Murat Karayılan, Mitglied im Exekutivrat der PKK, hat sich in einem Programm des Fernsehsenders Stêrk TV zu den aktuellen Entwicklungen in Kurdistan und dem Mittleren Osten geäußert. Dabei ging er auf die Entwicklungen in der Idlib-Frage und das Ziel des türkischen Staates ein, das kurdische Volk vollständig zu vernichten. Die AKP sei eine Synthese der Muslimbrüder und al-Qaida, erklärte Karayılan:
„Es besteht ein Bündnis zwischen der AKP und diesen beiden Organisationen. Sie gehen gemeinsam vor. Ihre Gemeinsamkeiten werden aktuell in Idlib und anderen Orten offenkundig.“ Diese Situation stelle auch für die arabischen Völker eine große Gefahr dar, so Karayılan: „Wenn es in Syrien zu einer Einigung kommen sollte, was geschieht dann mit der Türkei? Wie kann sie wieder aus Syrien heraus gedrängt werden? Die Politik der Türkei führt zu neuen Problemen in der Region. Bis 2015 hat die Türkei innerhalb ihrer eigenen Staatsgrenzen getan, was sie wollte. Seit 2015 besteht der Beschluss der Türkei, sich auch über die Staatsgrenzen hinaus in das Geschehen in der Region einzumischen. In Syrien tut sie es unter der Hand bereits seit 2011. 2015 ist daraus ein staatliches Konzept geworden. Die AKP unterhält schon sehr lange Beziehungen zu den Muslimbrüdern und zu al-Qaida. Diese Beziehungen wurden 2011 zu Beginn der Aufstände in der Region aktiviert. Die AKP lieferte Waffen und unterstützte diese salafistischen Strukturen gemeinsam mit Katar. Die Türkei wollte über diese Gruppierungen Macht in Syrien erlangen. In Syrien hat eine große Tragödie stattgefunden. Hunderttausende Menschen haben ihr Leben verloren, historische Orte wurden zerstört, acht Millionen Menschen wurden in die Flucht getrieben. Erdoğan und die AKP sind zu einem großen Teil mitverantwortlich für diese Entwicklungen.“
Die Beziehungen zwischen der Türkei und Russland
Murat Karayılan äußerte sich weiter zu den Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Russland. Russland habe für den 16. August geplant, eine Großoffensive auf Idlib zu starten. Die Türkei habe daraufhin zwei Dinge getan, so Karayılan:
* „Die Widersprüche mit den USA wurden weiter eskaliert. In Bezug auf den Prediger Brunson wurden Versprechungen gemacht, die dann nicht eingehalten wurden. Damit wurde der Widerspruch thematisiert und Putin signalisiert, dass es Konflikte mit den USA gebe.
* Die Türkei entsandte Abordnungen nach Moskau. Hulusi Akar und Hakan Fidan sind innerhalb einer Woche zweimal nach Russland gereist. Ziel dieser Reisen war, Russland im Gegenzug für eine Einigung etwas anzubieten.“
Was die Türkei Russland vorgelegt hat
Laut Karayılan standen vier Punkte dabei im Vordergrund:
* Die Türkei wollte eine Beendigung des gerade begonnenen Dialogs zwischen den Kurden und der syrischen Regierung. Während eine Abordnung des Demokratischen Syrienrates (MSD) bei Gesprächen in Damaskus nach Lösungen für Syrien und auch für die kurdische Frage suchte, verfolgte die Türkei einzig das Ziel, diesen Dialog zu unterbinden, damit es eben nicht zu einer friedlichen Lösung kommt.
* Da es in Til Rifat und Umgebung immer noch YPG-Einheiten gibt, wollte die Türkei dort eine Operation durchführen. In Til Rifat leben Kurden, die aus Efrîn dorthin gezogen sind. Um auch diese Region besetzen zu können, stellt die Türkei entsprechende Forderungen an Russland.
* Die Türkei will Minbic einnehmen. Das wird unter anderem von den USA verhindert. Um diese Hindernisse zu überwinden und Minbic einnehmen zu können, fordert die Türkei Unterstützung von Russland.
