Der Journalist Diyar Ciwan veröffentlichte eine Reportage, in der er sich unter anderem mit den Treffen zwischen der türkischen Regierung und Vertreter*innen der Selbstverwaltung von Rojava auseinandersetzt. In der Reportage trifft er sich mit verschiedenen Vertreter*innen, die an den Treffen teilgenommen haben und führt chronologisch die Entwicklung des Prozesses vor.
Einige der Treffen zwischen Vertretern des türkischen Staates und den Kräften von Nordsyrien und Rojava in Damaskus, Kairo, Ankara und Istanbul wurden bereits zuvor in der Presse skizziert. In seiner Reportage bringt Ciwan jedoch alle Elemente zusammen und analysiert sie vor dem Hintergrund der aktuellen Lage. So wird Ankaras „Rojava- und Syrienplan“ klarer greifbar.
Der Dokumentation zu Folge beginnen die Treffen zwischen Vertreter*innen der Türkei und von Rojava im Jahr 2012 und intensivieren sich 2013. Nachdem im Februar 2015 die Grabstätte des Sulaiman Schah durch die türkische Armee unter dem Schutz der YPG/YPJ verlegt worden war, brechen die Beziehungen ab.
Zusammengefasst wird die These untermauert, dass die Regierung in Ankara von Anfang an darauf abzielte, den kurdischen Freiheitskampf in Rojava und Syrien niederzuschlagen. Sowohl Angriffe als auch Gespräche sind dafür als Mittel eingesetzt worden. Konkret heißt dies, der Angriff auf Kobanê verfolgte die gleichen Interessen wie die Gespräche, die Ankara an verschiedenen Orten geführt hat.
In der Dokumentation wird zunächst beschrieben, wie der türkische Staat Jabhat al-Nusra Unterstützung leistete und den Angriff auf Serêkaniyê organisierte. Jabhat al-Nusra wurde in der nordkurdischen Stadt Ceylanpınar untergebracht und über die türkische Grenze zum Angriff auf Serêkaniyê gebracht. Nach wochenlangen Kämpfen wurde al-Nusra zurückgeschlagen.
In dieser Zeit war die politische Führung von Rojava Teil der damals wirkungsvollsten oppositionellen Kraft Heyet al-Tensiq – die Bewegung für einen demokratischen Wandel. Der damalige Ko-Vorsitzende der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) war ebenfalls stellvertretender Vorsitzender von Heyet al-Tensiq. Ankara lud Heyet el-Tensiq ein und forderte den Ausschluss der Kurd*innen. Als Gegenleistung wurden Geld und politische Unterstützung geboten. Damit hatte der türkische Staat allerdings keinen Erfolg.
Direkt danach fordert der türkische Botschafter Ömer Önhon auf einem Syrien-Treffen in Kairo ein Gespräch mit Salih Muslim. Es beginnt eine Phase des Dialogs. Schließlich wird eine Delegation aus Rojava nach Ankara eingeladen. Teil dieser Delegation sind Vertreter*innen verschiedener kurdischer Organisationen und Parteien. Die Delegation vertrat den damals aktiven Hohen Kurdischen Rat. Sie traf sich in Ankara sowohl mit Vertretern des türkischen Außenministeriums als auch bei verschiedenen Gelegenheiten mit der US-Botschaft. Nach Berichten der Teilnehmer*innen forderte die türkische Regierung, dass sich die kurdische Seite der „Opposition“ unter dem Dach der FSA anschließen und gegen Damaskus in den Krieg ziehen solle.
