Rıza Altun: Die Krise im Irak wird andauern

Rıza Altun (KCK) analysiert die aktuelle Situation im Irak und beleuchtet die Rolle der Türkei im Nachbarland.

Im kurdischen Fernsehsender Medya TV hat sich Rıza Altun als Exekutivratsmitglied der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) zur verfahrenen Situation in Syrien und insbesondere zu den drohenden Angriffen gegen die Demokratische Föderation Nordsyrien geäußert. Im dritten Teil geht Altun ausführlich auf die anhaltende Krise im Irak, den iranisch-US-amerikanischen Kampf in der Region und die destruktive Rolle der Türkei ein.

Irak im Zentrum globaler Kämpfe

Die Wurzeln der Probleme im Irak liegen sehr tief und sind mit der gesamten Region des Mittleren Osten verbunden. Wir sollten nicht davon ausgehen, dass der Irak demnächst wieder an Stabilität gewinnt und die Probleme des Landes gelöst werden. Der Irak spielt eine zentrale Rolle für die andauernden globalen und regionalen Kämpfe der verschiedenen Akteure, die sich in nächster Zeit noch verschärfen werden. Daher resultieren auch die unklare Situation und die Schwierigkeiten bei der Bildung einer neuen Regierung nach den Wahlen vom 12. Mai. Selbst die Bildung der neuen Regierung wird die Probleme des Landes nicht lösen.

Solange die politischen Spiele der verschiedenen Mächte im Irak andauern, wird es dem Land sehr schwer fallen, seine internen ethnischen, religiösen und sozialen Probleme zu bewältigen. Der Irak ist einer massiven Intervention von außen ausgesetzt. Die regionalen und internationalen Mächte beschränken sich bei ihrer Intervention nicht darauf, nur mit den politischen Parteien oder der Regierung des Iraks Beziehungen aufzunehmen. Sie unterhalten auch Kontakte zu allen sozialen und religiösen Organisationen des Landes. Diese Mächte haben also ihre Finger in allen Angelegenheiten des Irak.

Keine Lösung in Sicht

Im Irak haben in diesem Jahr Wahlen stattgefunden. Doch es ist sehr schwer nachzuvollziehen, wie genau die Wahlen abliefen, welche Politik verfolgt wurde, welche Stimmenanteile wer erreicht hat oder wie hoch die Wahlbeteiligung genau lag. Nun ja, es gab also Wahlen und trotz aller Mängel wurden die Wahlergebnisse offiziell verkündet. Doch trotz der bestehenden politischen Mechanismen im Land können die vorgesehenen Maßnahmen nicht durchgesetzt werden, da verschiedenste Mächte interveniert haben. Das ist die derzeitige Situation, die den Irak in eine sehr problematische Lage bringt. Er leidet unter zahlreichen internen Problemen, die ethnischer oder religiöser Natur sind. Im Irak gibt es eine Verfassung, die eine föderale Struktur für das Land vorsieht. Es wirkt aber so, als habe der Irak diese Verfassung ungewollt erhalten. Diejenigen, die die in der Verfassung festgelegten Rechte gewährleisten müssen, scheinen dies nur sehr unwillig zu tun. Vieles befindet sich daher im Schwebezustand und die Probleme im Land dauern daher an.

Als Reaktion auf die sehr zentralistische Haltung der irakischen Regierung haben die verschiedenen Gesellschaftsgruppen eigene Forderungen formuliert, woraus sich sehr schwere Probleme für das Land ergeben haben. Die religiösen und konfessionellen Fragen werden in der Verfassung des Landes aufgegriffen. Zugleich bestehen parallel dazu gesellschaftliche Strukturen. Diese Situation bringt große Probleme hervor, deren Lösung weiterhin aussteht. Durch die Intervention der regionalen und internationalen Mächte, die von oben herab erfolgte, wurden all diese Widersprüche nur noch mehr vertieft. Aufgrund dieser Vertiefung der Widersprüche entwickeln sich keine Lösungen für die drängenden Probleme.

Kampfschauplatz zwischen USA und Iran

Der Irak befindet sich zum einen unter starkem Einfluss durch den Iran, zum anderen aber seit dem Sturz Saddam Husseins auch unter US-Einfluss. Die USA verfolgen mit ihrer Mittelost-Strategie und ihren Reaktionen auf alltägliche politische Fragen das Ziel, die Region gegen den Iran in Stellung zu bringen. Der Iran wiederum versucht seine ideologische und politische Hegemonie zu verteidigen und sie zugleich auf den gesamten Mittleren Osten auszubreiten. Der Irak stellt daher einen Kampfschauplatz für diese beiden verfeindeten Mächte dar. Das Land befindet sich in einer sehr interessanten Lage aufgrund seiner geopolitischen Bedeutung, seiner geographischen Position in direkter Nachbarschaft zum Iran und der zahlreichen ethnischen und religiösen Gruppen. Aus all diesen Gründen ist es derzeit praktisch unmöglich, eine Lösung für die Probleme des Irak zu finden.