* Es wird also gesagt: ‚Wenn ihr zu diesen Themen Unterstützung leistet, können wir al-Nusra aus Idlib abziehen und ihr könnt euch in Cerablus, Bab, Efrîn und Azaz niederlassen. Auf diese Weise können wir die Idlib-Frage auf friedliche Weise lösen.‘ Russland wird nahegelegt, auf eine Operation in Idlib zu verzichten und dafür der Türkei die Möglichkeit einzuräumen, in Til Rifat und gegen die Kurden zu kämpfen.
Die Türkei verfolgt ein vorrangiges Ziel: Die Kurden sollen keinen offiziellen Status in der Region erlangen. Außerdem will sie ihren eigenen Einflussbereich ausdehnen.“
Die langfristigen Ziele der Türkei
Karayılan ging in seiner Bewertung auch auf die Südkurdistan-Politik der Türkei ein. Der türkische Staat baue zu bestimmten Kreisen Beziehungen auf, während er andere Kreise bedrohe und zu schwächen versuche. Das Hauptziel der Türkei sei dabei Kerkûk. „In der Politik gibt es taktische und strategische Vorgehensweisen. Ebenso gibt es kurz- und langfristige Ziele. Das kurzfristige Ziel der Türkei ist der Kampf gegen die PKK. Langfristig sollen die Errungenschaften aller Kurdinnen und Kurden zunichte gemacht werden. Das sagen wir nicht, um die Türkei schlecht zu machen. Es handelt sich um das grundlegende Konzept der Türken. Sie sagen es ja selbst ganz offen. Zum Beispiel hat Erdoğan diesen Gedanken zur Zeit des Unabhängigkeitsreferendums in Südkurdistan offen zur Sprache gebracht. Sie wollen nicht, dass die Kurden weiter in der Region existieren. In Nordkurdistan werden die Kurden unterdrückt, aber im Süden gibt es eine kurdische Föderation und in Rojava gibt es etwas Ähnliches wie eine Föderation. Dadurch wird es unmöglich, die Kurden im Norden vollständig zu unterdrücken. Selbst wenn die Hälfte der Kurden ermordet wird, wird die verbliebene Hälfte wieder aufbegehren, sagen sie sich. Aus diesem Grund wollen sie das Problem an der Wurzel anpacken. Was bedeutet das? Es bedeutet, sowohl die Errungenschaften im Süden als auch in Rojava zu ersticken. Dabei gehen sie so vor, dass sie nicht alle Kurden gleichzeitig gegen sich aufbringen, sondern ein Bündnis mit dem Iran schließen, damit Ostkurdistan vom Iran erledigt wird. So soll der kurdischen Frage die Brisanz genommen werden.“
Neues Regierungssystem der Türkei baut auf kurdischem Genozid auf
Die Türkei betrachtet die Kurden als eine Gefahr, erklärte Karayılan. Bereits die Gründung der Republik Türkei habe auf der Verleugnung der Kurden basiert: „Jetzt sagt Erdoğan, dass ein neues Kapitel in der Geschichte der türkischen Republik begonnen hat. Das Präsidialsystem, an dessen Spitze Erdoğan steht, soll auf einem kurdischen Genozid aufbauen. Für die Alleinherrschaft Erdoğans darf es keine Kurden mehr geben. Die Stimme der Kurden soll verstummen, es soll nicht mehr von ihnen gesprochen werden und sie sollen keinen eigenen Willen bilden. Das System basiert auf der MHP und auf Ergenekon. Tag und Nacht wird von Kerkûk geträumt. Bei jeder Gelegenheit wird betont, dass Kerkûk das Erbe ihrer Vorväter sei und dass Kerkûk und Mosul eines Tages wieder den Türken gehören werden. Das ganze System gründet auf dieser Denkweise. Aus diesem Grund besteht große Gefahr für das kurdische Volk.“
Gemeinsame kurdische Strategie