Die Vertreter*innen von Rojava berichten von ihrem Eindruck, dass die Regierung in Ankara einerseits mit ihnen Gespräche geführt und andererseits den Angriff auf Kobanê vorbereitet habe. Salih Muslim berichtet, er habe sich, als der Angriff auf Kobanê begann, immer wieder mit Feridun Sinirlioğlu getroffen und dieser habe wiederholt versprochen, dass man helfen werde. Auch auf Treffen mit der internationalen Koalition hatte Muslim die Antwort erhalten, die Türkei werde in Sachen Kobanê helfen. Muslim berichtet über eines dieser Gespräche: „Sinirloğlu frage uns, was wir von ihnen wollten. Ob wir die FSA wollten oder nicht. Wir sagten, dass wir die FSA nicht brauchen, dass wir in Cizîrê und Efrîn Kräfte haben und dass, wenn ein Korridor geöffnet würde und unsere Kräfte mit ihren Waffen kommen könnten, dies ausreichen würde. Sinirlioğlu sagte dazu: ‚Waffen sind nicht nötig, wenn Bedarf besteht, dann geben wir euch die Waffen.‘ Natürlich hat er dieses Versprechen nicht erfüllt, keinen Weg geöffnet, keinen Korridor geschaffen.“ Muslim sagt, es sei der Plan der Türkei gewesen, unter dem Vorwand der „Hilfeleistung“ FSA-Kräfte nach Kobanê zu schicken. Der türkische Staat versuchte, durch Hilfsversprechen Zeit zu gewinnen mit dem Ziel, dass Kobanê fällt. Und nach einer Weile haben die USA und die Koalition, weil Ankara offensichtlich auf Zeit spielte und keine Hilfe leisten würde, begonnen, die Kämpfer*innen in Kobanê direkt zu unterstützen.
Eine der wichtigsten Entwicklungen im Kobanê-Prozess beschreibt die damalige PYD-Ko-Vorsitzende Asya Abdullah. Asya Abdullah war vom ersten bis zum letzten Tag des Krieges in Kobanê. Sie erzählt: „Im November 2014 gab es schwere Gefechte im Zentrum und der Umgebung der Stadt. An der Grenze zur Türkei, beim Grenzübergang Mürşitpınar, stehen türkische Getreidesilos. Entlang der Grenze hatten unsere Alten, Verletzten und Kranken Zuflucht gesucht. Das türkische Militär zog sich von dort zurück und öffnete das Gebiet dem IS. Der IS kam über den Grenzübergang von der türkischen Seite und griff an. Unsere Freunde*innen erwiderten das Feuer. Davon gibt es Aufnahmen. Daraufhin erreichten wir über den HDP-Abgeordneten Ibrahim Ayhan den türkischen Gouverneur von Urfa und erklärten ihm, dass der IS vom Territorium seiner Provinz aus angreife. Der Gouverneur erklärte uns zunächst, ‚Wir haben es untersucht, es ist richtig, sie sollen das notwendige tun‘. Dann wollte der Gouverneur, dass wir ‚stoppen‘. Denn er wollte dort eine Operation durchführen. Nach dem Gespräch um 1.00 Uhr untersuchte eine gemeinsame Delegation aus türkischen Vertretern und uns das Gebiet. Natürlich war da der IS schon lange weg.“
Die Aufnahmen des Angriffs:
In der Dokumentation werden auch die Details der Operation zur Grabstätte des Sulaiman Schah dargestellt. Salih Muslim und Aburrahman Hemo berichten über die Treffen dazu in Istanbul. Muslim berichtet, dass er während der Operation in direkter Kommunikation mit dem Krisenstab in Ankara stand und er Istanbul erst, nachdem das Mausoleum nach Eşme gebracht worden war, verlassen habe.
Aber was wollte die Führung in Ankara bei diesen ganzen Treffen von der kurdischen Seite? Der Verantwortliche des radikaldemokratischen Bündnisses TEV-DEM Aldar Xelil beantwortet diese Frage folgendermaßen: „Bei jedem Treffen wollten sie, dass wir gegen Damaskus kämpfen. Es gab niemals Aussagen in Richtung einer Anerkennung unserer politischen Linie oder unseres Willens. Sie wollten nur, dass wir uns mit den von ihnen kontrollierten FSA-Gruppen zusammenschließen und gegen Damaskus kämpfen. Wenn wir das täten, dann, so versicherten sie uns, würden sie uns Unterstützung jeder Art angedeihen lassen. Aber das haben wir nicht akzeptiert. Hätten wir das, dann wäre Assad heute gestürzt und Syrien an die terroristischen Gruppen gegangen, die heute Efrîn und andere Orte besetzt halten. Die Situation für die Kurd*innen wäre noch schlechter. Dies hätte de facto das Ende der Kurd*innen bedeutet. Deshalb haben wir diese Erpressungen von Seiten der Türke niemals akzeptiert und unser Modell auf der Grundlage des dritten Wegs aufgebaut.“
Die Dokumentation in kurdischer Sprache: