Ohne Lösung breitet sich der Krieg aus

Der außenpolitische Sprecher der Demokratischen Bewegung Salih Muslim erklärt, dass Syrien zum Ort der Abrechnung im 3. Weltkrieg geworden sei und warnt, dass wenn man diesen Krieg jetzt nicht beende, dieser sich auf die ganze Region ausweite.

Salih Muslim bewertete die Widersprüche und Kämpfe in Idlib und berichtet davon, wie sich dort die Milizen der Türkei zusammengeschlossen haben. Nach seiner Auffassung wird der türkische Staat viel verlieren, wenn er auf seiner jetzigen Politik bestehe. Salih Muslim beantwortet in dem Interview auch unsere Fragen zu Sotschi und Genf und dem kurdischen Nationalkongress. Er kritisierte, dass der politische Wille Nordsyriens weder in Genf noch in Sotschi einbezogen worden sei. Dies bedeute, dass die regionalen und internationalen Kräfte an einer Lösung nicht interessiert seien.

Muslim warnte, dass der Iran, wenn er keine demokratische Veränderung von innen erfährt, einem tiefgehenden Zerfallsprozess gegenüberstehen kann. Er warnte, dass in der Region gerade alle Verhältnisse umgekehrt werden und dass die Kurd*innen, wenn sie nicht schaffen eine nationale Einheit zu bilden, vor einer existenziellen Bedrohung stehen werden.

Die Türkei wird viel verlieren

Wohin entwickelt sich der fortdauernde Dritte Weltkrieg in Syrien und dem Mittleren Osten?

Das, was in Syrien gerade passiert, ist der Dritte Weltkrieg. Hier wird er ausgetragen, hier wird miteinander abgerechnet. Wohin es gehen wird, ist immer noch nicht sicher.

Der seit sieben Jahren andauernde Krieg muss etwas abkühlen. Vielleicht wird der Krieg nicht zu hundert Prozent enden können, aber seine Intensität muss abnehmen. Der Krieg hat sich in Nordsyrien mittlerweile anderen Regionen zugewandt. Vor allem Idlib. Das wird ein neues Feld sein, auf dem Rechnungen beglichen werden. Ein anderer Fokus wird die im Süden der Nordsyrienföderation liegende Umgebung von Dêra Zor sein. Die hegemonialen Kräfte können den Krieg auch in andere Länder und an andere Orte verlagern. Es könnten Orte wie Pakistan, Iran und Jemen sein. Sie können den Krieg von Syrien auf andere Gebiete richten.

Auf der anderen Seite gibt es immer noch Auseinandersetzungen um Idlib, Damaskus und Dêra Zor. Diese werden sich noch verschärfen. In Nordsyrien wird die Situation noch ein wenig anders sein. Wenn die Türkei nicht angreift, wird unsere Region ein bisschen mehr Frieden und Ruhe erreichen.

Im syrischen Bürgerkrieg ist Idlib in der letzten Zeit in den Vordergrund gerückt. Warum ist die Bedeutung von Idlib so zentral?

Idlib ist seit der Antike ein Fokus religiöser Organisationen und Strukturen. Organisationen wie die Muslimbruderschaft sind dort seit langem präsent. Als die Auseinandersetzungen in Syrien begannen, wurden die religiösen Angelegenheiten in den Vordergrund gerückt. Sowohl aus diesem Grund, als auch wegen der Nähe zur Türkei ist die aktuelle Lage in Idlib heute so. Sie haben die Region in Astana zur „konfliktfreien“ Zone erklärt und versammelten alle Dschihad-Aktivisten aus Orten wie Damaskus und Homs dort. Jetzt gibt es die größten Probleme vor allem in Idlib.

In Astana wurde der Türkei die Aufgabe erteilt, die Region von Dschihadisten zu säubern. Aber offensichtlich gab es da Widersprüche. Was passiert in dieser Hinsicht?

