In Deutschland sind laut aktuellem Stand zwölf Kurden im Zusammenhang mit dem PKK-Verbot nach §129b StGB in Untersuchungs- oder Strafhaft. Zunehmend werden kurdische Aktivist:innen im europäischen Ausland auf Veranlassung der bundesdeutschen Behörden festgenommen und anschließend an Deutschland ausgeliefert, um sie hier als vermeintliche PKK-Mitglieder anzuklagen. Der auf deutsches Ersuchen im Mai in den Niederlanden verhaftete Journalist Serdar Karakoç ist gegen strenge Auflagen vorläufig freigelassen worden. Der Kurde darf das Land nicht verlassen, sein Pass wurde eingezogen. Die nächste Anhörung in dem Auslieferungsverfahren ist am 24. Juli.
Serdar Karakoç ist ein Urgestein der Freien Kurdischen Presse. Er war über sechs Jahre in der Türkei im Gefängnis, überlebte einen staatlich angeordneten Bombenanschlag auf die Zeitung Özgür Ülke in Istanbul und lebt seit 24 Jahren im Exil in den Niederlanden. Rewşan Deniz hat mit ihm für die Tageszeitung Yeni Özgür Politika über sein journalistisches Leben und den Prozessverlauf gesprochen.
Könnten Sie sich kurz vorstellen?
Ich wurde 1960 in Elazığ geboren. Mit dem Militärputsch von 1980 begann die Fahndung nach mir. Aufgrund meines Engagements in der Freiheitsbewegung Kurdistans in den späten 1970er Jahren verbrachte ich sechseinhalb Jahre im Gefängnis in verschiedenen Städten in der Türkei und in Kurdistan.
Wie haben Sie angefangen, als Journalist zu arbeiten?
Nachdem ich 1991 aus dem Gefängnis entlassen wurde, arbeitete ich für kurze Zeit bei der Zeitschrift Özgür Halk in Izmir. Am 30. Mai 1992 erschien die erste Ausgabe der Tageszeitung Özgür Gündem und ich begann im Juli 1992 als Vertreter der Zeitung in Izmir zu arbeiten. In jenen Jahren war der Druck auf die freie Presse am größten. Viele unserer Kollegen, die als Journalisten in Kurdistan tätig waren, wurden von Kontras ermordet. Für jede Ausgabe der Zeitung wurden Klagen eingereicht, viele Ausgaben wurden beschlagnahmt. Viele unserer Kolleginnen und Kollegen wurden gefoltert, zu Haftstrafen verurteilt und verbrachten Jahre im Gefängnis.
Wurden Sie in dieser Zeit verhaftet?
Am 10. Dezember 1993, dem Welttag der Menschenrechte, wurden der Hauptsitz und mehrere Büros der Zeitung von der Polizei gestürmt. Viele Mitarbeitende, darunter Gurbetelli Ersöz, Ferda Çetin und Gültan Kışanak aus der Istanbuler Zentrale, wurden festgenommen. Während einige von ihnen später freigelassen wurden, wurden Gurbetelli Ersöz und Ali Rıza Halis, der Geschäftsführer, verhaftet und ins Bayrampaşa-Gefängnis gebracht. Ich war zum Zeitpunkt der Razzia der Vertreter der Zeitung in Izmir. Das Büro in Izmir wurde am 11. Dezember 1993 von der Polizei durchsucht, einen Tag nach der Razzia in der Istanbuler Zentrale. Als die Istanbuler Zentrale am Vortag durchsucht wurde, taten wir unser Bestes, um die Zeitung an diesem Tag zu veröffentlichen. In Izmir wurden sechs Mitarbeiter der Zeitung verhaftet und ins Buca-Gefängnis gebracht, außer mir auch Rıza Zıngal, Namık Alkan, Mehmet Emin Unay, Oğuzhan Öğruk und Ahmet Kaya. Nach der Festnahme wurden wir schwer gefoltert, um unsere Nachrichtenquellen zu entschlüsseln. Wir sollten Aussagen über einige bekannte Persönlichkeiten und Institutionen machen. Als wir uns weigerten, wurde die Dosis an Schlägen und Folter erhöht. Zwei Personen aus Istanbul und sechs aus dem Büro in Izmir wurden verhaftet. Als wir Ende April aus dem Buca-Gefängnis entlassen wurden, nahmen wir unsere Arbeit wieder auf. Gurbetelli und Ali Rıza Halis wurden lange nach uns entlassen.
