Şaziye Köse ist stellvertretende Ko-Vorsitzende der HDP und Verantwortliche der Arbeitskommission. Mit ANF hat sie über Wege aus der Wirtschaftskrise, die Rolle der türkischen Regierung und über die im Rahmen der Kampagne „Gerechtigkeit für alle“ stattfindenden „Versammlungen für Brot und Arbeit“ gesprochen.
In den letzten 18 Jahren konnten wir in der Türkei eine zunehmende Verarmung der Bevölkerung beobachten. Während der Wirtschaftskrise und der Corona-Pandemie hat sich diese Entwicklung noch einmal verstärkt. Dies gehört auch zu den Themen der Kampagne „Gerechtigkeit für alle“ der HDP. Wie ist die Situation der Armut in der Türkei?
Im Moment gehören Arbeitslosigkeit, Armut, Mangel und Preissteigerungen zu den lebensbedrohlichsten Problemen in der Türkei. Seit die AKP im Jahr 2002 an die Macht kam, fährt sie eine Politik, deren Grundlage die zunehmend unsichere Situation der Erwerbstätigen und deren Verarmung sowie die Zersetzung ihrer Interessenvertretungen ist. Die Mächtigen haben sich wie immer an die Seite der Chefs gestellt. Die Regierung und ihre Gleichgesinnten lassen die Beschäftigten, die Frauen, die Jugend, die Rentner, kurz gesagt die gesamte Türkei die Rechnung für die ökonomische Krise zahlen, die sich während der Pandemie noch einmal verschärft hat. Mit den unzähligen Preissteigerungen gehen Steuererhöhungen einher, die das Luxusleben der Regierenden und den Profit ihrer Verbündeten garantieren. Arbeitende Menschen und Arbeitlose können kein Brot mehr kaufen, von Sonnenblumenöl ganz zu schweigen, während gleichzeitig ihre Arbeitsplätze durch bevorstehende Bankrotte bedroht sind.
In der Türkei haben die armutsbedingten Selbstmorde zugenommen. Glauben Sie, dass dies eine auf die Zeit der Pandemie beschränkte Erscheinung ist?
Offiziell sagt die Regierung, dass Entlassungen während der Pandemie verboten wären. Tatsächlich unterstützt sie aber ihre Verbündeten und schweigt, wenn der Code 29 als Grund für die schamlosesten Entlassungen in der Geschichte genutzt wird (Entprechend dem „Code 29“ können Arbeitende auch während der Pandemie entlassen werden, wenn der Arbeitgeber sie bezichtigt, „nicht nach moralischen Regeln und in guter Absicht“ gehandelt zu haben. Auf diese Weise entlassene Personen erhalten kein Arbeitslosengeld, ANF). Vor den Kameras vergießen die Mächtigen Krokodilstränen für Lämmer, während sie den Code 29 nutzen, um mit den Wölfen gemeinsame Sache zu machen. Bauern, die ihre Ernte nicht verkaufen können, werden die Traktoren konfisziert, Geschäfte hinter geschlossenen Rollgittern gehen pleite. Derweil veranstalten die Machthabenden in ihren Palästen prunkvolle Bälle. Der Präsident, der seine Ohren vor den Hilfsrufen der hunderttausenden Arbeitslosen verschließt, behauptet mit Blick auf seinen Palastgarten, dass das Land erblühen würde.
Die HDP-Arbeitskommission besuchte im Rahmen ihrer bisherigen Treffen auch Izmir-Gaziemir. Der Landkreis wird auch das „Tschernobyl von Izmir“ genannt. Die lokale Bevölkerung wehrt sich seit geraumer Zeit gegen die illegale Deponierung von Atommüll.
Und während diese Regierung ihre Augen und Ohren vor der Wahrheit verschließt, nehmen sich immer mehr unserer Mitmenschen aufgrund von Arbeitslosigkeit, Armut und Mangel das Leben. Die Frage, die wir stellen müssen, ist folgende: Kennen Sie Duran Ay, Adem Yarıcı, Emine Akçay, Ismail Devrim, Furkan Celep, Erdem Topuz oder Metin, der bei seinem Selbstmord die Notiz „Arbeit-Essen“ hinterließ? Wir kennen sie. Die Machthabenden kennen diese Menschen nicht. Wer am Tropf der staatlichen Informationsquellen hängt, kennt sie nicht. Diese Menschen sind unsere Schwestern und Brüder, die von der Sorge über ihr Einkommen, von Armut und Verzweiflung überwältigt wurden und sich das Leben nahmen. Seit Gründung der Republik sind diese Probleme niemals so akut gewesen wie heute. Zweifellos gab es diese Probleme auch schon vor Beginn der Pandemie. Aber die Pandemie hat sie noch einmal verstärkt.
In den letzten Jahren sind die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer geworden. Welchen Anteil hat die Regierung an dieser Situation?
