Nicht Minbic, sondern Qendîl ist das Ziel

Der Kolumnist Ferda Çetin über die aktuellen Pläne der Türkei für Rojava und Südkurdistan.

In der vergangenen Woche fand in Ankara ein wichtiges Treffen statt. Eine amerikanisch-türkische Arbeitsgruppe kam zusammen, um nach eigener Aussage die Differenzen bezüglich Minbic beizulegen. Nach dem Treffen verkündeten die Außenministerien der USA und der Türkei in einer gemeinsamen Erklärung: „Die Grundpfeiler für eine Zusammenarbeit bei der Gewährleistung von Sicherheit und Stabilität in Minbic wurden gemeinsam festgelegt.“

Bereits am 27. April diesen Jahres hatte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu nach einem Treffen mit dem neuen US-Außenminister Mike Pompeo erklärt, beide Länder hätten sich bezüglich Minbic auf gemeinsame Maßnahmen geeinigt. Doch der Streit um Minbic war schon deutlich vor dieser Erklärung und dem Treffen der amerikanisch-türkischen Arbeitsgruppe in Ankara beigelegt worden. In Minbic sind heute neben den Kräften der SDF und den amerikanischen Soldaten auch französische Einheiten stationiert. Militärische Feldlager, gepanzerte Einheiten und Artillerie befinden sich in der Region. Die militärische Präsenz der NATO-Staaten Frankreich und USA verhindert bereits seit einiger Zeit einen türkischen Angriff bzw. eine Besatzung. Daher besteht zwischen den USA und der Türkei auch kein Konflikt mehr bezüglich Minbic. Die Gefahr einer direkten Konfrontation US-amerikanischer und türkischer Gruppen wurde somit beendet. So kam es, dass Erdogan Minbic seit geraumer Zeit nicht mehr in seinen Reden erwähnt.

Was genau wurde also bei dem Treffen der amerikanisch-türkischen Arbeitsgruppe in Ankara besprochen? Wenn es bei dem Treffen der beiden Außenminister aus den USA und der Türkei am 4. Juni in Washington nicht wie angekündigt um einen ‚gemeinsamen Plan für Minbic‘ geht, worum dann?

Die Antworten auf diese Fragen verbergen sich in der andauernden Besatzung Afrins durch die Türkei. Sowohl die USA, als auch Russland, die Vereinten Nationen und die Europäische Union unterstützen die Besatzung der Türkei und der mit ihr verbündeten islamistischen Gruppen. Durch ihr brutales Schweigen stimmt diese globale Allianz der Vertreibung von 600.000 Kurdinnen und Kurden aus ihrer Heimat und der Ansiedlung von Islamisten und ihrer Familien aus Guta, Damaskus, Idlib, Aleppo und Kilis zu. Aus Sicht der USA, Russlands, der UN und der EU stellen die demographischen Veränderungen, die täglichen Entführungen, die Vergewaltigung von Frauen und die Plünderungen in Afrin keine ernstzunehmenden Probleme dar.

Die Treffen der USA und der Türkei im Verlauf der letzten zwei Monate drehten sich nicht um die Lösung etwaiger Konflikte bezüglich Minbic oder Rakka. Der türkische Staat (also nicht nur die AKP und Erdogan) versucht derzeit seine Beziehungen zu den USA auf gewohnte Art und Weise zu führen und fordert in diesem Zusammenhang, Teile Syriens und den Iraks besetzen zu können. Die USA verfolgt eine Politik, mit der sie dieser Forderung entgegen kommt. Die Beziehungen der USA und der Türkei sind also nicht so schlecht, wie immer wieder angenommen. Die Unterstützung der USA für die Besatzung von Cerablus, al-Bab und Afrin durch die Türkei setzt sich heute auf irakischem Boden fort.

Die Besatzung der Regionen Bradost und Lelîkan in einer Phase, in der die türkische Regierung und Armee ihren schwächsten Zustand erreicht haben, findet nicht gegen die Interessen der USA und des Iraks statt. Es ist kein Geheimnis mehr, dass die KDP-Führung dem türkischen Staat den eigenen Boden im Gegenzug für dessen Krieg gegen die PKK schenkt. Auch das Ausbleiben ernst zu nehmender Proteste der Regierung Haydar el-İbadis gegen die türkische Besatzung und die Öffnung des irakischen Luftraums für die türkische Luftwaffe könnten mit US-amerikanischem Druck zusammen hängen.

Mit seinem Besuch in England verfolgte Tayyip Erdogan das Ziel, Unterstützung für die Besatzungspolitik zu finden. Er bezweckte damit, die Zustimmung Englands zur türkischen Besatzung von Teilen Syriens und des Iraks zu gewinnen und zu gewährleisten, dass die begangenen Kriegsverbrechen an den Kurdinnen und Kurden ignoriert werden. Die Erklärung der englischen Premierministerin Theresa May, man verstehe die Probleme des türkischen Staates im Zusammenhang mit dem kurdischen Terror, verdeutlichen, dass die von türkischer Seite eingeforderte Unterstützung gewährt wurde.

Die Fortdauer der Macht Erdogans, der sich innenpolitisch mit einer umfangreichen Krise konfrontiert sieht, hängt eng mit den Besatzungsoperationen in Syrien und dem Irak zusammen. Erdogan entschied sich für vorgezogene Neuwahlen, weil er nur zu gut weiß, dass sein Regime von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird und der Unmut mit jedem Tag wächst. Mit der Zunahme von Instabilität, Armut, Arbeitslosigkeit und Korruption bleiben Erdogan praktisch keine Mittel mehr, um seine seit 16 Jahren andauernde Macht zu verteidigen. Erdogans einzige verbleibende Möglichkeit, um die Opposition im eigenen Land zu unterdrücken und seine Macht fortzusetzen, besteht darin, einen ständigen Kriegszustand aufrecht zu erhalten und im Ausland Erfolge zu vermelden. Daher spricht er in seinen Wahlkampfreden auch über nichts anderes.

Kurz vor den Wahlen bereitet die türkische Armee derzeit eine neue Offensive in Südkurdistan vor. Bereits vor drei Monaten begann sie mit ihren Vorbereitungen, in deren Rahmen sie versuchte, strategische Gipfel zu besetzen. Die KDP soll für die Bodenoperation die benötigten geheimdienstlichen Informationen und die Logistik bereitstellen. Die USA sind über die Pläne der Türkei gegen Südkurdistan, die PKK und die kurdische Guerilla bestens informiert. Weder bei dem Treffen der amerikanisch-türkischen Arbeitsgruppe in Ankara am 25. Mai, noch dem Treffen vom Pompeo und Çavuşoğlu am 4. Juni in Washington geht es um Minbic. Entgegen der öffentlichen Verlautbarungen verhandeln die USA und die Türkei stattdessen über eine Besatzung Südkurdistans. Die derzeitige Besatzung der Regionen Bradost und Lelîkan findet im Rahmen einer erweiterten Operation gegen Qendîl statt, die noch für die Zeit vor den Wahlen vorgesehen ist. Für Erdogan ist es in der aktuellen Situation äußerst schwer seine Macht auf normalem Wege zu sichern. Neben den Stimmenmanipulationen und anderen Wegen des Machtbetrugs benötigt er einen vermeintlichen militärischen ‚Erfolg‘. Deshalb wird derzeit eine Operation in Südkurdistan vorbereitet, die sich auch gegen Qendîl richten wird. Alle Treffen der Türkei mit den USA und Europa während der aktuellen Wahlphase drehen sich um dieses Thema.