Gab es damals Solidarität mit Ihnen?
Nach der Razzia in Izmir zeigten sich Organisationen der Zivilgesellschaft solidarisch, und viele Anwälte der Anwaltskammer von Izmir verteidigten uns, ohne ein Honorar zu verlangen. Einer unserer Anwälte, Kemal Kırlangıç, verteidigte uns umfassend in Bezug auf die Presseethik und die Meinungsfreiheit und sagte: „Ich verteidige sie heute hier, weil sie ihre Pflicht getan haben, ich würde sie nicht verteidigen, wenn sie es nicht getan hätten." Ein anderer Anwalt forderte unseren Freispruch und sagte: „Die hier inhaftierten Journalisten und die Zeitung Özgür Gündem berichten über Ereignisse in Kurdistan, über die niemand zu berichten wagt. Durch ihre Texte erfahren wir von der Brutalität des Krieges in der Region und den Menschenrechtsverletzungen. Sie sind mutige Menschen.“
1994 waren Sie dabei, als die Zeitung Özgür Ülke in Istanbul bombardiert wurde. Können Sie uns etwas über diesen Tag erzählen?
Ich habe kurz nach meiner Entlassung begonnen, in Istanbul zu arbeiten. Als am 3. Dezember 1994 auf Anweisung der damaligen türkischen Ministerpräsidentin Tansu Çiller ein Bombenanschlag auf die Özgür Ülke verübt wurde, war ich für den Nachtdienst zuständig. Nachdem die Nachtarbeiter mit dem Shuttle-Service auf ihre Wohnungen verteilt worden waren, aßen wir zu Abend, darunter Yıldız, der gekommen war, um das Erdgeschoss der Zeitung zu putzen, Kemal von der Unternehmenssicherheit, Ersin Yıldız vom Transportwesen und ein paar andere Kollegen. Kurz nach ein Uhr nachts gab es eine große Explosion. Ich und ein Freund namens Haki waren zu diesem Zeitpunkt im zweiten Stock. Die Explosion ereignete sich in der Autowerkstatt unter dem ersten Stock. Das Gebäude war ein Flammenball. Der Rauch war so dicht, dass man nichts mehr sehen konnte. Viele unserer Kollegen schliefen im dritten Stock. Wir riefen nach ihnen, aber unsere Stimmen konnten sie nicht erreichen. Das Feuer kam schnell auf uns zu. Haki und ich sprangen aus dem Fenster des zweiten Stocks auf der Rückseite des Gebäudes herunter.
Wir gingen sofort zur Polizeistation, die 30 oder 40 Meter vom Zeitungsgebäude entfernt war. Auf der Polizeistation waren zwei oder drei Polizisten. Wir erzählten ihnen, dass es in dem Zeitungsgebäude eine Explosion gegeben hatte und das Gebäude brannte. Es waren viele Kollegen drinnen, die auf Hilfe warteten, und wir baten dringend darum, dass die Feuerwehr kommt. Aber die Polizei war sehr gleichgültig. Sie sagten nur „Okay, okay“. Als wir die Polizeiwache verließen, hatten die Flammen bereits das gesamte Gebäude erfasst. Die Feuerwehr war schon da, aber sie griff nur sehr langsam ein. Viele Menschen aus der Nachbarschaft und einige Journalisten beobachteten das Feuer. Ich diskutierte mit der Polizei und verlangte, dass die Feuerwehr schneller eingreift, woraufhin ein Polizist wütend wurde und mir drohte: „Gehen Sie weg, oder ich werfe Sie ins Feuer, und niemand wird es erfahren."
Ersin Yıldız kam bei dem Bombenanschlag ums Leben und 23 unserer Kolleginnen und Kollegen, darunter Nurdoğan Aydoğan, Yıldız Gültekin und Alişan Ünlü, wurden verwundet. Mein Freund Haki und ich wurden leicht verletzt, als wir uns aus dem zweiten Stock stürzten. Später erfuhren wir, dass es zeitgleich Bombenanschläge auf unsere Büros in Istanbul-Çağaloğlu und Ankara gegeben hatte.
