Karasu: Einen Lösungsprozess hat es nie gegeben

Die Spekulationen, dass der türkische Staat Gespräche mit Abdullah Öcalan im Inselgefängnis Imrali führt, dienen der speziellen Kriegsführung und sollen Verwirrung stiften, erklärt Mustafa Karasu (KCK) im ANF-Interview.

Mustafa Karasu, Mitglied des Exekutivrats der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), hat sich im ANF-Interview zu Gerüchten über angebliche Gespräche auf Imrali und einen möglichen Besuch von Angehörigen bei Abdullah Öcalan geäußert.

In einer Zeit der strikten Isolation Abdullah Öcalans wird in einigen Kreisen darüber spekuliert, dass es Gespräche auf Imrali gibt und die AKP/MHP-Regierung Schritte in der kurdischen Frage unternehmen will. Welchen Sinn hat es, solche Behauptungen aufzustellen und zu diskutieren, wenn es keine Informationen über die Gesundheit und Sicherheit von Abdullah Öcalan gibt?

Kürzlich wurden Behauptungen in dieser Richtung aufgestellt. Egal, wer es sagt, die Quelle sind der MIT und die AKP. AKP und MIT greifen seit Jahren auf diese Methode zurück. Alle Äußerungen und Nachrichten über Rêber Apo [Abdullah Öcalan] sind definitiv für spezielle Kriegszwecke bestimmt. Rêber Apo ist nicht irgendein Gefangener. Wenn das kurdische Volk und die Freiheitsbewegung unterdrückt werden, wird diese Politik auch auf Rêber Apo unter den Bedingungen des Gefängnisses angewandt. Oder wenn wir uns das Vorgehen gegen Rêber Apo ansehen, können wir verstehen, welche Art von Politik gegenüber dem kurdischen Volk verfolgt wird. Zunächst einmal muss diese Tatsache bekannt sein.

Gegenwärtig betreibt die AKP/MHP-Allianz einen regelrechten Genozid am kurdischen Volk. Alle Praktiken sind auf Völkermord ausgerichtet. Die Kurdinnen und Kurden sollen im Laufe der Zeit türkisiert und Kurdistan zu einem Expansionsgebiet für den türkischen Nationalismus gemacht werden. Ohne diese Politik zu verstehen, kann man nicht alle Praktiken gegenüber den Kurden verstehen.

Seit 24 Jahren wird über Rêber Apo eine besondere Kriegspolitik betrieben. Da Rêber Apo die Realität des türkischen Staates kennt, nimmt er eine Haltung ein, die diesen Spezialkrieg vereitelt. Aus diesem Grund sagen wir, dass auf Imrali der größte und bedeutendste Widerstand der Geschichte geleistet wird.

Die AKP-Regierung weiß um den großen Einfluss von Rêber Apo auf das kurdische Volk. Aus diesem Grund werden in Zeiten, in denen sich der Kampf verschärft und die Wut des Volkes, der Jugend und der Frauen wächst, immer wieder Nachrichten über Gespräche mit Rêber Apo serviert. So soll der Kampf gegen die Isolation und für die Freiheit von Rêber Apo und der Befreiungskampf des kurdischen Volkes an vielen Fronten gelockert werden. Diese Art von Nachrichten ist bereits in der Vergangenheit von Zeit zu Zeit verbreitet worden. Allerdings ist das Timing dieses Mal bemerkenswert. Die Guerilla hat die Invasionsoperation der türkischen Armee in den Medya-Verteidigungsgebieten zum Stillstand gebracht. Auch unser Volk wird von dem aufopferungsvollen Widerstand der Guerilla inspiriert. In dieser Atmosphäre soll die Ankündigung eines Angehörigenbesuchs bei Rêber Apo den Eindruck erwecken, dass die AKP ihre Politik ändern wird. Auf diese Weise soll der Stillstand vertuscht werden, den die Guerilla und der Kampf des Volkes der AKP-Regierung beschert haben.

Auf Rêber Apo wird zweifelsohne konstant Druck ausgeübt, damit die Guerilla und das kurdische den Kampf aufgeben. Weil er diesem Druck nicht nachgibt, wird er isoliert. Seit 2011 finden mit einer Ausnahme keine Anwaltsgespräche statt. Bei seinem letzten Kontakt zu seinem Bruder im Frühjahr vergangenen Jahres kritisierte Rêber Apo, dass Gespräche mit seiner Familie keinen Sinn machen, solange die Kontaktsperre zu seinem Verteidigerteam besteht. Er weiß, dass solche Gespräche nur dazu dienen, Verwirrung zu stiften und die Angriffe auf das kurdische Volk zu verschleiern. Das Ziel ist dabei, den Eindruck zu erwecken, dass sich die Haltung der Regierung gegenüber Rêber Apo ändert. Damit will die Regierung den Verdacht auf Rêber Apo lenken und die Kräfte der Demokratie verwirren.

Ein Kolumnist, der dem AKP/MHP-Regime nahesteht, sagte, dass ein Treffen mit Abdullah Öcalan stattfinden könnte, um möglicherweise einen Prozess zwischen ihm und der AKP in Gang zu setzen, der in der Vergangenheit „Lösungsprozess" genannt wurde. Ist es möglich, dass die AKP-Regierung, die alle Arten von Angriffen auf das kurdische Volk und die demokratischen Kräfte durchführt und Südkurdistan und Rojava besetzen will, irgendeinen positiven Schritt in der kurdischen Frage unternimmt?