Alle kurdischen Kreise seien dringend dazu aufgefordert, dieses gefährliche Konzept zu erkennen, sagte Karayılan. Die aktuelle Lage erfordere einen strategischen Umgang und eine gemeinsame Haltung: „Vielleicht kann es keine Einheit aller kurdischen Kreise geben und aus diesem Grund auch kein gemeinsames Vorgehen gegen die Angriffe. Zumindest sollte sich jedoch jeder aus der eigenen Position heraus darum bemühen, diese gefährliche Politik abzuwenden. Unter den Kurden besteht Bedarf nach einer Annäherung, einem Dialog und einem Bündnis. Das zeigen uns die jüngsten Angriffe. Es geht nicht um eine Partei, es handelt sich um eine strategische Angelegenheit, um die Strategie des kurdischen Volkes. Im Mittleren Osten herrscht heute Krieg. Wichtig ist, was nach dem Krieg aus der Region gemacht wird. Der türkische Staat bezieht diese Frage in seine Berechnungen ein. Sein Hauptziel ist, dass die Kurden in der Neuordnung nicht vorkommen. Daraus besteht seine wesentliche Politik. Damit mit die Kurden in der Neuordnung nicht wieder verleugnet werden, müssen wir basierend auf einer gemeinsamen Strategie zu einem Dialog kommen. Niemand sollte Partner einer antikurdischen Politik werden. Man kann zum Beispiel mit einem normalen Staat Beziehungen aufbauen, aber wie kann man mit einem Staat freundschaftliche Kontakte pflegen, wenn dieser nach deinem Blut dürstet und dich heute oder morgen erledigen will? Kurz gesagt, alle kurdischen Parteien sollten die vor uns liegende Gefahr erkennen und aus ihrer eigenen Position heraus Stellung dagegen beziehen.“
Fehlende Einheit stärkt den Feind
„Wenn die Kurden sich in dieser historisch bedeutsamen Zeit nicht auf der Grundlage einer gemeinsamen Strategie bewegen, werden sie verlieren. Es ist so viel Widerstand geleistet, ein so hoher Preis gezahlt und ein sehr großer Einsatz gezeigt worden. Ohne ein gemeinsames Vorgehen und eine gemeinsame Politik wird es trotzdem zu negativen Enwicklungen kommen. Ich sage nicht, dass die Kurden dann vernichtet werden, denn das ist sehr schwer. Selbst wenn es nur noch uns geben sollte, wir haben unsere Vorkehrungen getroffen und werden nicht so leicht fallen. Wir haben bestimmte strategische Vorkehrungen getroffen. Wenn die Kurden jedoch keine Einheit bilden, wird der Feind dadurch gestärkt. Das sollte uns bewusst sein und wir sollten es vermeiden. Das ist es, worum es hauptsächlich geht.“
Zwei kurzfristige Ziele der Türkei
Karayılan verwies noch einmal auf die Beziehung der Türkei zu Organisationen auf der Linie von al-Qaida und al-Nusra: „Vertreter dieser Linie sind die Türkei und Katar. Einige Organisation in Idlib kritisieren al-Nusra dafür, dass sie so eng mit dem MIT verbunden ist. Al-Nusra wird vorgeworfen, dass sie sich in dessen Hände begeben hat. Das langfristige Ziel der Türkei ist die Vernichtung der Kurden. Kurzfristig verfolgt sie zwei Konzepte:
* Sie will den Krieg in Idlib stoppen und möglichst selbst angreifen.
* Sie will den Süden besetzen.
Dafür hat sie den Dialog mit dem Iran bis zum Schluss fortgesetzt, ebenso mit dem Irak. Soweit uns bekannt ist, hat sie keinen Erfolg gehabt. Und im Süden wollte sie sich Partner zulegen, auch das ist ihr nicht gelungen. Sie hat Angst, sich alleine weiter zu bewegen. Im Moment kommt sie nicht voran. Am Lêlikan, auf dem Tepê Xwedê und auf dem Koordine-Gipfel werden ihr täglich Schläge versetzt. Sie weiß sich nicht zu schützen. Geht sie zurück, bedeutet es einen tiefen Fall für sie. Um vorwärts zu kommen, muss sie sich Partner schaffen, was ihr bei diesem Thema bisher nicht gelungen ist. Zusammengefasst kann man sagen, dass die Türkei ihre schwächste Zeit erlebt. In Idlib bleibt es eng für sie, ebenso im Süden. Die Türkei steckt in einer militärischen, politischen und wirtschaftlichen Krise.“