieben. Mit dieser Konferenz fangen die Kurd:innen an, ihre eigene Geschichte zu schreiben. Sie bestimmen ihre Zukunft selbst, diskutieren und entwickeln gemeinsam Perspektiven. Das ist ein historischer Wendepunkt. Die Konferenz kann den Weg für einen Nationalkongress bereiten, der die Kurd:innen in allen vier Teilen Kurdistans zusammenführt – ein bedeutender Schritt, um die bittere Vergangenheit der Spaltung zu überwinden.
Warum ist die Einheit der Kurd:innen so zentral?
Unsere einzige Kraftquelle ist unsere eigene Stärke und unsere Einheit. Wenn wir als Kurd:innen geeint sind, wird niemand unsere Errungenschaften und Rechte zerstören können. Diese Konferenz markiert den Beginn einer gemeinsamen Zukunft für die Kurd:innen in Syrien, im Nahen Osten und weltweit. Sie müssen klar definieren und ausdrücken, welches Modell sie für ihre Zukunft wollen – genau das hat diese Konferenz erreicht.
Welche konkreten Forderungen wurden auf der Konferenz formuliert?
Die Kurd:innen machten klar, dass sie ein zentralistisches Regierungssystem in Syrien ablehnen. Sie wollen ihre bestehenden Modelle bewahren, gleiche Teilhabe an öffentlichen Ressourcen, Anerkennung des Kurdischen als Amtssprache, Geschlechtergerechtigkeit und Schutz der Identitäten aller in Syrien lebenden Völker. Diese Forderungen sind legitim und werden auf internationaler Ebene breite Unterstützung finden – vorausgesetzt, die Einheit der Kurd:innen bleibt bestehen.
Inwiefern spiegelte die Konferenz den Geist von Abdullah Öcalans Appell für Frieden und eine demokratische Gesellschaft wider?
Der Aufruf des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan vom 27. Februar forderte, politische und gesellschaftliche Fragen auf einer rechtlichen und politischen Grundlage zu lösen. Rechte wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und kulturelle Vielfalt sollten gesetzlich verankert werden. Die Konferenz in Rojava war eine direkte Verkörperung dieser Vision. Sie ist das Resultat der Dynamik, die Herr Öcalans Aufruf ausgelöst hat.
Welche Auswirkungen könnte diese Konferenz auf die anderen Teile Kurdistans haben?
Ich denke, diese Konferenz wird eine Kettenreaktion in allen vier Teilen Kurdistans auslösen. Sie wird nicht nur Kurd:innen, sondern auch andere mit ihnen lebende Völker inspirieren. Ich hoffe, dass daraus ein großer Nationalkongress hervorgeht, in dem die Kurd:innen gemeinsam ihre Haltung bestimmen und ihren Platz in der Neugestaltung des Nahen Ostens behaupten.
Wie könnte sich das Rojava-Modell auf die Beziehungen zu Damaskus und die gesamte Region auswirken?
Die Region braucht neue Modelle. Die autoritären, zentralistischen Systeme, die seit einem Jahrhundert Chaos und Blutvergießen bringen, bieten keine Zukunft. Das Modell von Rojava – mit seiner Anerkennung der ethnischen, kulturellen und religiösen Vielfalt – kann auf ganz Syrien ausgeweitet werden. Andernfalls wird Syrien aus der Spirale von Chaos und Krieg nicht herauskommen.
Haben Sie eine Botschaft an die Bevölkerung oder politische Akteur:innen?
Unser Volk braucht keine zusätzlichen Botschaften – es versteht diese Prozesse besser als wir. Ich gratuliere den Menschen in Rojava zu ihrem Widerstand und ihren Errungenschaften. Die Kurd:innen haben nicht nur für sich selbst, sondern im Namen aller Völker gegen eine dunkle, menschenfeindliche Ordnung gekämpft. Ich danke besonders Herrn Öcalan und allen, die diese historische Konferenz ermöglicht haben. Unser Glaube an eine freie Zukunft ist stark.