Die Lösung der Situation im Irak ist aufs engste mit der Lösung der Krise im Mittleren Osten verbunden. Solange sich kein Gleichgewicht zwischen den USA und dem Iran entwickelt, wird es auch keine stabile irakische Regierung geben. Ein Gleichgewicht zwischen den USA und dem Iran wird eher taktischer und nicht strategischer Natur sein. Der Krieg zwischen den beiden Mächten um die Hegemonie in der Region hat hingegen eine ganz klar strategische Dimension.

Schwere Krise der irakischen Gesellschaft

Der Irak ist zwar ein sehr reiches Land, das geopolitisch strategisch gelegen ist, aber aufgrund seiner zahlreichen Probleme befindet sich die Gesellschaft in einer äußerst schwierigen Situation: Die Reichtümer des Landes werden verschwendet, die Armut grassiert und alle Gesellschaftsgruppen sind miteinander verfeindet. Das sind schwerwiegende Probleme, die alle aufs engste miteinander verwoben sind, insbesondere die sozialen Probleme.

Zerstörtes Land, verelendete Bevölkerung

Im kurdischen Norden des Landes lebt die Bevölkerung zum Beispiel unter widrigen Bedingungen. Immer wieder kommt es zu Protesten gegen das Regime. Die Wirtschaftskrise dauert an und auch politisch befindet sich das Land in einer Sackgasse. All das hat nicht nur mit dem Irak zu tun, denn die Krise der Regierung in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak ist deutlich schwerwiegender, als die der irakischen Zentralregierung. Auch die wirtschaftliche Krise im kurdischen Nordirak ist deutlich schwerer als im Gesamtirak. Die Gesellschaft ist mittlerweile zu großen Teilen verarmt. Gehälter werden nicht gezahlt, die Strom- und Wasserversorgung ist immer wieder unterbrochen und die politischen Vertreter verharren in einer Position, in der sie dauerhaft von auswärtigen Mächten instrumentalisiert werden. Sie schaffen es nicht, eine unabhängige Position zu entwickeln. Aus all diesen Gründen steigt der Unmut in der Bevölkerung.

In einer ähnlichen Situation befinden sich auch die anderen Teilen des Irak. Mossul ist fast vollständig zerstört. Von Diyala bis Tigrit, von Samala bis Bagdad: Überall sehen wir eine vom Krieg zerstörte Landschaft. Wir sehen also ein Land vor uns, das trotz all seiner Reichtümer in Trümmern liegt und dessen Bevölkerung verelendet. Auch Basra ist ein wichtiges Zentrum, das auf eine jahrtausendealte Geschichte zurück blickt. Diese Stadt, mit ihrer unbestreitbaren Bedeutung für die Menschheitsgeschichte, leidet heute unter Hunger und Verarmung.

Keine Hoffnung der irakischen Bevölkerung auf ihre politischen Verantwortungsträger

Die Bevölkerung des Irak sucht nach Auswegen aus ihrer miserablen Lage. Warum war die Wahlbeteiligung im Mai dieses Jahres derart gering? Warum hat sich nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten an der Wahl beteiligt? Die Menschen haben keinerlei Hoffnung mehr in das politische System im Irak. Niemand erwartet eine Lösung oder schert sich darum, wer gerade an der Macht ist. Die Menschen orientieren sich eher an ethnischen und religiösen Identitäten. Doch eine Lösung der gesellschaftlichen Probleme lässt sich auf diesem Weg nicht herbeiführen. Die Mächte, die die derzeitige Situation aufrechterhalten wollen, vertiefen und bestärken daher die Organisation entlang ethnischer und religiöser Trennungslinien und erschaffen damit erst die gesellschaftliche Hoffnungslosigkeit. Wenn es gelingt, die ethnischen und religiösen Widersprüche im Land aufzuheben, wird auch die gesellschaftliche Krise ein Ende finden. Wenn die Forderungen nach Gleichheit und Freiheit stärker werden, wird auch das eigentliche Problem zum Vorschein kommen. Doch derzeit werden die eigentlichen Probleme von ethnischen, religiösen und konfessionellen Fragen verdeckt. Daher können wir davon ausgehen, dass sich die Widersprüche im Irak in nächster Zeit noch weiter vertiefen werden. Sie werden immer wieder zu gesellschaftlichen Protesten führen.

