Hozat: „Die türkische Regierung verfolgt einen umfassenden Plan“

„Die Haltung der USA lässt sich folgendermaßen beschreiben: Nein zu Abdullah Öcalan und der PKK. Ja zu den durch den Freiheitskampf erschaffenen Werten, solange sie den US-Interessen nutzen“, erklärt die KCK-Vorsitzende Besê Hozat im Interview.

Die Ko-Vorsitzende des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), Besê Hozat, hat sich in einem Interview mit der Tageszeitung „Yeni Özgür Politika“ zu den Hintergründen der türkischen Invasion in Südkurdistan, der Rolle der USA und der NATO, der Situation in Şengal und der Debatte um mögliche Neuwahlen in der Türkei geäußert. Nachfolgend veröffentlichen wir Teil zwei des Interviews.

Die Türkei scheint derzeit von dem Krieg in der Ukraine zu profitieren. Ist es möglich, dass die Türkei ihren Angriff auf Südkurdistan zu solch einem Zeitpunkt unabhängig von den USA begonnen hat?

In dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine hat die Türkei klar auf Seiten der NATO Position bezogen. Erdoğan hatte bereits zuvor ein politische Kehrtwende eingeleitet, um die Unterstützung der USA und Europas für seine Völkermordpolitik gegen die Kurden zu gewinnen und seine Macht zu sichern. Er bemüht sich seit geraumer Zeit intensiv darum, die Beziehungen zu Israel, den Golfstaaten, Ägypten, Griechenland und Armenien zu verbessern. Auch seine Beziehungen zur Ukraine hielt er stets intakt. Erdoğan hat der Ukraine umfassende Waffenlieferungen zur Verfügung gestellt, insbesondere bewaffnete und unbewaffnete Drohnen. Vor dem Krieg in der Ukraine stellten beide Länder gemeinsam Drohnen her. Auch wenn Erdoğan von Zeit zu Zeit positive Signale in Richtung Russland sendet, um das bestehende Gleichgewicht zu erhalten, hat er sich stets daran orientiert, gemäß der Interessen der USA und der NATO zu handeln. Seine jüngste Entscheidung, den türkischen Luftraum für Russland zu sperren, war eine logische Folge seiner Nähe zur NATO. Erdoğan beabsichtigt, auf diese Weise noch mehr Unterstützung seitens der USA und NATO für seine Völkermordpolitik gegen die Kurden zu gewinnen. Er geht davon aus, dass Russland sich um die Aufrechterhaltung seiner Beziehung zur Türkei bemühen wird, da es sich aktuell großem Druck und schweren Angriffen ausgesetzt sieht. Erdoğan versucht in diesem Kontext von seinen Beziehungen zu Russland zu profitieren. Er benutzt die geostrategische Position der Türkei, um von den USA und Russland zu profitieren, die beide der Position der Türkei große Bedeutung beimessen. In diesem Zuge hat er den Genozid an den Kurden und seine Besatzungsangriffe deutlich verstärkt. Es ist offensichtlich, dass der jüngst begonnene Angriff auf [die südkurdische Region] Zap im Rahmen dieser politischen Konjunktur erfolgt ist.

Die USA und Europa haben bisher keinerlei Haltung gegen diese Besatzung bezogen. Genau die Kräfte, die Russland der Besatzung eines anderen Landes beschuldigen und sich in riesiger Empörung darüber üben, haben nicht ein einziges Wort zur Besatzung und den Völkermordangriffen des türkischen Staates zu sagen. Diejenigen, die die von Russland ausgeführte Besatzung verurteilen, stellen sich taub und stumm gegenüber der Besatzung und den Völkermordangriffen der Türkei. Wir kritisieren diese verlogene und schmutzige Politik der USA und Europas aufs Schärfste. Mit ihrer aktuellen Haltung machen sich die USA und Europa mitverantwortlich für den Genozid am kurdischen Volk und begehen Menschenrechtsverbrechen. Die türkische Armee setzt in Kurdistan chemische Waffen ein. Der Einsatz von Chemiewaffen stellt ein Kriegsverbrechen dar. Während Biden fordert, Putin in Den Haag vor Gericht zu stellen, schweigt er zum türkischen Einsatz von Chemiewaffen gegen das kurdische Volk. Warum schweigen Sie zu dem Einsatz chemischer Waffen durch den türkischen Staat? An alle, die sich an diesem Völkermord beteiligen, wird sich die Menschheit nur voller Verachtung erinnern.