Als der Krieg in Syrien begann, hatte die Türkei Pläne. So wurden die dschihadistischen und islamistischen Organisationen, die zu Beginn des Krieges gegründet wurden, von vielen verschiedenen Mächten unterstützt. Strukturen wie Khorasan, El Nusra, Tevhid und die Muslimbruderschaft bildeten sich vor Ort neu. Die Türkei gab diesen Strukturen weitgehende Unterstützung. Und sie breiteten sich überall in Syrien aus. Das Hauptziel der Türkei war es, Syrien vollständig zu zerstören und ein Syrien den eigenen Zwecken entsprechend zu schaffen. Diese Pläne sollten zunächst hauptsächlich gegen die Kurd*innen entwickelt werden. Zuletzt haben wir gesehen, dass die Türkei diese Gruppen in einem Gebiet versammelt hat.

Die USA und Russland sagten zur Türkei: „Ihr habt die Gruppen dorthin gebracht, bewaffnet, versorgt und unterstützt. Wie auch immer ihr das anstellt, kontrolliert das jetzt.“ Aber die Türkei will diese Situation nicht, denn alle Politik, die sie in Syrien entwickeln wollte, ist zusammengebrochen. Jetzt verfügt die Türkei nur noch über Idlib. Internationale Kräfte wollen die Türkei benutzen, um die Region zu säubern …

Die Türkei hat im Dritten Weltkrieg im Mittleren Osten eine Entscheidung getroffen. Sie richtete sich nach Russland und dem Iran, statt nach den USA und dem europäischen Block. Kann die Türkei in Idlib ihre Interessen gegen Russland und den Iran durchsetzen?

Dass Russland und der Iran die gleiche Haltung wie die Türkei in Astana eingenommen hat, war rein taktisch. Es waren fast alle auf dem Treffen, außer die Kräfte aus Syrien … Jetzt können sie sagen, „die Türkei hält sich nicht an unsere Abmachungen. Sie muss dieses Gebiet verlassen".

Die Türkei blieb in Idlib, und den anderen Orten in die sie eindrang, stecken. Jetzt ist sie sehr pessimistisch. In den letzten Jahren wollte sie durch den Abschuss des russischen Flugzeugs die NATO mit hineinziehen, aber diese Rechnung ging nicht auf. Sie wollten die USA hineinziehen, aber auch das klappte nicht. Als sie scheiterte, begann sie, die Nähe zu Russland zu suchen. Allerdings benutzen Russland und Iran die Türkei für ihre taktische Politik.

Die Türkei hat vor kurzem die iranischen und russischen Verantwortlichen aufgefordert, die Operationen Syriens auf Idlib zu stoppen. Was bedeutet das?

Sie haben sich in Astana auf einige Gebiete geeinigt. Es gibt eine Bahnlinie in Idlib. Es gibt dort El Nusra, die unter dem Namen Heyet Tahrir al-Şam auftreten. Gemäß der Vereinbarung müssen Nusra und andere Organisationen diese und ähnliche Orte verlassen. Es gab eine Vereinbarung mit dem Regime bezüglich des militärischen Eindringens in die Region. Aber trotz des Vorrückens der Kräfte des syrischen Regimes, wurden diese Gruppen nicht aus ihren jeweiligen Gebieten abgezogen. Die Türkei wurde dazu aufgerufen, sie abzuziehen. Sie forderten, dass sie die Verpflichtungen der Vereinbarungen von Astana erfüllen sollen. Dennoch kämpfen die von der Türkei unterstützten Ehrar Al-Şam mit dem Regime. Die Türkei kann diesen Gruppen auch gar nicht sagen, „kämpft nicht“, denn die kämpfen für ihre eigenen Gebiete auf syrischem Boden. Entweder bekämpft die Türkei diese Gruppen, was die Türkei in einen Krieg hineinziehen würde, oder sie beendet die Unterstützung, die sie ihnen gegeben hat und verhält sich wie vereinbart. Sie sagten der Türkei, „entweder machst du das, wenn nicht, machen wir es.“

Wie beeinflusst diese Situation den Kriegsverlauf in Idlib?

Nun schauen Sie, in Idlib stehen die Chancen schlecht, dass der Krieg rasch endet. Der Krieg dort wird sich in die Länge ziehen. Denn neben der politischen und militärischen Lage ist auch die geografische eine ganz andere. Da es ein gebirgiges Gebiet ist, ist es für einen Guerilla-Krieg sehr geeignet. Ich glaube nicht, dass es in kurzer Zeit vorbei sein wird. Mit der Befreiung von Raqqa wurde das Tor für eine neue Phase aufgestoßen. Wenn man dort den Weg einer politischen Lösung einschlägt, kann das Problem vielleicht kurzfristig gelöst werden. Wenn nicht, dann wird sich der Krieg noch weiter in die Länge ziehen. Das wird die Türkei in größte Probleme stürzen.