Seit der Pandemie stehen die Regierungen der Welt vor einem Dilemma: Die Wirtschaft oder der Mensch? Die Wirtschaft oder die Gesundheit? Und in der Türkei: Rendite, Profit oder Kapitalakkumulation? Das amtierende Regime hat sich für „Rendite, Profit, Kapital“ entschieden und der Gesundheit der Bevölkerung keine Beachtung geschenkt. Zur gleichen Zeit haben sich die Probleme weiter und weiter verschärft. Das Haushaltsbudget ist eine politische Entscheidung. Diese Entscheidung wurde entsprechend den Interessen des Kapitals getroffen. Es wurde ein Kriegs-, Profit- und Plünderungshaushalt beschlossen. Die Landwirtschaft wurde ausgetrocknet und das Kleingewerbe wissentlich in den Ruin getrieben. Die Reichen sind noch reicher geworden. Die Armut wurde verstärkt und der Arbeitslosenpool weiter gefüllt.
Welche Bedingungen müssen erfüllt werden, damit die in der Türkei lebenden Völker in Freiheit, Demokratie und in ökonomischer Sicherheit leben können und diese Krise überwunden wird?
Die Türkei war ohnehin in einer andauernden wirtschaftlichen Krise, die durch die Pandemie noch einmal verschärft wurde. Aber wir müssen uns dieser Situation nicht wehrlos ergeben. Vor allem müssen die Ursachen für die momentane Politik und die politischen Entscheidungen beseitigt werden. Diese Regierung setzt den Neoliberalismus auf rücksichtsloseste und zügelloseste Art um. Dieser Neoliberalismus wiederum ist die rücksichtsloseste und zügelloseste Form der kapitalistischen Akkumulation. Die Probleme schichten sich aufeinander. Während auf der ganzen Welt selbst kapitalistische Institutionen neoliberale Politiken in Frage stellen, führt die türkische Regierung diese mit Vollgas fort.
Aber natürlich ist es möglich die notwendigen Bedingungen zu schaffen, um diese Krise zu überwinden. Wie werden Ressourcen verteilt? Wer bekommt welchen Teil vom Budget? Gibt es demokratische Mechanismen? Können Grundfreiheiten ausgeübt werden? Gibt es genug Unterstützung? Gibt es genug Arbeit und Essen? Dem können noch viele weitere Fragen hinzugefügt werden. Auf keine dieser Fragen lautet die Antwort „Ja“, nicht einmal annähernd. Deshalb müssen wir alle Teile der Gesellschaft, die mit diesen Verhältnissen unzufrieden sind, zusammenbringen, um eine breite Allianz für die Demokratie zu schaffen und gemeinsam voran zu gehen und ein neues Leben zu schaffen.
Im Rahmen Ihrer Kampagne haben Sie „Versammlungen für Brot und Arbeit“ durchgeführt. Was sind Ihre Vorschläge und was sind die Forderungen der Bevölkerung? Können Sie Ihre Arbeit beschreiben?
Unser erster Anlaufpunkt war das von Armut und Arbeitslosigkeit stark betroffene Amed (tr. Diyarbakır). Danach ging es nach Izmir. Wir werden im Rahmen dieses Programms alle Provinzen besuchen und uns die Probleme und Forderungen der Erwerbstätigen, der Gewerbetreibenden, der Frauen, der Jugend, der Arbeitslosen, der Armen und Bedürftigen, aber auch die der Arbeitsgeberorganisationen anhören. So werden wir uns Vorschläge für mögliche Auswege einholen.
Wir können beobachten, dass alle Teile der Gesellschaft in Sorge sind. In allen Teilen der Gesellschaft äußert sich die soziale Opposition mit klaren Forderungen. Diese Forderungen haben nicht wir uns ausgedacht, sie sind allerorts zu hören: Minimaleinkommen und Mindestlohn von der Steuer ausnehmen, die im Rahmen von Notstandsdekreten (KHK) Entlassenen wieder einstellen, Streichung der Schulden bei der Behörde für Hochschulkredite und -wohnheime (KYK), Veröffentlichung der Zahlen der türkischen Statistikbehörde entsprechend der tatsächlichen Inflation und dementsprechende Anpassung von Zuwendungen, Streichung der Strom- und Wasserrechnungen in der Landwirtschaft, Verlängerung von Krediten, Zuschüsse für Diesel und Dünger, Arbeitszeitverkürzung. Das Kleingewerbe wird bewusst in den Bankrott getrieben. Die Läden sind zu, während sich andernorts die Räder weiter drehen. Diese Politik muss sofort beendet werden. Dem Kleingewerbe und Menschen ohne Einkommen muss Unterstützung zukommen.
Es heißt, dafür gäbe es keine Ressourcen. Es wird ununterbrochen gefordert, dass wir den Gürtel enger schnallen sollen. Aber es gibt Ressourcen. Bloß die Verteilung der Ressourcen ist ein durch politische Entscheidungen geschaffenes Problem. Unsere Vorschläge: Eine radikale Steuerreform, eine Vermögenssteuer, Hinwendung zu einer friedlichen Außenpolitik statt Sicherheits- und Militärausgaben, Schattenhaushalte in den offiziellen Haushalt überführen und diesen für die öffentliche Gesundheit und die finanzielle Unterstützung der Bevölkerung nutzen, Profite vergesellschaften, keine Sonderbehandlung des Staatsfonds etc. Wir nehmen weitere Vorschläge auf und diskutieren sie. Wir werden Schritt für Schritt ein neues Leben aufbauen.