Trotz des Drucks setzte die Freie Presse ihren Weg fort und zahlte dafür einen hohen Tribut. Die Zeitung erschien an diesem Tag auf vier Seiten mit der Schlagzeile „Dieses Feuer verbrennt auch dich". Die Zeitungsmitarbeiter leisteten aufopferungsvollen Widerstand, Intellektuelle schützten die Zeitung. Das öffentliche Interesse war sehr groß. Ein armer Mensch zog seinen Ehering ab und spendete ihn der Zeitung. Viele Menschen kamen und spendeten etwas. Dieses Interesse und die emotionale Atmosphäre spornten uns an, noch härter zu arbeiten. Orhan Pamuk, Ahmet Altan, Murathan Mungan und viele andere Schriftsteller und Intellektuelle verteilten aus Solidarität Zeitungen. Die kleinen Kinder von Apê Musa trugen die Zeitung auf den Schultern unter die Leute, und die Reporterinnen und Reporter arbeiteten, ohne darauf zu achten, dass sie jeden Moment eine Kugel im Nacken treffen konnte. Und die nachfolgenden Generationen führen diese Arbeit auch heute noch mit demselben Geist aus.
Dann gingen Sie ins Exil. Können Sie uns etwas über Ihre Jahre im Exil erzählen?
Die Bedingungen, in der Türkei als Journalist zu arbeiten, waren nicht mehr gegeben. Entweder würde ich wieder verhaftet und für Jahre eingesperrt werden, oder mein Leben würde mit einem unaufgeklärten Mord und einem kalten Waffenlauf an meinem Hals enden. Also musste ich die Türkei verlassen und meine Jahre des Exils begannen, als ich im August 2000 in den Niederlanden ankam. Seit 24 Jahren lebe ich in den Niederlanden. Nachdem ich innerhalb eines Jahres eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung erhalten hatte, begann ich wieder für verschiedene Medien zu arbeiten. Zwischen 2002 und 2007 war ich für eine Firma tätig, die in den Niederlanden für Medya TV und Roj TV in Belgien produzierte. Von 2010 bis 2020 arbeitete ich als Redakteur bei ANF und seit 2022 bin ich beim Meyman-Verlag. Als jemand, der aus der Tradition der Freien Presse kommt, der inhaftiert, gefoltert und angegriffen wurde, habe ich während meiner Jahre im Exil mit großer Freude für die Freie Presse gearbeitet und tue es immer noch.
Sie wurden auf Antrag Deutschlands in den Niederlanden verhaftet. Können Sie uns etwas über diesen Prozess erzählen?
Am 23. Mai 2024 wurde ich auf Ersuchen Deutschlands in den Niederlanden verhaftet. Deutschland hatte verlangt, dass das Mobiltelefon beschlagnahmt wird, das ich bei meiner Verhaftung bei mir hatte. Als die Polizei mich von zu Hause abholte, beschlagnahmte sie mein Mobiltelefon, meine Arbeitsrechner, Festplatten und einige USB-Sticks. Bei der Staatsanwaltschaft forderte ich die Rückgabe der beschlagnahmten Materialien, woraufhin die Niederlande Deutschland nahelegte, diese Materialien ebenfalls einzufordern. In dem diesbezügliche Gerichtsverfahren wird am 24. Juli verhandelt.
Am 14. Juni wurde ich gegen Kaution freigelassen, mein Reisepass wurde nicht ausgehändigt. Ich habe eine Ausreisesperre und muss mich einmal pro Woche bei der Polizei melden. Die Anhörung am 24. Juli wird darüber entscheiden, ob ich an Deutschland ausgeliefert werde oder nicht. Deutschland stützt sich bei der Verhaftung auf Artikel 129b StGB. Allerdings bin ich mit den Einzelheiten der Anklageschrift noch nicht ausreichend vertraut. Mein Anwalt in Deutschland ist dabei, sie zu prüfen.
Sie sind ein in der kurdischen Gesellschaft bekannter Journalist. Soviel wir wissen, sind Sie immer wieder nach Deutschland gereist. Trotzdem hat Deutschland diesen Weg gewählt, um Sie vor Gericht zu stellen. Wie bewerten Sie die deutsche Politik gegenüber den Kurdinnen und Kurden?
Die Haltung Deutschlands gegenüber der kurdischen Freiheitsbewegung hat sich seit Jahren nicht geändert. Während der türkische Staat eine Politik der Vernichtung, der Leugnung und des Völkermordes gegen die kurdische Freiheitsbewegung betreibt, will Deutschland sie kriminalisieren, isolieren und dauerhaft auf die Terrorliste setzen.
