Warum kam es genau jetzt zu den Angriffen syrischer Regimekräfte in Qamislo gegen die lokalen Sicherheitskräfte der Asayis? Geschah das auf Grundlage von Anweisungen aus Damaskus?
Aus den Erklärungen der Asayis-Kräfte bezüglich der jüngsten Angriffe wird deutlich, dass das syrische Regime versucht, den eigenen Einfluss in Nordsyrien auszuweiten. Den Auseinandersetzungen ging der Versuch regimenaher Kräfte voraus, einige Jugendliche zum Militärdienst zu zwingen. Damit versucht das syrische Regime dem eigenen Anspruch Ausdruck zu verleihen, ganz Syrien zu kontrollieren und im ganzen Land nach eigenem Ermessen zu handeln. Es unternimmt dementsprechende Schritte und wartet dann ab, wie darauf reagiert wird. Ohne Zweifel wird das die Probleme nur vertiefen.
Seit acht Jahren findet in Syrien ein brutaler Krieg statt, unter dem alle Bevölkerungsgruppen zu leiden haben. Syrien wird niemals in den Zustand des Jahres 2011 zurückkehren können. Niemand sollte sich derartige Illusionen machen. Für den heutigen Zustand in Syrien ist insbesondere die Türkei verantwortlich. Wer also die Unabhängigkeit, Einheit und Stabilität Syriens fordert, der muss der türkischen Besatzung in Syrien ein Ende setzen. Dafür bedarf es einer Einigung mit den nordsyrischen Kräften. Auf eine Einigung zu verzichten und stattdessen Angriffe wie jüngst in Qamislo durchzuführen ist eine reine Provokation. Wir können nicht sagen, ob die Entscheidung dafür aus Damaskus kam. Doch wer sich für Stabilität und Frieden in Syrien einsetzt, sollte keine derartige Haltung einnehmen. Militärisch lassen sich die Probleme nicht lösen. Es bedarf eines Dialoges und rechtlicher Absprachen zwischen der syrischen Regierung und Nordsyrien, um alle Fragen auf Grundlage der gemeinsamen Absprachen zu lösen.
Trotz der zahlreichen Treffen mit Vertretern der Demokratischen Föderation Nordsyrien spricht die syrische Regierung davon, man stehe nicht in gesonderten Gesprächen und behandle die nordsyrischen Kräfte genauso, wie alle Syrerinnen und Syrer. Warum nimmt das Regime eine derartige Position ein?
Es ist ganz deutlich, dass sich die Mentalität des Regimes nicht sonderlich verändert hat. Das Regime möchte seine Macht in ganz Syrien wiederherstellen und die Teile der Bevölkerung bestrafen, die sich für Freiheit, Demokratie und Frieden einsetzen. Sie waren bisher nicht in der Lage anzuerkennen, dass es keinen Weg zurück in die Vergangenheit gibt. Es ist nicht nur zweifelhaft, ob das Regime seine alte Stärke zurückerlangt. Selbst das Weiterbestehen des Regimes ist keinesfalls sicher. Es gibt nur eine Möglichkeit für das Weiterbestehen des Regimes: eine Einigung mit den Völkern Syriens und der Demokratischen Föderation Nordsyrien. Ohne eine Einigung wird das Regime sich nicht auf den Beinen halten können. Ich kann ohne Zögern sagen, dass die Kräfte der Demokratischen Föderation Nordsyrien die Interessen ganz Syriens vertreten. Das syrische Regime denkt, es könne durch die Zerschlagung Nordsyriens alle Forderungen der syrischen Revolution zunichtemachen. Doch das ist schlichtweg unmöglich. Die nordsyrischen Kräfte verfügen über eine politische und militärische Stärke, große Gebiete mit Millionen von Menschen und auch über internationale Anerkennung. Die Aussagen der Regimevertreter genießen keinerlei Legitimität. Von nordsyrischer Seite ist auch gar nicht die Rede von eine Spaltung Syriens. Stattdessen fordert man ein demokratisches System für ganz Syrien. Was man für Nord- und Ostsyrien fordert, gilt auch für Damaskus, Latakia und Aleppo. Es wurde ein demokratisches System vorgeschlagen, dass sich nach den Interessen der Bevölkerung richtet. Genau deshalb setzten sich auch alle verschiedenen Bevölkerungsgruppen Syriens für dieses System ein. Dem Regime bleibt dementsprechend nur die Aufgabe, diesen Forderungen mit Respekt zu begegnen. Nur wenn es das tut, wird es sich auf den Beinen halten können.
