Hacı Erdemir: Die Grüne Linkspartei organisatorisch weiterentwickeln

Hacı Erdemir, Vorstandsmitglied der Grünen Linkspartei (YSP), erläutert im ANF-Interview den Erneuerungsprozess der kurdischen politischen Bewegung in der Türkei durch eine organisierte Diskussion an der Basis.

Nach den Wahlen in der Türkei und Nordkurdistan hat die Grüne Linkspartei (YSP) eine intensive Zeit der Analyse, Debatte, Kritik und Selbstkritik angekündigt. Hacı Erdemir, Mitglied des Parteirats, hat sich im ANF-Interview zu diesem Prozess geäußert.

Es wurde angekündigt, dass HDP und YSP in der nächsten Zeit verschiedene Aktivitäten an der Basis durchführen werden. Ist dieser Prozess bereits angelaufen? Was sind die Planungen?

Der Evaluierungsprozess geht entsprechend der von unseren Parteigremien herausgegebenen Agenda weiter. Wir haben diesen Prozess unter Beteiligung unserer Parteiorganisation, der Zivilgesellschaft, der demokratischen Institutionen und der Bevölkerung gestartet. In dieser Hinsicht existiert bereits ein konkreter Arbeitsplan. Die Erneuerung auf Basis von Kritik und Selbstkritik ist Teil unserer politischen Tradition. Es ist für uns lebensnotwendig, dass dies kontinuierlich entsprechend dem Bedarf praktiziert wird. Je nach Ergebnissen der Versammlungen ergeben sich neue Anforderungen, um den Prozess so effizient und fruchtbar wie möglich zu gestalten. Wir sind dabei, neue Mechanismen entsprechend den Anforderungen zu entwickeln und zusätzliche Versammlungen und Aktivitäten vorzubereiten. Die Versammlungen mit unseren demokratischen Institutionen auf Kreis- und Provinzebene vor dem Opferfest stellten einen sehr produktiven Start dar, sowohl hinsichtlich der Beteiligung als auch der Kritik, Selbstkritik, Kommentare und Bewertungen. Es fanden umfassende Diskussionen über den durchlaufenen Prozess sowie über Probleme, Mängel und Unzulänglichkeiten statt. Dabei wurde die Debatte nicht auf den Wahlprozess beschränkt, es wurde auch der politische, soziologische und historische Hintergrund einbezogen. Aus den Bewertungen wurden sehr wichtige Erkenntnisse gewonnen und vor allem ist eine Lösungsperspektive entstanden.

Ausgehend von den Erkenntnissen und Bedürfnissen, die in der ersten Phase der Treffen deutlich geworden sind, werden wir nun in einem zweiten Schritt mit öffentlichen Versammlungen beginnen. Vom 10. bis 25. Juli werden in allen Provinzen und Bezirken, in denen wir organisiert sind, umfangreiche Versammlungen mit breiter Beteiligung stattfinden. Wir werden den Menschen in jedem Dorf, jedem Viertel und jeder Straße, die wir erreichen können, zuhören und ihre Kritik, Meinungen und Vorschläge entgegennehmen. Bei den bisherigen Treffen haben wir erkannt, dass es viele Bereiche gibt, die wir aufgrund des intensiven Kampfes gegen den Faschismus vernachlässigt haben, die wir nicht ausreichend berücksichtigt haben und in denen wir den Anforderungen nicht gerecht geworden sind. Es gibt auch Defizite in der Vermittlung unserer Ideen und der Erläuterung unserer strategischen und taktischen Schritte. Insbesondere wurden die Mechanismen zur Einbindung der Bevölkerung nicht optimal genutzt und es gab Mängel und Verletzungen in Bezug auf die Rechte der einzelnen Komponenten bei der Organisierungsarbeit.

Was waren die wichtigsten Themen in Ihren Gesprächen mit den Provinz- und Bezirksorganisationen nach den Wahlen?

Bei den Gesprächen gab es sowohl von unseren Organisationsstrukturen als auch von Parteimitgliedern und der Bevölkerung Anregungen, unsere Strategie, Organisation und Politik eingehender zu diskutieren.

Wir werden nun die Entwicklungen der letzten sieben bis acht Jahre in der Türkei und Kurdistan anhand der Ergebnisse der letzten Wahlen bewerten. Es ist geplant, in vielen Städten ein- oder zweitägige Workshops und Arbeitstreffen zu verschiedenen Themen abzuhalten, darunter unsere Vorstellungen vom Recht der Identitäten und Komponenten, die Funktion und Aufgaben interner Gremien, unsere politische Expansions- und Bündnisstrategie, unsere Art der Politikgestaltung und unser Organisationsmodell. Neben unseren Organisationen und der Basis planen wir, Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft, insbesondere Intellektuelle, Schriftsteller:innen, Akademiker:innen und Vertreter:innen von zivilgesellschaftlichen Organisationen, zu diesen Workshops einzuladen. Dabei wird es sowohl um die Bewertung der vergangenen Periode als auch um Ideen und Vorschläge für unsere Politik in der kommenden Zeit gehen.