Vielleicht ist es jetzt nicht so sehr auf der Tagesordnung, aber was ist die Situation in Cerablus und Al-Bab?

Niemand will die Präsenz der Türkei in Syrien. Das will weder Syrien noch die internationalen Kräfte. Sie sagten: „Gib mir Aleppo, nimm Al-Bab." Die Türkei verlor zuerst Aleppo und jetzt können sie Al-Bab nicht halten. Die Menschen dort machen ihren Unmut über die Anwesenheit der Türkei deutlich. Proteste gegen sie haben sich ebenfalls entwickelt. Al-Bab hat zu Problemen für die Türkei gesorgt. Russland mag das Eindringen der Türkei dort genehmigt haben, aber das bedeutet nicht, dass sie dort dauerhaft bleiben kann.

Auf der anderen Seite bleiben wir nicht still. Es gibt dort kurdische Siedlungen. Sie versuchen dort die Demographie zu ändern. Wir können demgegenüber nicht schweigen. Die Anwesenheit der Türkei ist nicht richtig, sie muss die Region verlassen. Am Ende werden sie von dort verschwinden, aber wir können keinen sicheren Zeitpunkt benennen. Sie werden dann wie aus Al-Bab auch aus Idlib verschwinden. Sie haben in all ihren politischen Vorhaben eine Niederlage erlitten. Und so wird es weitergehen.

Wie sehen Sie die Möglichkeit des Angriffs des türkischen Staates auf Efrîn?

Wenn es einen solchen Angriff geben sollte, wird sich der Krieg in der Türkei ausbreiten und es wird der Beginn des Zusammenbruchs der Türkei werden. Es ist überhaupt nicht gut für sie, Efrîn anzugreifen. Das wissen sie auch, und angesichts dessen, würde keine der internationalen Kräfte einen solchen Angriff dulden. Es gibt das Beispiel Kobanê – Efrîn ist bereit. Die Kurd*innen werden, wo auch immer sie sind, Verantwortung für ihre Städte übernehmen. alle sollten sich dessen bewusst sein.

Was bedeutet es, Efrîn anzugreifen?

Der Angriff auf Efrîn ist ein Angriff auf alle Kurd*innen. Während der Schlacht von Kobanê, kamen junge Leute aus Nordkurdistan in die Region und leisteten einen unerbittlichen Widerstand. In Efrîn wird dieser noch stärker wachsen. Das kurdische Volk wird sich überall erheben, und es wird einen umfassenden Krieg geben.

„Wenn der Iran sich nicht ändert, wird er geändert werden.“

Wenn wir nun Syrien ein wenig verlassen, dann gibt es andere Schauplätze des 3. Weltkriegs, wie den Irak und den Iran. Die Erhebungen im Iran in den letzten Wochen zeigen uns dies. Was ist Ihrer Meinung nach der Zusammenhang zwischen diesen Aufständen und dem 3. Weltkrieg?

Das syrische Regime kämpft darum, nicht wie Ägypten, Libyen oder Tunesien vernichtet zu werden. Es hat ein diktatorisches und despotisches Selbstverständnis. Dies hat es dem ganzen Land aufgezwungen. Der Iran ist noch viel schlimmer als Syrien. Es gibt ein Mullah-Regime, ein System wie das Kalifat. Nach diesem System wird alles, vom Geheimdienst bis zum Militär bis hin zur Regierung, alles wird von den Mullahs unter Kontrolle gehalten. So beherrscht der Iran die Völker. Die Unterdrückung des Schah-Regimes hat sich verzehnfacht. Deswegen gibt es keinen Raum für Veränderung.