Kann das syrische Regime auf die Durchsetzung der eigenen Interessen mit militärischen Mitteln pochen?
In dem Fall, dass das syrische Regime auf militärische Mittel setzt, wird Syrien gespalten werden und auch das Regime selbst ins Wanken geraten. Auf eine militärische Lösung zu pochen wäre also weder für Syrien, noch für das Regime eine positive Option. Der vielversprechendste Weg ist eine demokratische Einigung.
Brauchen die Großmächte, die in Syrien aktiv sind, Assad überhaupt noch?
Heute sind es die ausländischen Mächte, in deren Händen die Macht in Syrien wirklich liegt. Russland und der Iran sind sehr einflussreich. Für das syrische Regime wäre es das Beste, die Probleme in Syrien zu lösen. Solange dies nicht geschieht, ist es ein Leichtes für die ausländischen Mächte, über Syrien zu verfügen und das Land zu spalten. Wenn dem syrischen Regime wirklich etwas an Syrien gelegen ist, muss es sich noch stärker für eine Lösung einsetzen. Wenn Syrien die eigenen Probleme nicht selbst löst, wird keine ausländische Kraft das Land verlassen. Wenn es dem Regime gelegen kommt, vertieft es die Krise vielmehr. Dann sorgen es ein anderes Mal für Entspannung. Aber der Beendigung der Krise in Syrien widmet sich Damaskus nicht. Es gibt nur eine Lösung für all die Probleme und die Krise im Allgemeinen: Die demokratische Lösung der syrischen Probleme gemeinsam mit Nordsyrien und allen anderen Völkern Syriens.
Was genau geschah während des jüngsten Treffens Russlands, des Irans und der Türkei in Teheran? Inwiefern sind die Folgen des Treffens in der Region spürbar?
Bis es zur aktuellen Lage in Idlib kam, bestand ein Abkommen zwischen der Türkei, dem Iran und Russland. Die Türkei ging dieses Abkommen auf der Grundlage der eigenen kurdenfeindlichen Politik ein. Sie verfolgt das Ziel, alle Errungenschaften der Kurdinnen und Kurden zu zerschlagen und auf diesem Weg den eigenen Einfluss in Syrien auszubauen. Doch diese türkische Politik blieb erfolglos.
Die Probleme in Syrien werden nicht ohne einen Krieg gelöst werden. Die Interessen Russlands, des Irans und der Türkei unterscheiden sich voneinander, doch zugleich brauchen die drei Länder sich gegenseitig. Russland versucht zum einen die Herrschaft des syrischen Regimes in ganz Syrien – abgesehen von den Regionen östlich des Euphrats – wiederherzustellen, möchte aber zugleich die Türkei nicht als Partnerin verlieren. Das ist sehr schwer. Der Iran befindet sich in einer ähnlichen Lage. Er möchte zwar die Türkei aus Syrien vertreiben, versucht aber zur gleichen Zeit gemeinsam mit der Türkei einen Block gegen die USA zu bilden. Die Türkei wiederum möchte sowohl in Syrien bleiben, also in Idlib, Cerablus, Bab und Efrîn, aber auch die Beziehungen mit Syrien, dem Iran und Russland fortsetzen. Auch das gestaltet sich als sehr schwierig. Die Akteure können diese Politik nicht endlos fortsetzen. Einige Kräfte werden an gewissen Punkten Verluste in Kauf nehmen müssen. In diesem Rahmen hat Idlib für Russland und Syrien eine strategische Bedeutung. Sie können der Türkei bezüglich Idlib keine großen Zugeständnisse machen, denn Idlib ist entscheidend für die Verteidigung Aleppos. Zwischen Idlib und Aleppo, aber auch zwischen Efrîn und Aleppo liegen nur 30 bis 40 Kilometer. An einigen Orten ist die Distanz sogar noch geringer. All das stellt eine Bedrohung für Aleppo dar. Alle islamistischen Gruppen wurden in die Region gebracht. In Idlib, Cerablus, Bab und Afrin befinden sich ca. 100.000 bewaffneten Islamisten. Sie stellen eine große Bedrohung für die Region dar. Wenn Aleppo fällt, wird sich auch Damaskus nicht halten können. Um in Syrien zu siegen, müssen Syrien, der Iran und Russland Idlib zurückerobern. Sie können der Türkei an dieser Stelle also keine Zugeständnisse machen. Das Abkommen zwischen dem Iran, Syrien und der Türkei ist also mittlerweile an einen Punkt geraten, an dem es nicht mehr viel länger tragbar ist.