Genauso wie die Besatzungsangriffe auf Rojava mit der Zustimmung der USA erfolgten, findet heute auch die Besatzung Südkurdistans mit US-Zustimmung statt. Die USA verfolgen dabei zwei Ziele. Erstens möchten sie mithilfe des NATO-Mitglieds Türkei ihre Präsenz und Interessen in der Region sichern, ihren Einfluss vor Ort vergrößern und auf diese Weise ihre Iran-, Mittelost- und Zentralasienpolitik möglichst problemlos umsetzen. Der zweite und letztendlich entscheidende Grund für diese Politik liegt in dem Ziel der USA, den Einfluss der Freiheitsbewegung Kurdistans zu brechen. Durch die Fortsetzung des Internationalen Komplotts versuchen die USA, die Führung unserer Freiheitsbewegung auszuschalten und die durch diesen Kampf erschaffenen Werte in den Dienst ihrer eigenen Interessen zu stellen. Die Haltung der USA lässt sich folgendermaßen beschreiben: ,Nein zu Rêber Apo [Abdullah Öcalan] und der PKK. Ja zu den durch den Freiheitskampf erschaffenen Werten, solange sie den US-Interessen nutzen.` Das Schweigen der USA zu den Völkermordangriffen des türkischen Staates ist ein Ergebnis der US-Unterstützung für eben diese Politik. Wenn die USA möchten, können sie den irakischen Luftraum für die Türkei sperren. Denn der Luftraum des Iraks wird mit Erlaubnis der USA benutzt. Der Irak handelt nicht unabhängig von den USA. Die USA haben den irakischen Luftraum für die türkischen Kriegsflugzeuge geöffnet.

Die irakische Regierung hat eine Mauer entlang der Grenze zur Rojava errichten lassen. Jüngst kam es auch zur Verlegung irakischer Truppen samt schwerer Waffen nach Şengal. Da wären also zum einen die neu errichtete Mauer und zum anderen die Versuche, die YBŞ und YJŞ [Widerstands- und Fraueneinheiten Şengals] zu entwaffnen. Wie bewerten Sie diese Entwicklungen?

Es existieren keinerlei Probleme zwischen der irakischen Bevölkerung und der ezidischen Gemeinschaft bzw. Şengal. Nur die Kadhimi-Regierung hat ein Problem mit Şengal. Aufgrund ihrer Beziehungen zur Türkei, den USA und der PDK nimmt die Kadhimi-Regierung gegenüber Şengal eine aggressive Haltung ein. In gewisser Weise greift sie im Namen der Türkei und PDK Şengal an. Kadhimi erfüllt damit seine Versprechen, die er der Türkei und PDK gegeben hat. Ohne die Zustimmung der Türkei und PDK könnte die Kadhimi-Regierung niemals eine Mauer entlang der Grenze zwischen Şengal und Rojava errichten oder dort Stacheldrahtsperren installieren. Die Unterbrechung der Verbindung zwischen Şengal und Rojava würde zweifelsfrei einer Umzingelung Şengals und Rojavas gleich kommen. Die Belagerung Şengals wird auf Betreiben der Türkei und der PDK durchgesetzt. Es gibt Berichte darüber, dass selbst die für die Errichtung der Mauer notwendigen Betonblöcke und alle weiteren Materialien von der Türkei zur Verfügung gestellt wurden und auch die PDK Unterstützung geleistet hat. Diese Mauer ist somit eine Fortsetzung der Mauer, die die Türkei entlang ihrer Grenze zu Rojava errichtet hat. Der Umstand, dass die Angriffe Kadhimis auf Şengal zeitgleich mit den Besatzungsangriffen der Türkei auf Zap erfolgten, lässt vermuten, dass all dies auf der Grundlage gemeinsamer Pläne mit der Türkei und PDK geschehen ist. Auf diese Weise verschafft Kadhimi den Angriffe des türkischen Staates auf Südkurdistan Legitimität und versucht zugleich Druck auf die Verwaltung Şengals auszuüben und deren Willen zu brechen, um die Bevölkerung Şengals, deren [interne Sicherheitskräfte] Asayîş und die YBŞ/YJŞ zur Kapitulation zu zwingen.

