Şaziye Köse, die stellvertretende Ko-Vorsitzende der HDP und Verantwortliche der Arbeitskommission, warnt vor den verheerenden Folgen für Beschäftigte, die während der Corona-Pandemie unter Lebensgefahr arbeiten müssen. „Weder weltweit noch in der Türkei ist aufgrund der Pandemie eine Krise ausgebrochen. Die Pandemie vertieft nur eine bereits stattfindende ökonomische Krise”, sagt die Politikerin. Mit den Auswirkungen dieser Krise müssten die Arbeiterklasse, die Armen, die Frauen und die Migrant*innen fertig werden, unterstreicht Köse und warnt vor einer schrecklichen Bilanz nach der Seuche.
„In diesem Jahr steht der 1. Mai, der Tag der internationalen Einheit, der Solidarität und des Kampfes, im Schatten der Coronakrise. Wir stehen einer massiven Angriffswelle gegenüber, denn das kapitalistische System ist entschlossen zum Klassenkampf bereit”, so Köse. Ganz im Interesse des Kapitals folge der Staat der Linie, die Herrschaft der Finanzoligarchie aufrechtzuerhalten, und greife in die Grundrechte der Arbeiter*innen ein.
Arbeiter müssen hungern
„Obwohl es im Gesetz keine Regelung für ‚unbezahlten Urlaub‘ gibt, haben in dieser Zeit zahlreiche Betriebe ihre Beschäftigten gezwungen, Erklärungen zu unterzeichnen, in denen sie ‚freiwillig‘ unbezahlten Urlaub nehmen. Diese Menschen sind nun mit Hunger konfrontiert. Sie wissen nicht, ob sie jemals wieder angestellt werden. Nicht registrierte Arbeiter, Tagelöhner, Frauen, die als Haushaltshilfen arbeiten, kleine Handwerker und Migranten stecken in der Mühle der Arbeitslosigkeit fest. Die Arbeitslosenquote hat 30 Prozent erreicht. Die aktuelle Gesetzgebung beinhaltet erneut nur Entscheidungen im Sinne des Kapitals. Angeblich gilt in Zeiten der Coronakrise ein besonderer Kündigungsschutz. Trotzdem hören wir jeden Tag verzweifelte Hilfeschreie von entlassenen Menschen vor den Arbeitsämtern”, kritisiert Köse.
Mit Blick auf die Anhäufungen von arbeitslosen Menschen vor den Postfilialen der PTT, die nach Angaben der Regierung Hilfsgelder in Höhe von 1166 TL (umgerechnet etwa 153 Euro) erhalten sollen, erklärt Köse, es sei vollkommen unklar, wer davon profitiere. „Das gleiche gilt für den Arbeitslosenfond. Er steht unter der Kontrolle des Kapitals. Das Kapital sortiert weiterhin Menschen aus. Es nutzt das neue Gesetz in seinem Interesse und verhindert, dass die Menschen ihren Lohn erhalten. Wir sagen, dass Unternehmen, deren Produktion nicht zwingend benötigt wird, ihren Geschäftsbetrieb einstellen sollen und die Belegschaft bezahlten Urlaub bekommt. 1166 TL für Menschen ohne Einkommen reicht nicht aus, es müssen mindestens 2500 TL sein. Betriebe, die weiter arbeiten, müssen Kurzarbeit anbieten, ohne dass die Rechte der Belegschaft eingeschränkt werden.”
Kein Schutzschild für Gesellschaft, sondern fürs Kapital
Das Wirtschaftspaket der Regierung stelle keinen Schutzschirm für die Gesellschaft dar, fährt Köse fort: „Für wen ist es ein Schutzschild? Natürlich für das Kapital. Kein anderer Teil der Gesellschaft wird geschützt. Denn es gibt schließlich Kölnisch Wasser und Gebete. Die Regierung hat ihre Wahl klar getroffen: Sie geht mit einer klassenbewussten Haltung vor und bezieht mit ihrer Politik offen Stellung an der Seite der Bosse. Dieses Wirtschaftspaket ist nichts anderes als eine Bedrohung für das Leben der Arbeiterklasse.”
Hauptsache, die Räder drehen sich
Die Devise laute, die Räder sollen sich drehen und Arbeiter von den Präventionsmaßnahmen ausgenommen werden, unterstreicht Köse. Die Regierung und das Kapital hätten ein Klima erzeugt, in dem es heiße: ‚Stirb entweder an Hunger oder arbeite und sterbe an der Seuche‘. „Jeden Tag infizieren sich Arbeiternehmer in ihren Betrieben aufgrund fehlender Sicherheitsvorkehrungen mit dem Coronavirus und sterben. Verantwortlich für das bisherige und bevorstehende Leid ist die Regierung, die das Kapital, dem die gesellschaftliche Gesundheit nichts bedeutet, unterstützt und die will, dass sich die Räder weiterdrehen, auch wenn es den Arbeitern das Leben kostet.”
Nach der Seuche erwartet uns eine schreckliche Bilanz
Gegen das Wirtschaftspaket der Regierung hatte die HDP einen eigenen Antrag eingebracht. Köse sagt dazu: „Dieser Gesetzentwurf beinhaltetet Arbeit, Impfung und Grundbedürfnisse unserer Bürger während der Pandemie zu garantieren und wichtige Schritte hin zu einem gerechten Wirtschaften zu gehen. Er wurde nicht einmal diskutiert. Aber wir werden nicht aufgeben. Wir werden weiter auf unserem Antrag bestehen.”
Şaziye Köse führt vor Augen, welche Probleme die Gesellschaft schon jetzt deutlich plagen: „Millionen ersticken an unbezahlten Rechnungen, Krediten, Kreditkarten, Mieten, Hunger, Armut und Entbehrungen. Nach dem Ende der Pandemie erwarten uns schlimme Konsequenzen. Die Arbeitszeiten werden verlängert, die Löhne werden gekürzt werden. Die Konkurrenz wird härter. Diejenigen, die auf die Straße gesetzt wurden, werden auf den Müllhalden vegetieren. In Folge der Epidemie werden wir mit Wellen von Arbeitslosigkeit konfrontiert sein.
Die AKP und das Palastregime, deren Werk diese Krise ist, haben begonnen, das Klima der Todesangst, der Panik und der Isolation als Gelegenheit zu erkennen, ihr Kapitalakkumulationsmodell fortdauern zu lassen und ihr monistisches Regime zu stärken. Sie haben über die Gesellschaft eine politische Quarantäne verhängt. Um eine mögliche soziale Explosion zu verhindern, werden wir wahrscheinlich mit dem Aufbau einer totalitäreren, repressiveren Überwachungsgesellschaft konfrontiert sein. In dieser Hinsicht müssen wir als Berufsverbände, politische Parteien und NGOs wachsam sein. Lasst uns am 1. Mai damit beginnen, eine breite Basis des Kampfes zu schaffen, ohne das Ende der Pandemie abzuwarten.“