Wird die Türkei sich an dem Krieg in Idlib beteiligen? Wenn ja, was wären mögliche Szenarien?
Die Türkei beansprucht das Gebiet von Idlib bis Cerablus als eigene Einflusszone. In diesem Gebiet halten sich Ableger von al-Nusra und al-Qaida auf, die international als ‚Terrororganisationen‘ gelistet werden und dementsprechend über keinerlei Legitimität verfügen. In Idlib wird es auf jeden Fall zu einem Krieg kommen. Sollte die Türkei sich daran beteiligen, wird sich der Krieg deutlich intensiver gestalten. Wenn die Staaten sich direkt und aktiv an dem Krieg beteiligen, wird es schwer sein, ihn unter Kontrolle zu halten und die Ereignisse werden unvorhergesehene Folgen mit sich bringen. In dem Fall, dass die Türkei sich nicht am Krieg beteiligt, werden Russland, der Iran und das syrische Regime zuallererst Tahrir Al-Sham bekämpfen wollen. Bis Tahrir Al-Sham zerschlagen ist, wird man eine direkte Konfrontation mit der Türkei in Bezug auf Efrîn und Cerablus vermeiden. Doch sobald diese Gruppe nicht mehr existiert, wird man die Frage von Efrîn, Cerablus und Bab wieder auf die Tagesordnung setzen. Das steht schon lange fest. Zuerst wurden in vier Regionen Waffenstillstände verkündet. Alle islamistischen Gruppen aus Gebieten, die das Regime eroberte, wurden dann nach Idlib gebracht. Jetzt ist es realistisch, Idlib zurückzuerobern. Die Türkei würde dann die restlichen islamistischen Gruppen in ihre Einflussgebiete zurückziehen. Doch die Türkei weiß auch, dass sie im Falle ihrer Niederlage in Idlib über keinerlei Einfluss mehr in Syrien verfügen wird.
Mächte, die angesichts der Menschenrechtsverbrechen in Efrîn schweigen, warnen nun vor den humanitären Folgen einer Idlib-Operation. Wie bewerten Sie diesen Doppelstandard?
Die Türkei warnt derzeit vor den Folgen für Zivilistinnen und Zivilisten, spricht von humanitärer Hilfe und beklagt das absehbare Grauen. Doch als die Türkei selbst Efrîn angriff, war Efrîn eine stabile und ruhige Region. Aus allen Teilen Syriens waren Menschen nach Efrîn geflohen und lebten dort in Sicherheit. Die Türkei griff Efrîn trotzdem an, verübte Massaker, besetzte die Region und beachtete dabei die Menschenrechte nicht im Geringsten. Auch die internationalen Mächte blieben weitgehend still. Efrîn stellt für die USA und Russland noch immer einzig und allein einen Verhandlungsgegenstand dar.
Wie die Beziehungen der USA und der Internationalen Koalition zu den Gruppen in Idlib aussehen, ist eine ganz andere Frage. Zweifellos bestehen Kontakte, doch wahrscheinlich nicht auf höchster Ebene. Die Position der USA in Idlib hängt eher mit der türkischen Position zusammen.
Inwiefern?