Die Türkei und die PDK versuchen Feindschaft zwischen dem Irak und den Eziden zu stiften. Diese Politik hat jedoch keinerlei Nutzen für den Irak und Kadhimi. Die Eziden gegen den Irak feindlich zu stimmen, bringt dem Land rein gar nichts, sondern fügt ihm massiven Schaden zu. Das ezidische Volk gehört zu den am stärksten unterdrückten Gemeinschaften der Menschheitsgeschichte. Es hat bereits 74 Genozide erlitten. Zu dem letzten dieser Genozide kam es, als die irakische Armee und die Peschmerga [im Jahr 2014] Şengal dem Islamischen Staat [IS] überließen. Der Irak und die PDK haben sich den Ezidinnen und Eziden gegenüber schuldig gemacht und müssen daher Selbstkritik leisten. Die irakische Regierung und die PDK müssen zunächst einmal Rechenschaft für den letzten Genozid an den Eziden ablegen. Sie müssen die ezidischen Forderungen auf Grundlage der irakischen Verfassung und einer demokratischen Grundhaltung ernst nehmen. Die angemessenste Selbstkritik des Iraks gegenüber den Ezidinnen und Eziden besteht darin, die Autonomieverwaltung Şengals offiziell anzuerkennen.

Warum sollte es dem Irak schaden, wenn Şengal von einem Volksrat verwaltet wird und dieser Volksrat über eigene Sicherheitskräfte verfügt? Dies würde das Ansehen des Iraks deutlich vergrößern und die Demokratie und Einheit des Landes stärken. Die Anerkennung der aktuellen Verwaltung Şengals ist zudem eine logische Notwendigkeit, die sich aus der irakischen Verfassung ergibt. Die Verfassung gibt allen religiösen und ethnischen Gemeinschaften im Irak das Recht, sich selbst zu verwalten. Dieses Recht wird eindeutig durch die irakische Verfassung garantiert. Wenn der irakische Staat und die Kadhimi-Regierung diese Garantien der Verfassung in die Praxis umsetzen und die Selbstverwaltung Şengals anerkennen, werden sie die Unterstützung und den Respekt der ezidischen Gemeinschaft gewinnen und damit deutlich an Stärke gewinnen.

Die Bevölkerung Şengals hat auf eine sehr beeindruckende Art und Weise Haltung gegen die jüngsten Angriffe bewiesen. Für die Verteidigung ihrer Freiheit und Würde versammelte sie sich beschützend um ihre militärischen Kräfte. Diese würdevolle Haltung verdient großen Respekt. Die Frauen Şengals standen während dieses Widerstandes in vorderster Reihe und haben damit sehr bedeutungsvolle Botschaften gesendet. Solange die ezidischen Frauen diese würdevolle und von einer großen Leidenschaft für Freiheit erfüllten Haltung beibehalten, wird die ezidische Gemeinschaft Rechte und Freiheiten gewinnen und ihre Existenz und Selbstverwaltung beschützen. Diese Haltung wird auch dafür sorgen, dass die Pläne der PDK ins Leere laufen, mithilfe ihrer Spezialkriegsmethoden Şengal zu entvölkern und die Geflüchtetencamps [ezidischer Geflüchteter] für ihre eigenen Interessen zu nutzen.

Die PDK nutzt aktuell die Spannungen in Şengal, um ihre psychologische Kriegsführung zu intensivieren. Sie mobilisiert all ihre Ressourcen, um die Bevölkerung buchstäblich aus Şengal zu entführen. Seit Jahren benutzt die PDK die ezidischen Geflüchtetencamps für ihre eigenen politischen Interessen. Sie hält die Ezidinnen und Eziden in diesen Camps in Geiselhaft und benutzt sie, um von internationalen Institutionen Geld zu erhalten und bei Wahlen Stimmen für sich zu sichern. Zugleich verwandelt sie diese Camps in Waffen gegen Şengal, indem sie dort lebende ezidische Jugendliche in Form bewaffneter Gruppen organisiert.

Das ist genau dieselbe Politik, die die AKP seit Jahren in der Türkei verfolgt. Sie hat den Krieg in Syrien verschärft und die Geflüchteten aus dem Land in die Türkei gebracht. Seit Jahren betreibt sie auf dem Rücken dieser Menschen Politik. Mit ,Flüchtlingskarte´ erpresst die AKP Europa. So lässt die AKP Europa all ihre Wünsche erfüllen und erhält dafür auch noch Geld. Sie hat tausende Mitglieder islamistischer Proxykräfte in diesen Camps organisiert und in dem Krieg gegen die Kurden eingesetzt. Die PDK hat diese Politik von der AKP gelernt, mit der sie kollaboriert. Seit Jahren nutzt die PDK die ezidischen Camps als politisches Druckmittel gegen den Irak und viele andere Länder auf der Welt.