Wenn Kurdistan heute in vier Teile geteilt und kolonisiert ist, haben die Weltmächte eine sehr große Rolle dabei. Heute unterstützen die Weltmächte den türkischen Staat auf jede erdenkliche Art und Weise gegen die kurdische Bewegung, die einen Befreiungskampf führt. Vor allem die Unterstützung Deutschlands für den türkischen Staat seit der Zeit des İttihat-ı Teraki [Jungtürkisches Komitee für Union und Fortschritt] ist bekannt. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind sehr gut. Obwohl der türkische Staat von Zeit zu Zeit mit den USA, der EU, der NATO und Russland in Konflikt gerät, stellt er sich nie gegen das, was Deutschland sagt. Was auch immer Deutschland wollte, die Türkei hat es erfüllt. Ebenso hat Deutschland immer die Interessen der Türkei geschützt und verteidigt. Deutschland kriminalisiert die kurdische Freiheitsbewegung und will ihren auf demokratischer und legaler Grundlage geführten Kampf verhindern. Mit dem Verbot der PKK und ihrer Aufnahme in die Liste „terroristischer Organisationen" hat Deutschland uneingeschränkte Unterstützung für die Türkei als Nationalstaat demonstriert und wollte auch andere Weltmächte und Staaten dazu zu bewegen. Auf diese Weise hat es dem türkischen Staat auf die Schulter geklopft und ihn enger an sich gebunden, was weitgehend gelungen ist. Mit der Auslieferung kurdischer Politiker, die Deutschland in verschiedenen Ländern verhaften lässt, sollen andere Staaten gezwungen werden, diese Politik zu unterstützen und eine gemeinsame Haltung gegen die kurdische Bewegung einzunehmen.
Der deutsche Staat greift das kurdische Volk gnadenlos an, indem er die faschistischen türkischen Banden schützt, die legale Demonstrationen in Deutschland angreifen. Er verschließt die Augen vor der illegalen Organisation von mehr als 6.000 Personen, die in Deutschland für den MIT arbeiten. Er behindert die Suche nach einer demokratischen und friedlichen Lösung der kurdischen Frage. Mit Hilfe türkischer Faschisten terrorisiert er die kurdische Bevölkerung und verhindert, dass die PKK von der Terrorliste gestrichen wird. Er terrorisiert das kurdische Volk, indem er legal gegründete Kulturvereine überfällt. Er stürmt willkürlich und wahllos Wohnungen, durchwühlt sie und bricht Türen, Fenster und Schränke auf. Er wendet psychologische Gewalt an und jagt Kindern Angst ein. Er verbietet Bilder von Abdullah Öcalan, die selbst in der Türkei nicht verboten sind. Oder er sagt: „Dieses Bild von Öcalan darfst du mitnehmen, aber dieses nicht." Er verhängt irrsinnige Verbote für verschiedene Bilder ein und derselben Person.
Wie der türkische Staat duldet auch der deutsche Staat keine Errungenschaften des kurdischen Volkes. Er verbietet Aktivitäten der YPG und PYD, die gegen die Gräueltaten des IS Geschichte geschrieben und die Sympathie der Weltbevölkerung gewonnen haben. Er sagt: „Der Feind meines Freundes ist auch mein Feind.“ Dabei ist er den Kurden gegenüber feindlicher eingestellt als sein Freund. Er ist mehr Royalist als der König. Das kurdische Volk und die kurdische Freiheitsbewegung hegen jedoch keine Feindschaft und keinen Hass gegen Deutschland. Sie wollen ihren Kampf auf legaler und demokratischer Grundlage führen und halten sich von Gewalt fern. Sie wollen nur, dass der deutsche Staat seine bedingungslose Unterstützung und Waffenhilfe für die Türkei einstellt.
Die Repression gegen Einrichtungen der freien Presse hat sich aus der Türkei auf Europa ausgedehnt und nimmt zu. Unser Volk und unsere Freundinnen und Freunde wissen sehr gut, welche Kräfte diese Operationen durchführen und welche Ziele sie verfolgen. Gegen diese Angriffe werden wir das fortsetzen, was wir am besten können, nämlich unseren Widerstand in allen Bereichen, ob im Gefängnis oder außerhalb. Ich rufe alle Menschen auf, den Kampf gegen die Angriffe auf die freie Presse zu verstärken, und ich möchte allen danken, die uns unterstützen.
Das Interview wurde für die deutsche Fassung leicht gekürzt