Die USA könnte versuchen, sich hinter die Türkei zu stellen und auf diesem Weg eine neue Phase in Syrien einzuleiten. Denn es ist keineswegs sicher, dass ein Angriff des Regimes auf Idlib auch von Erfolg gekrönt sein wird. Davon sollte man nicht ausgehen. Das Regime verfügt nicht wirklich über viel Kraft. Die islamistischen Gruppen, die dem Regime gegenüberstehen und zu denen auch die von der Türkei unterstützten Gruppen zählen, besitzen durchaus Kraft. Die Idlib-Operation ist aus Sicht des Regimes also durchaus mit Risiken verbunden. Das bedeutet, dass im Falle einer Niederlage des Regimes in Idlib eine völlig neue Phase in Syrien beginnen könnte. Vielleicht würde sogar eine Wende stattfinden. Wenn die Türkei sich mit all ihrer Kraft hinter die islamistischen Gruppen in Idlib stellt, könnte dies die ganze Situation in der Region verändern.
Möchte die USA den Spielraum Russlands, des Irans und des Regimes einengen, indem sie sich deutlich hinter die Türkei stellt?
Das ist durchaus möglich. Daher lohnt es sich über diese Szenarien nachzudenken. Die USA und Europa werden versuchen, den Krieg in Idlib zu nutzen, um ihre eigenen politischen Ziele zu verfolgen. Der Kriegsverlauf wird zeigen, ob und wie die jeweiligen politischen Ziele sich tatsächlich umsetzen lassen.
Die Türkei verfolgte in Syrien von Anfang an eine eigene Politik und eigene Ziele. Nach der Niederlage des IS in Kobane verlor die Türkei ihren Status als einflussreichen Akteur in dem Land. Die Türkei ist seither nicht mehr in der Lage, eigene politische Ziele in Syrien zu verfolgen. Vielmehr rennt das Land den Ereignissen in Syrien hinterher. Daher ist es auch schwer abzusehen, was genau in Idlib passieren wird. Die Türkei ist in gewisser Weise eine Getriebene der Situation in Idlib. Die türkische Politik verfolgt nur noch das Ziel zu verhindern, dass die Kurdinnen und Kurden sich Errungenschaften sichern. Sie kreist einzig und allein um dieses Ziel. Großartig anderweitige oder alternative politische Ziele verfolgt sie nicht. Deshalb taumelt die Türkei angesichts der Entwicklungen in Syrien mal in die eine und mal in die andere Richtung. Mal nähert sie sich den USA an, nur um plötzlich wieder die Nähe zu Russland und dem Iran zu suchen.
Die USA könnten auch versucht sein, die Türkei nicht sonderlich zu unterstützen und von Russland zu fordern, dass der Iran in Syrien geschwächt wird. Es ist durchaus möglich, dass die USA Syrien den Russen überlassen. Dafür würden die Amerikaner aber Zugeständnisse in Bezug auf den Iran und die Ukraine fordern. All dies könnte im Rahmen des Ringens um die weltweite Hegemonie stattfinden. Dessen müssen wir uns bewusst sein.
Wie wird die anstehende Idlib-Operation Efrîn und die türkische Präsenz in dem Kanton beeinflussen?
Die Entwicklungen in Efrîn hängen in gewisser Weise von dem Verlauf der Idlib-Operation ab. Die Widersprüche bezüglich Idlib zwischen Russland, dem Regime und dem Iran auf der einen Seite und der Türkei auf der anderen Seite werden zunehmen. Das wird günstigerer Voraussetzungen für die Ausweitung des Widerstandes in Idlib mit sich bringen. Die Türkei würde sich als Gegenleistung für Idlib auf die Region zwischen Efrîn, Cerablus und Şehba konzentrieren. Diese Lösung wäre aber nur vorübergehend. Eines ist sicher: Syrien und der Iran wollen die Türkei vollständig aus Syrien verdrängen. Wenn die Türkei aus Idlib vertrieben ist, wird es auch möglich sein, sie in Bezug auf Orte wie Efrîn und Cerablus unter Druck zu setzen. Wenn die türkische Politik in Idlib eine Niederlage erfährt, wird es der Türkei sowieso nicht möglich sein, ihre Ziele in Efrîn und den anderen Regionen Syriens durchzusetzen. All das bietet günstige Voraussetzungen für die Kräfte aus Efrîn. Ohne Zweifel sehen die Kräfte Nordsyriens diese Möglichkeiten und unternehmen dementsprechende Maßnahmen.