Gegenüber ANF hat sich Murat Karayilan als Mitglied des Exekutivrats der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) zu den Entwicklungen im Jahr 2018 geäußert. In seiner Analyse geht er zurück in die letzten Jahre. Wir veröffentlichen den ersten Teil unserer Reportage:
„Der Kolonialismus hat eine Niederlage erlitten, weil er nicht mit dem Widerstand des menschlichen Willens gerechnet und daher nicht vorausgesehen hat, dass sich eine gesellschaftliche Realität nicht vernichten lässt“, erklärt Murat Karayilan und fährt fort: „Es ist davon ausgegangen worden, dass sich der kurdische Befreiungskampf über Repression und Unterdrückung genauso einfach zum Schweigen bringen lässt, wie es mit dem Schlag gegen die Gülen-Gruppe gelungen ist. Die Demokratie- und Freiheitsbewegung Kurdistans hat sich jedoch zu einer Volksrealität entwickelt, die sich nicht unterdrücken lässt. Es funktioniert nicht.“
2018 nehme einen wichtigen Platz in der Geschichte des kurdischen Befreiungskampfes ein, erklärte Karayilan: „Es gab in diesem Jahr wichtige Errungenschaften, aber wir haben auch wichtige Verluste erlebt. 2018 ist für uns sehr lehrreich gewesen. Es hat ein großer Widerstand stattgefunden, mit dem Legenden erschaffen worden sind. Wenn die verschiedenen Kampfphasen im Jahr 2018 analysiert und die richtigen Schlüsse daraus gezogen werden, auf dieser Grundlage mit einer besseren Taktik und Weise gekämpft wird und der Widerstand sich entsprechend überall in Kurdistan ausbreitet, kann 2019 nur gewonnen werden. Insofern müssen die richtigen Schlüsse aus der Praxis 2018 und auch aus den vorherigen Jahren gezogen werden, um den Kampf mit besseren, realistischeren und konstruktiven Methoden weiterentwickeln und gewinnen zu können.“
Öcalans Newroz-Aufruf 2013
„Abdullah Öcalan hat mit seinem Aufruf zu Newroz 2013 eine Offensive von hohem historischem Wert eingeleitet. Man muss sich der Folgen und der daraus entstandenen Realität bewusst sein. Diese Offensive zielte darauf ab, mit einer neuen Perspektive sowohl bei der kurdischen Frage als auch bei den Konflikten und Problemen im Mittleren Osten zu intervenieren. Für eine demokratische Lösung über einen Dialog stellte die Perspektive des Modells einer demokratischen Gesellschaft eine wichtige Neuerung dar. Der Vorsitzende Apo wollte damit das Blutvergießen in der Region stoppen und einen neuen Prozess für die Völker der Region einleiten. Er legte Wert auf ein kurdisch-türkisches Bündnis und machte dem türkischen Staat entsprechende Vorschläge. Es ging dabei um ein Projekt, mit dem ein Waffenstillstand, ein Ende des Krieges und eine Ausweitung dieses Prozesses auf die gesamte Region erreicht werden sollten.“
AKP setzt auf Spezialkrieg
Die AKP habe auf diesen Lösungsvorschlag mit speziellen Kriegstaktiken reagiert und versucht, ihn als Grundlage dafür zu nutzen, die kurdische Befreiungsbewegung hinzuhalten, zu schwächen und letztlich zu vernichten, erklärte Karayilan. Um dieses Ziel zu verheimlichen, sei eine Zeitlang so getan worden, als ob es eine positive Resonanz auf das Öcalan-Projekt gebe.
Nicht so, wie der Staat es wollte
Die von Öcalan gut durchdachte Offensive habe entsprechend auch nicht zu der vom türkischen Staat angestrebten Schwächung der Bewegung, sondern vielmehr zu größerer Stärke geführt, sagte Karayilan: „Die kurdische Befreiungsbewegung hat in Bakur (Nordkurdistan) eine wichtige Stellung auf politischer Ebene eingenommen und die revolutionären Kräfte in Rojava haben wichtige Erfolge erzielt. Das kurdische Volk hat mit dem Widerstand gegen den IS in Rojava, Şengal und Başûr (Südkurdistan) und zum Schluss mit dem Kampf um Kobanê die kurdische Befreiungsbewegung zu einem wichtigen Akteur in der Region gemacht.“
Vor Angst den Krieg erklärt
Diese Entwicklung habe dem türkischen Staat Angst gemacht, deshalb habe er den bisher über den IS geführten Krieg im Juli 2015 selbst übernommen, so Karayilan: „Der Krieg begann eigentlich bereits am 5. April, als die Gespräche mit Öcalan abgebrochen und die Gefängnisinsel Imrali vollständig isoliert wurden. Im Juli wurde mit der Umsetzung des Vernichtungsplans gegen die kurdische Bewegung begonnen. Imrali steht im Fokus dieses Konzepts. Die ersten Schritte wurden auf Imrali gesetzt, dann wurde das Konzept ausgeweitet und verallgemeinert.“
Demokratische Autonomie als Antwort
Karayilan verwies auf den Widerstand für eine demokratische Autonomie in Nordkurdistan, mit dem die Bevölkerung Kurdistans auf die staatlichen Angriffe reagiert habe: „Vor allem in Sur, Cizîr, Nisêbîn, Şirnex, Gever und Hezex fand ein großer Widerstand statt. Der türkische Staat war erschüttert und sammelte alle faschistischen Kreise zusammen, um einen umfassenden Angriffskrieg vorzubereiten. Während dieser Vorbereitungen unternahm eine Gruppe innerhalb des Militärs, die befürchtete, aus dem neu entstehenden Bündnis ausgeschlossen zu werden, den Versuch eines Militärputsches. Der Versuch wurde von Anfang an kontrolliert und misslang. Die Gruppe, die sich aus Mitgliedern oder der Gülen-Gemeinde nahestehenden Personen zusammensetzte, wurde in eine Falle gelockt und erfuhr eine Niederlage.“
Regimeänderung gegen die Kurden
Der eigentliche Putsch fand erst fünf Tage später statt, als am 20. Juli 2016 der Ausnahmezustand in der Türkei ausgerufen, die Macht in einer Hand konzentriert und ein neues Regime installiert wurde, das über Dekrete regierte, so Karayilan. Die Institutionalisierung des faschistischen Regimes basierte auf der Unterdrückung der kurdischen Befreiungsbewegung, nicht nur innerhalb der Grenzen der Türkei, sondern in der gesamten Region. Auf dieser Grundlage sollte der Traum des faschistischen Bündnisses umgesetzt werden, aus der Türkei eine regionale oder gar globale Macht zu machen.“
Morgen: Neoosmanische Träume, die Zerschlagung der fortschrittlichen Opposition und die Veränderung der Kriegsführung