Dass alle paar Jahre Gespräche mit Rêber Apo ermöglicht werden, ist Teil des Spezialkrieg. Es kann wieder passieren. Es ist falsch, dem eine andere Bedeutung zuzuschreiben, sonst würde es dem Zweck des Spezialkrieges dienen. Eine so starke Isolierung und die Verweigerung eines Treffens mit Rêber Apo ruft nicht nur Reaktionen des kurdischen Volkes hervor, sondern stellt die Regierung auch vor den internationalen demokratischen Kräften bloß. In dieser Hinsicht sagen wir nicht unbedingt, dass es kein Treffen geben kann. Wenn es dem Spezialkrieg nützt, wird der Kontakt zugelassen. Das sollte jedoch niemand für bare Münze nehmen.

Tatsächlich gab es auch in der Vergangenheit keinen Lösungsprozess. Die AKP-Regierung wollte Zeit gewinnen, um ihre eigene Macht in diesem Prozess zu stärken, den Freiheitskampf des kurdischen Volkes zu schwächen und eine Politik durchzusetzen, die den Völkermord mit der Zeit ausweitet. Rêber Apo hingegen wollte die Kräfte der Demokratie stärken und die Völker und politischen Kräfte der Türkei auf eine Lösung vorbereiten. Der fragliche Prozess hat sich im Bemühen und Ringen um diese beiden Auffassungen vollzogen. Als die AKP-Regierung und die Staatsbürokratie erkannten, dass sie ihre Ziele nicht erreichen können, bereiteten sie einen Zerschlagungsplan vor, und von 2015 bis heute haben sie in dieser Richtung eine Unterdrückungs- und Kriegspolitik betrieben. Diese Politik wird immer noch fortgesetzt. Sie denken an nichts anderes als an die Liquidierung des Freiheitskampfes des kurdischen Volkes. Sie können nicht mehr auf eine Politik der Ablenkung zurückgreifen, auch wenn der Spezialkrieg dies erfordert. Rêber Apo akzeptiert keinen Ansatz, der nicht zu einer Lösung führt.

Wir haben die Deeskalationsprozesse, die nach 2006 stattfanden, nie als Lösungsprozess betrachtet oder definiert. Die Waffenstillstände waren Bemühungen, die AKP-Regierung und den Staat in den Lösungsprozess einzubinden. Rêber Apo äußerte bereits damals Zweifel an Tayyip Erdoğan und der AKP-Regierung. Mit anderen Worten: Er sorgte nicht für Waffenstillstandsphasen, weil er glaubte, dass Tayyip Erdoğan und die AKP einen Schritt zur Lösung der kurdischen Frage unternehmen würden. Er versuchte, einen Lösungsweg zu finden, der sich vor allem auf die Kräfte der Demokratie und die Völker der Türkei stützt. Wenn man seine Verteidigungsschriften und die Gesprächsnotizen genau analysiert, wird diese Realität deutlich. Er hat sogar die Repression vorhergesehen und die Anwälte, die Gesprächsdelegationen und die HDP davor gewarnt. Er sagte: Sie werden euch alle in den Kerker werfen. Diese Warnung hat er mehrmals ausgesprochen. Insofern schenkt Rêber Apo in einem Umfeld, in dem so viele Verfolgung stattfindet, den Äußerungen dieser Regierung keine Beachtung. Denn eine solche politische Grundlage und Verständigung gibt es nicht. Im Jahr 2006 und danach gab es eine Regierung, die von der Gesellschaft, politischen Kreisen und demokratischen Kräften unterstützt wurde. Jetzt hat sich diese Regierung mit allen Feinden der Kurdinnen und Kurden verbündet. Diese Regierung kann nur bekämpft werden. Die Haltung und das Verhalten von Rêber Apo und seine Einstellung zu dieser Regierung sind dementsprechend.

Die kurdische Frage in der Türkei kann nur durch Demokratisierung gelöst werden. Es ist ein Fehler zu glauben, dass sie anders gelöst werden kann. Sie ist nicht irgendein Problem und sie ist weltweit einzigartig. Denn zunächst einmal wird die Existenz eines solchen Problems nicht anerkannt. Wer sagt, dass es ein solches Problem gibt, wird sofort zum Schweigen gebracht. Wer auch nur ein bisschen von der klassischen Politik des Staates abweicht, dem kann alles zustoßen. Turgut Özal wurde aus diesem Grund getötet. Rêber Apo erklärte sogar, Özal habe den Charakter dieses Problems nicht ganz verstanden. Er hatte Zweifel, inwieweit ihm bewusst war, was bei diesem Problem auf ihn zukomme und inwieweit er sich den Reaktionen stellen würde. Tatsächlich hat Özal mit seinem Leben dafür bezahlt, dass er ein solches Problem auch nur indirekt angesprochen, geschweige denn Schritte zur Lösung unternommen hat.

Wer nicht demokratisch ist, wer nicht für die Demokratisierung kämpft, wer sich nicht auf demokratische politische Kreise und demokratische gesellschaftliche Teile stützt, kann dieses Problem nicht lösen. Es wäre naiv zu glauben, dass eine Regierung wie die AKP-MHP etwas Positives tun würde. Vor allem heute, wo sie sich voll und ganz auf die Liquidierung konzentrieren, werden sie sich nicht auf eine Aufweichung einlassen, selbst wenn diese für den Spezialkrieg erforderlich ist. Es gibt weder einen solchen Willen noch eine solche politische Atmosphäre. Daher ist die Spekulation, dass die AKP mit Rêber Apo spricht und dass ein ähnlicher Prozess wie der vorherige beginnen könnte, eine leere Diskussion, die nichts mit der Realität zu tun hat. Wenn es einen positiven Aspekt zu erwähnen gibt, dann den, dass die Existenz der kurdischen Frage unweigerlich zur Diskussion gestellt wird.