Koalition zur Unterdrückung gesellschaftlicher Proteste im Irak

Die Proteste in Basra in den vergangenen Monaten haben sowohl eine gesellschaftliche Dimension, als auch eine internationale, denn internationale Mächte versuchen sie zu ihren Gunsten zu instrumentalisieren. Es lässt sich natürlich darüber diskutieren, inwiefern die Proteste in Basra als anti-amerikanische Proteste vom Iran organisiert wurden und wie sie zu einer Protestwelle wurden, die sich letztendlich wieder gegen den Iran richtete. Es gibt durchaus Mächte, die ab und zu ethnische und religiöse Konflikte anfachen, um ihren Kampf um die Hegemonie im Irak auszutragen. Auch die Provokation eines ethnischen Krieges ist ein Teil dieses Hegemoniekrieges. Da ein derartiger Krieg jedoch für alle Beteiligten äußerst gefährlich wäre, arbeiten selbst miteinander verfeindete Kräfte punktuell zusammen, um gesellschaftliche Proteste zu unterdrücken. Sie wollen diese Proteste zwar nicht zu sehr anfachen, doch eine Lösung für sie finden sie auch nicht.

Die türkische Position im Irak

Die Türkei versucht ihre eigene Präsenz im Irak zu legitimieren und zu sichern, indem sie die bestehenden Widersprüche ausnutzt. Bislang nutzte die Türkei vor allem militärische Mittel, um ihre Präsenz im Irak zu sichern. Doch mittlerweile werden immer stärker politische Wege der Intervention genutzt. Die Widersprüche im Land sind sehr akut. Die Türkei versucht diejenigen irakischen Kräfte zu identifizieren, deren Widersprüche man nutzen kann, um den türkischen Einfluss im Land auszubauen. Zur gleichen Zeit versucht die türkische Seite durch ihre Beziehungen zur internationalen Koalition und zum Iran die eigene Position im Irak zu stärken. Die Türkei geht davon aus, dass sie mithilfe ihrer Beziehungen zu arabischen Ländern, zur internationalen Koalition, zu kurdischen Kräften aus dem PDK-Spektrum und zur türkischen Bevölkerung in Kerkûk zu einer politischen Macht im Irak werden kann. Doch die politische Verfassung der Türkei ist derzeit äußerst ungünstig für die Verfolgung einer derartigen Politik. All die Mächte, die sie versucht für ihre Interessen im Irak zu nutzen, sind vor Ort nicht sonderlich einflussreich.

Die derzeitigen politischen Akteure im Irak haben ihre Haltung gegenüber der Türkei nicht verändert. Sie akzeptieren die Präsenz der Türkei im Irak nicht und fordern ihren Rückzug. Einige Kräfte versuchen sogar, das Thema auf die Agenda der UN zu setzen. Diese Entwicklungen zeigen, dass die Türkei sich im Irak in einer äußerst verfahrenen Lage befindet. Sie versucht zwar mit allen Mitteln, in dem Land Fuß zu fassen, bekommt dabei aber starken Gegenwind. Die von der Türkei verfolgte politische Linie ist daher meiner Meinung nach nicht sehr vielversprechend.

Türkei: Wie ein Krähe

Die Türkei konzentriert sich derzeit auf das Zentrum des Irak, also auf Bagdad. Zuletzt besuchten türkische Vertreter nur Bagdad und klammerte die Kurden komplett aus. Obwohl bislang stets versucht wurde, über die Kurden Druck auf den Irak auszuüben, wendet man sich heute von ihnen ab und intensiviert die Beziehungen zur irakischen Zentralregierung. Doch die Lage der Türkei lässt eine derartige Politik nicht sonderlich vielversprechend erscheinen. Zudem verfügt sie nicht über eine entsprechende Position, um eine Rolle in den vielfältigen Entwicklungen im Irak spielen zu können. Daher kreist die Türkei wie eine Krähe über dem Irak und versucht, aus sich kurzfristig ergebenden Entwicklungen Profit zu schlagen.

Hewlêr (Erbil) wurde mit dem Besuch der Türkei in Bagdad und dem Verzicht auf einen Besuch in der Autonomieregion Kurdistan eine klare Botschaft übermittelt. Die Türkei und Erdoğan zeigen den Kurden ganz klar, dass sie sie als Feinde betrachten. Dafür bedarf es keiner großen Ankündigung. Wer die Botschaft verstehen will, der hat sie erhalten. Doch die südkurdischen Kräfte, insbesondere die PDK, sind weder in der Lage, aus der Geschichte die richtigen Schlüsse zu ziehen oder die Lehren der Geschichte richtig zu deuten, noch verstehen sie, was die Gründung des türkischen Nationalstaates bisher für die Kurden bedeutet hat. Obwohl es so eindeutig ist, verstehen sie die Botschaft nicht:

– Erstens: Die Türkei hat ganz klar Position gegen das südkurdische Unabhängigkeitsreferendum im letzten Jahr bezogen. Sie hat direkt dagegen interveniert.