Die Völker des Irans können aber nicht durch Unterdrückung zum Schweigen gebracht werden. Egal, wie sehr sie das auch versuchen, sie werden eines Tages aufstehen. Kurd*innen, Belutsch*innen, Araber*innen und Aserbaidschaner*innen leben im Iran. Diese Völker akzeptieren das seit Jahrtausenden andauernde totalitäre Regime im 21. Jahrhundert nicht mehr. Aber weil es keine Alternativen gibt, kann keine starke Organisierung entwickelt werden. Das Mullah-Regime befindet sich nicht nur politisch, militärisch und sozial, sondern auch in im weltanschaulichen Sinne in einem Krieg gegen die Bevölkerung. Aus diesem Grund ist der Iran eine sehr geschlossene Struktur. Die meisten Intellektuellen, Schriftsteller*innen und Journalist*innen befinden sich im Exil. Diejenigen, die sich an Hashdi Shabi und ähnlichen Organisationen beteiligen sind dieselben, die das Leichentuch in der Khomeini-Zeit anzogen. Das iranische System unterscheidet sich nicht vom IS. Nur sind die einen Sunniten und sie sind Schiiten.

Wenn der Iran keine demokratische Transformation aus sich selbst heraus schafft, was wird dann passieren?

Er wird ohne Zweifel sehr schlimm explodieren. Der Iran ist ein zentraler Staat in der Region des Mittleren Ostens – Iran, die Türkei und Ägypten sind die drei zentralen Staaten der Region. Wenn der Iran durch innere Auseinandersetzungen zerstört wird, dann besteht kein Zweifel daran, dass dies die gesamte Region betreffen wird. Er ist gezwungen, einige Reformen durchzuführen. Aber das reicht nicht aus. Der Iran muss sich radikal verändern. Zunächst muss er auf das System des Kalifats verzichten. Khamenei ist in der heutigen Situation alles im Iran. Seine Edikte sind in allen Dingen gültig. Alle Verfassungsänderungen hängen von ihm ab. Ohne seine Erlaubnis kann nichts passierten. Es ist ein Kalifat wie vor 1500 Jahren.

Einige haben die Aufstände, die wir in den letzten Wochen im Iran erlebt haben, äußeren Kräften zugeschrieben, andere haben inneren Dynamiken oder Regimefeindschaft als ihren Auslöser angesehen. Was sind Ihrer Meinung nach die Ursachen?

Zunächst einmal müssen wir die Realität des Systems zu sehen. Als das gegenwärtige Regime an die Macht kam, hatte niemand das Recht, den Mund aufzumachen. Sie gingen wohin sie wollten, errichteten Galgen und richteten hin, wen sie wollten. Es handelt sich um ein System, das auf Blut aufgebaut ist. Natürlich wird es bereit sein Blut zu vergießen, um seine Macht zu halten. Die Zerstörung eines Systems auf diese Weise wird auch sehr schwierig sein. Eine Million Menschen starben im Iran-Irak Krieg. Auf diesem Krieg hatten äußere Kräfte einen Einfluss. Die Vereinigten Staaten wollten auch einen Wechsel herbeiführen, Änderung vornehmen und scheiterten allerdings. Der Iran ist nicht leicht von außen zu ändern. Die Völker des Iran fordern eine radikale Veränderung. Aber es gibt keine Möglichkeit, es wird ihnen keine Chance gegeben. Nun, schauen Sie, jetzt wird auch das Internet verboten, die Menschen werden von der Außenwelt abgeschnitten. Es gibt keinerlei Freiheit im Pressebereich. Das sind keine einfachen Dinge. Du kannst dich nicht einmal als Teil dieser Welt begreifen. Kein Zweifel, so wird es nicht gehen. Aber meiner Meinung nach wird das System durch die eigene Kraft des Volkes verändert werden. Sie werden einen Wechsel durch die Kraft der Kurd*innen, der Belutsch*innen, der Aserbeidschaner*innen und all der anderen Völker erleben. Aber ich möchte dies hinzufügen, je später die Veränderung kommt, desto tiefgehender und radikaler wird die Zerstörung sein. Die Veränderung des Regimes durch sich selbst, wäre in dessen eigenem Interesse der richtigere Weg.

Sie haben den Iran als eines der drei bedeutendsten Länder der Region eingeordnet? Was wird also passieren, wenn der Iran in einen Bürgerkrieg abrutscht?