Seit geraumer Zeit benutzt die PDK die ezidische Identität von Viyan Daxil und hat sie zu einem Teil ihres Spezialkrieges gemacht. Viyan Daxil sollte sich nicht auf so eine einfache Art und Weise benutzen lassen. Sie sollte nicht ihre eigene Gesellschaft und ihre Werte beleidigen, nur um die kollaborierende PDK zufrieden zu stellen. Auch Hoşyar Zebari, eines der schmutzigsten Mitglieder der PDK, scheint seinen eigenen Verrat völlig vergessen zu haben und greift in jüngster Zeit immer wieder die Eziden an. Wir vertrauen auf die Gerechtigkeit und das Gewissen, die die Menschheitsgeschichte prägen. Es wird definitiv der Tag kommen, an dem Hoşyar Zebari und all die Anderen gegenüber der ezidischen Gemeinschaft und dem kurdischen Volk Rechenschaft ablegen werden.

Die AKP hatte ursprünglich vor, nach einem Erfolg der Gare-Operation [im Februar 2021] vorgezogene Neuwahlen durchzuführen. Nun hat sie einen neuen Besatzungskrieg gestartet. Die Möglichkeit vorgezogener Neuwahlen [in der Türkei] wird weiterhin lebhaft diskutiert. Glauben Sie, dass es tatsächlich dazu kommen wird?

Die Türkei befindet sich bereits seit längerer Zeit im Wahlkampf. Doch die Entwicklungen im Land zielen nicht nur auf Wahlen ab. Die Wahlen sind vielmehr Teil eines umfassenden Planes. Der Plan besteht darin, den Völkermord an den Kurden zum Abschluss zu bringen, um dann den AKP/MHP-Faschismus zu institutionalisieren und auf eine verfassungsrechtliche Basis zu stellen. Deshalb werden die für 2023 geplanten Wahlen, egal ob sie nun vorzeitig stattfinden oder nicht, sehr strategisch angegangen. Ob die Wahlen ein paar Monate früher oder später stattfinden, hängt davon ab, welche Atmosphäre die faschistische AKP/MHP-Regierung für sich nutzen kann und was für Ergebnisse sie im aktuellen Krieg erreicht. Sobald diese Regierung meint, durch ihre Angriffe die erwünschten Ergebnisse erzielt zu haben, wird sie umgehend Neuwahlen durchführen. Das ist absolut klar.

Für die AKP/MHP-Regierung hat das Jahr 2023 eine äußerst historische Bedeutung. Denn in diesem Jahr jährt sich der Vertrag von Lausanne zum 100. Mal. Damit jährt sich auch die Aufspaltung Kurdistans in vier Teile und die Anerkennung der Verleugnungs- und Vernichtungspolitik gegen das kurdische Volk. Zugleich markiert das Jahr 2023 den 100. Jahrestag der Gründung des völkermörderischen, kolonialistischen und faschistischen türkischen Nationalstaatssystems. Die AKP/MHP-Regierung beabsichtigt, am 100. Jahrestag von Lausanne und der Republiksgründung die Freiheitsbewegung Kurdistans zu zerschlagen, um den Völkermord an den Kurdinnen und Kurden zum Abschluss zu bringen. Sie träumt davon, dieses Ziel zu erreichen, um in der Folge die Wahlen zu gewinnen und mithilfe einer auf eine faschistische Diktatur zugeschnittenen neuen Verfassung das kolonialistische türkische Nationalstaatssystem auf lange Zeit zu sichern. Aus diesem Grund unterscheiden sich der Charakter und die Ziele der kommenden Wahlen sehr stark von den vergangenen Wahlen.

Der Angriff auf die Zap-Region, den die Besatzerarmee am 14. April aus der Luft und am 17. April auch vom Boden aus gestartet hat, ist das entscheidendste Glied dieses sehr umfassenden Planes. Das Ziel dieses Angriffes besteht in der endgültigen Zerschlagung der Freiheitsbewegung Kurdistans und der vollständigen Annexion Südkurdistans und Rojavas.

 


Teil 3: „Das faschistische Regime ist durch nichts zu retten“