– Zweitens: Die Türkei hat ihre feindliche Haltung gegenüber einer föderalen Ordnung im Irak eindeutig geäußert.

– Drittens: Die Türkei setzt sich für eine Organisierung und Bewaffnung der Türkinnen und Türken in Kerkûk ein. Dem liegt eine Politik zugrunde, die die Existenz der Kurdinnen und Kurden verleugnet. Auch hier ist die Botschaft also eindeutig.

Die südkurdischen Kräfte wollen diese Botschaft wohl nicht verstehen. In letzter Zeit spricht die Türkei ganz offen davon, dass sie die irakische Zentralregierung als ihre Ansprechpartnerin ansieht und keinerlei Sonderstatus für ethnische Gruppen akzeptieren wird. Das ist sozusagen die rote Linie der Türkei. Auch in den 70er Jahren war es die Türkei, die in der Frage einer kurdischen Autonomie das größte Hindernis darstelle. Sie tat damals alles dafür zu verhindern, dass den Kurdinnen und Kurden auch nur ein einziges Recht zugesprochen wird. Das ist eindeutig belegt. Auch heute verfolgt die Türkei diese Absicht. Wenn also die Kurdinnen und Kurden heute im Irak gewisse Rechte erhalten haben und der Irak föderal organisiert wurde, dann wurde dies nicht mithilfe der Türkei, sondern gegen den Widerstand der Türkei durchgesetzt. Die zunehmenden Widersprüche zwischen den USA und der Türkei hängen mit genau dieser Frage zusammen. All die Drohungen der Türkei nach dem Referendum in Südkurdistan führen zu keinerlei Erfolg, solange die Türkei versucht, sie mithilfe der PDK umzusetzen. Das hat die Türkei mittlerweile verstanden, weshalb sie eine neue Offensive begonnen hat. Das Ziel dieser Offensive ist es, den Appetit anderer Gruppen anzuregen und die Beziehungen zur irakischen Zentralregierung zu intensivieren. Die Forderung nach der Einheit des irakischen Nationalstaates wird somit von der Türkei genutzt, um die Kurdinnen und Kurden in die Schranken zu verweisen und zugleich die türkische Präsenz im Irak zu stärken bzw. zu legitimieren. Die Türkei wird daher soweit wie möglich ihre anti-kurdische Politik verfolgen und sich diesem Block zuordnen.

Die türkische Botschaft an die Kurdinnen und Kurden lautet wie folgt: ‚Mein Ansprechpartner ist Bagdad, d.h. der irakische Nationalstaat. Ich werde eure Rechte als Kurdinnen und Kurden stets eindämmen und diejenigen unterstützen, die sich gegen euch wenden.‘ Wenn die Kräfte in Südkurdistan die Türkei weiterhin als strategischen Partner betrachten, dann ist ihr Schicksal aufs engste vom Erfolg oder Misserfolg der Türkei abhängig. Sie werden unter einem etwaigen Erfolg der türkischen Politik im Irak schwer zu leiden haben. Das können wir heute schon ganz klar voraussehen.

Irakische Verfassung: Föderalistische Prinzip zerstört

Wenn wir uns nur die praktischen Entwicklungen im Irak ansehen, dann erkennen wir eine ausweglose Lage. Wir sollten uns zu allererst fragen, was die Kurdinnen und Kurden angesichts dieser Situation unternehmen müssen. In der Vergangenheit wurden die nötigen Schritte nicht gegangen. Daher ist es zu großen Niederlagen gekommen. Ein föderal organisierter Irak ist sehr wichtig, genauso wie eine föderale irakische Verfassung. Diese Verfassung bringt einen gewissen Konsens hervor, auf dessen Grundlage ein Kampf um die eigenen Rechte führt werden kann. Diese Möglichkeit besteht und kann für die Interessen der Kurdinnen und Kurden genutzt werden. Doch diese Chance wurde bisher nicht genutzt. Anstatt die politische Lage umfassend zu bewerten und auf dieser Grundlage eigene politische Ziele zu verfolgen, wurde eine nationalistische Haltung eingenommen, die nur auf nationalstaatliche Ziele schielt. So konnten die bestehenden Chancen bisher nicht genutzt werden.

Übersetzung: Civaka Azad