Der Iran ist ein großes Land. Er grenzt an Afghanistan und Pakistan. Seine Machtpolitik setzt er über die Schiiten um. Er bringt sie nach Syrien und lässt sie dort kämpfen. Er hat auch eine Grenze zum Irak. Die beiden Länder beeinflussen sich gegenseitig. Iran führt einen Kampf in diesen Staaten, wie auch in vielen anderen Staaten des Mittleren Ostens. Wenn es zum Zusammenbruch des Iran kommt, dann werden alle diese Staaten davon beeinflusst werden. Das bedeutet es, zentral zu sein.

Wie wirkt sich das auf den sunnitisch-schiitischen Widerspruch aus? Denn der Iran besitzt ja die Führungsmacht der Schiiten in der Region.

Nun, die einzige Lösung des schiitisch-sunnitischen Widerspruchs ist gegenseitige Akzeptanz. Es handelt sich dabei tatsächlich um ein Problem der Mentalität und des Verständnisses. Zum Beispiel möchten wir, dass im Modell der Demokratischen Nation alle ethnischen, religiösen und konfessionellen Unterschiedlichkeiten zusammenleben. Das gilt auch für den Iran und die gesamte Region. Der Grund für den schiitisch-sunnitischen Krieg oder Widerspruch ist, dass Frieden und Koexistenz und die Bildung eines gemeinsamen Lebens nicht erwünscht sind.

Auf der anderen Seite schüren äußere Kräfte diesen Krieg, um ihre eigenen Interessen zu stärken. Dieser Krieg blockiert positive Entwicklungen. Sie kämpfen überall. Sie benutzen moderne Waffen gegeneinander. Der Jemen ist das beste Beispiel. Und woher kommen diese Waffen? Man muss das hinterfragen. Einige wenige profitieren davon. Sie verkaufen ihr Öl, Sie verkaufen ihre Waffen, und machen Gewinne damit. Wie kann der Krieg enden?

Diese Aufgabe fällt den regionalen Kräften zu. Sie müssen den Willen und die Entscheidungskraft der Bevölkerung respektieren. Zum Beispiel sollte das Volk von Syrien über seine Zukunft selbst entscheiden. Die Völker haben keinen Streit. Dies gilt nicht nur für uns. Das gilt für alle. Es gilt auch für den Iran und den Mittleren Osten.

Aber es gibt keine Lösung der Probleme, trotz Treffen wie in Genf und Astana. Warum?

Dass in Genf keine Lösung gefunden werden konnte, liegt an der Unaufrichtigkeit der beteiligten Parteien, es liegt daran, dass sie keine Lösung wollen. Wenn einige aus der Bevölkerung Syriens Befehle aus Katar, andere aus Russland und andere was weiß ich wo her erhalten, dann können sie nicht zusammenleben. Menschen mit freien Willen entscheiden über ihre eigene Zukunft selbst. Unfreies Zusammenleben und Frieden widersprechen sich. Wo es auch sein mag, man kann nicht erwarten, dass ein versklavter Mensch Frieden und Demokratie bringt. Er hat weder die Kompetenz noch die Kraft dazu. Diese Sklaverei kann einer Person, einer Macht oder dem Geld gegenüber sein, aber man kann in einer solchen Situation nicht erwarten, dass auf diese Weise freies Zusammenleben entwickelt wird.

Die freie Gesellschaft entwickelt sich durch den freien Willen des Individuums. Freie Gesellschaften können Frieden und Demokratie schaffen. In Genf gibt es keine solche Situation. Wer daran teilnimmt entscheidet der Sultan. Erdoğan sagte, dass die Kurd*innen nicht da und nicht dort sein dürfen. Was geht ihn das an, dass sind innere syrische Angelegenheiten. Was geht ihn das an, wo die Kurd*innen mitmachen und wo nicht? Die Völker Syriens haben selbst die Kraft und den Willen über ihre Zukunft zu entscheiden. Wie die Menschen in Syrien zusammenleben, geht Erdoğan rein gar nichts an. Das ist sehr klar und offensichtlich.

Die Lösungsmethode, die wir entwickelt haben, nimmt die Befreiung der Bevölkerung und der Gesellschaft als Grundlage. Kurd*innen und Türk*innen, Kurd*innen und Araber*innen haben keinen Konflikt. Die gegenwärtigen Herrschaftskräfte schaffen solche Feindseligkeiten mit Gewalt.

Auf der Tagesordnung steht ein Treffen in Sotschi. Es gibt insbesondere eine intensive Debatte darüber, ob die Kräfte Nordsyriens teilnehmen werden. Was erwarten Sie von Sotschi? Werden Sie am Treffen teilnehmen, hat sich das geklärt?

Als Föderation Nordsyrien sind wir eine entscheidende Kraft. Wir haben ein Lösungsprojekt, und wir haben die Kraft, es umzusetzen. Eine solche Kraft nicht zu einem Treffen für eine Lösung einzuladen bedeutet, keine Lösung zu wollen.

Warum sagt die Türkei, dass die Kurd*innen nicht am Treffen teilnehmen sollen?

Weil die Kurd*innen die fundamentale Kraft für eine Lösung sind. Die Kurd*innen agieren gemeinsam mit den anderen Völkern Nordsyriens. Der türkische Staat fürchtet sich vor diesem gemeinsamen Projekt. Er versucht, die Kurd*innen von diesen Treffen fernzuhalten. Was, passiert wenn wir nicht teilnehmen? Dann wird es keine Lösung geben.

Die USA, Russland oder andere Kräfte setzen keinen Schwerpunkt auf die kurdische Teilnahme, sie bestehen nicht darauf. Das zeigt, dass auch sie nicht ernsthaft an einer Lösung interessiert sind. Das sagen wir ganz offen. Wenn sie beschließen, die grundlegenden Kräfte für eine Lösung zu solchen Sitzungen einzuladen, dann zeigt das, dass sie wirklich eine Lösung wünschen. Dann wird auch eine Lösung gefunden.

Es gibt einige Kräfte in Syrien, die sich nicht offen mit uns treffen. Warum? Weil sie nicht frei sind. Sie haben Angst um ihre Unterstützung aus dem Ausland. Entweder werden ihre Gelder gestoppt oder die Waffenlieferungen und ähnliches. Manche treffen sich heimlich mit uns. Wir fragen, warum trefft ihr euch nicht offen mit uns? Aber sie können es nicht. Weil sie nicht frei sind.

Egal, wie viele Menschen in Syrien durch die internationalen Mächte gestorben sind, sie schauen nur auf ihre eigenen Interessen. Sie kümmern sich darum, wie viel sie gewonnen haben, wie viel Herrschaft aufgebaut wurde. Sie erleben den Krieg nicht, sie verlieren nichts, ihre Menschen sterben nicht, sie erleben den Schmerz nicht. Aber wir erleben ihn. Jeden Tag sterben unsere Menschen, wir leiden. Deshalb bemühen wir uns darum den Frieden voranzubringen.

Ich hoffe, dass alle Völker, die in Syrien leben, diesen Schmerz teilen und für die Entwicklung einer Lösung arbeiten.

Nun, was sieht das Regime für Syrien vor? Sie wollen ein Kalifat-System schaffen oder auch hier einen Khamenei aufbauen. Er will Syrien unter die Kontrolle des Iran bringen. Aber die Bevölkerung akzeptiert das nicht. Es gibt in Syrien unterschiedliche religiöse und ethnische Identitäten. Ein Kalifat kann hier nicht praktiziert werden.

Die internationalen und regionalen Mächte sind nicht ernsthaft an einer Lösung interessiert

Es geht aus dem, was Sie gesagt haben hervor, dass globale und regionale Kräfte keine Lösung in Syrien wollen?

Ja, in dieser Hinsicht sind sie nicht aufrichtig. Manche glauben nicht einmal, dass die Möglichkeit, dass sich eine politische Lösung entwickeln könnte, besteht. Sie glauben fest daran, dass das Problem mit militärischen Methoden gelöst werden könnte. So will Erdoğan beispielsweise nicht, dass Kurd*innen als solche akzeptiert werden. Er will nicht, dass sie in den Lösungsprozess involviert sind. Wie kann sich so eine Lösung entwickeln?

Ist es dann für Sie nicht wichtig in Sotschi dabei zu sein? Sie sagen ja, dass diejenigen, die diese Treffen ausrichten, keine Lösung wollen und dass die Treffen ergebnislos bleiben werden.

Die Grundlage der Aufgabe ist die Lösung, welche die Völker Syriens untereinander entwickeln. Wenn ein System verändert wird, dann braucht es auch eine internationale Akzeptanz. In diesem Zusammenhang kann Sotschi den Erfolg der Genfer Verhandlungen befördern. Denn an diesen Treffen nehmen die internationalen Kräfte teil. Nun sagen die türkischen Regierungsbeamten, wir werden nicht zulassen, dass die Kurd*innen in Sotschi dabei sind. Und was ist das Ziel von Sotschi? Das erste besteht darin, eine neue Verfassung für Syrien zu schaffen, das zweite bezieht sich auf Wahlen.

Bis jetzt sagen sie, wir akzeptieren es nicht solange Assad noch da ist. Wenn es eine neue Verfassung geben soll, muss sie auf jeden Fall demokratisch sein. Sie wollen aber nicht, dass wir eine demokratische Verfassung machen. In einem Prozess, bei dem Erdoğan sagen kann wer gehen und wer bleiben soll, kann keine Lösung entstehen. Nachdem eine Lösung auf der Basis des Willens der Völker Syriens geschaffen worden ist, wird es keine großen Probleme mehr mit treffen im inneren oder außerhalb geben.

Wenn es keine nationale Einheit gibt, wird die Existenzfrage der Kurd*innen wieder auf die Tagesordnung kommen

Während alle diese Entwicklungen passiert sind, haben die Kurd*innen über einen Nationalkongress debattiert. Besteht die Möglichkeit, dass in näherer Zukunft ein solcher Kongress stattfindet?

Das, was wir vor allem in Südkurdistan, insbesondere um Kerkûk erleben, hat allen offen gezeigt, wie notwendig eine nationale Einheit ist. Diese Einheit entsteht nicht aus ein paar Parteien. Es muss eine Einheit sein, in der alle Teile der Gesellschaft sich wiederfinden und sich ausdrücken können. Es kann keine Einheit geben, bei der einige von woanders Befehle erhalten und von dort gesteuert werden.

Es muss einen Mechanismus geben, in dem die Bevölkerung direkt an den nationalen Entscheidungen beteiligt wird und entscheiden kann. Was im Süden geschah, ist nicht wenig. Große Erfolge sind verloren gegangen. Wenn sich die Türkei, der Iran, der Irak und Syrien gegen uns zusammenschließen, warum sollten wir dann keine Einheit schaffen?

Wenn die Kurd*innen zusammenkommen und eine nationale Einheit bilden, dann werden sie eine große Kraft im Mittleren Osten sein. Das ist möglich. Sie werden zur führenden Kraft des Mittleren Ostens werden. Wenn man von Einheit spricht, dann ist es dennoch keine Notwendigkeit, dass alle Parteien dabei sind. Es gibt einige Parteien, die behaupten kurdisch zu sein, aber eigentlich sind sie vom türkischen Staat, Syrien oder jemand anderes gegründet worden. Ob diese dabei sind oder nicht ist nicht wichtig.

Haben Sie Beziehungen zu anderen Parteien? Vor allem mit den Parteien aus Südkurdistan, wie beurteilen Sie die neuesten Entwicklungen?

Ja, wir haben Beziehungen, aber nicht so intensiv, wie wir gerne hätten. Und viele von ihnen sind immer noch weit davon entfernt, den Ereignissen einen Sinn zu geben. Jetzt finden nationale Arbeitstreffen statt. Alle sollten teilnehmen und die Gründe für die erlebten Verluste deutlich hinterfragen. Die Hindernisse, die einer Einheit im Wege stehen, müssen überwunden werden. In der Bevölkerung gibt es die nationale Einheit bereits. Die Bevölkerung sieht nun die Realitäten deutlich und klar. Das ist es, was zählt. Trotzdem nehmen einige Parteien nicht an der Einheit teil und machen Fehler. Es muss ein nationaler Mechanismus geschaffen werden, durch den diejenigen, die auf ihrer Weigerung bestehen, zur Rechenschaft gezogen werden können und die Kurd*innen ein neues Zeitalter nationaler Einheit erleben. Wenn die Kurd*innen es nicht schaffen für eine nationale Einheit zu sorgen, dann werden sie viel verlieren. Dabei geht es nicht nur darum das Erreichte wieder zu verlieren, sondern es geht um eine große Bedrohung der eigenen Existenz. Deshalb ist die nationale Einheit eine notwendige Bedingung.

ANHA | HALİT ERMİŞ / DIYAR EHMO