Bei den bisherigen Treffen gab es viele wertvolle Kritiken, Vorschläge und Bewertungen. Die Ideen und Vorschläge, die aus den öffentlichen Sitzungen, Workshops und geplanten Arbeitstreffen hervorgehen, werden schriftlich festgehalten und auf Abschlusskonferenzen in Istanbul und Amed (tr. Diyarbakır) präsentiert werden. Durch diese Konferenzen wird der Prozess auf regionaler Ebene weitgehend abgeschlossen und unsere Agenda für die neue politische Phase weitgehend festgelegt sein. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Diskussions- und Erneuerungsprozess für uns dann abgeschlossen ist. Als politische Tradition liegt es in unserer Kultur und unserem Erbe, kontinuierlich zu diskutieren, uns zu erneuern und voranzuschreiten. Diesen Prozess der Diskussion, Kritik und Selbstkritik werden wir durch Kongresse weiter vertiefen. Die Kongresse sind ein Mittel der Kritik und Selbstkritik, der Erneuerung und Stärkung. Wir werden in diesem Prozess sowohl unsere bestehenden Organisationen stärken als auch neue Gremien gründen, um uns auf die Kommunalwahlen im nächsten Jahr vorzubereiten.

Wie werden HDP und YSP bei den Kongressen zusammenkommen und auf der Grundlage welcher Partei wird es weitergehen?

Die HDP befindet sich unter den bedeutendsten Parteien unserer politischen Tradition. Trotz all ihrer Unzulänglichkeiten hat sie in den letzten sieben bis acht Jahren einen wichtigen Kampf gegen den Faschismus geführt. Sie war starken Angriffen ausgesetzt, und Tausende ihrer Führungskräfte und Mitglieder, insbesondere die ehemaligen Ko-Vorsitzenden, befinden sich immer noch im Gefängnis. Dennoch hat sie den Kampf nicht aufgegeben. Das Schließungsverfahren gegen die HDP ist weiterhin im Gange. Es ist schwierig vorherzusagen, wie das Verfahren enden wird, da selbst die letzten Überreste der Demokratie, die unter der Regierung der AKP/MHP existierten, nun ausgelöscht wurden. Die Entscheidung der HDP, gegen die Angriffe des Faschismus und das Verbotsverfahren zu kämpfen, ist richtig und angemessen. Auch als YSP werden wir weiterhin gegen die Schließung der HDP kämpfen, da wir ein Teil von ihr sind. Die Frage einer Parteienfusion sollte vom Parteivorstand entschieden werden, jedoch sollte die Priorität darin bestehen, den Kampf zu verstärken, um das Verbot der HDP zu verhindern. Aufgrund des Verbotsverfahrens gab es einige Nachteile und Schwierigkeiten, da die YSP bei den Wahlen antreten musste. Die Tatsache, dass wir nun sowohl die HDP als auch die YSP haben, hat sich für uns als vorteilhaft erwiesen. Wir werden die Grüne Linkspartei organisatorisch weiterentwickeln und gleichzeitig gegen die Schließung der HDP kämpfen. Daher steht eine Fusion, die die Auflösung der Rechtspersönlichkeit einer Partei erfordern würde, nicht auf unserer Agenda. Nach Abschluss des Diskussionsprozesses wird die YSP an der Kongressvorbereitung teilnehmen. Natürlich wird sich die Position der YSP als Teil der HDP verändern. Auf dem Kongress wird sie entsprechend den Erfordernissen der Veränderung neu organisiert sein.

Werden Sie sich in der nächsten Zeit neben den Volksversammlungen auch mit der Bündnispolitik und der Vorauswahl von Kandidat:innen für die Kommunalwahl beschäftigen?

Wir sind eine Partei, die auf radikaler Demokratie basiert und aus einer solchen Kultur heraus entstanden ist. Wir haben ein Erbe der radikalen Demokratie, das nicht nur in der Türkei, sondern auch auf internationaler Ebene beispielhaft ist. In der Türkei herrscht Faschismus, daher ist es wichtiger denn je, eine demokratische Kultur zu entwickeln und demokratische Entwicklungen voranzutreiben. In unserer politischen Tradition ist die direkte Beteiligung der Menschen an der Politik und an der Regierung eines der Grundprinzipien. Dafür haben wir das Modell der Volksversammlungen entwickelt, in denen sich das Volk in Dörfern, Stadtteilen, Provinzen und Bezirken selbst verwaltet. Dies ist die demokratischste Methode, denn es geht nicht nur darum, repräsentative Abgeordnete ins Parlament zu entsenden, sondern darum, dass die Menschen in allen Bereichen ihren Willen vertreten können.

Aufgrund der Angriffe des Faschismus wurden diese Mechanismen, die unsere Politik mit den Menschen vor Ort verbinden, unterbrochen. Bei den letzten Wahlen gab es aufgrund von Problemen mit den Delegierten und einem engen Zeitplan eine geringe Beteiligung bei der Vorauswahl der Kandidierenden. Das ist eines der Hauptthemen der Kritik und Bewertung in unseren Sitzungen. Wir werden die Kritik und Vorschläge berücksichtigen. Aus unserer Sicht ist keine neue Entscheidung zur Vorauswahl der Kandidat:innen durch die Bevölkerung erforderlich, da dies ohnehin bereits geschehen sollte. Was uns fehlt und was wir selbstkritisch diskutieren müssen, ist, dass wir die Mechanismen dafür nicht ausreichend aufgebaut und genutzt haben. Sowohl im laufenden Diskussionsprozess als auch im Rahmen der Kongresse werden wir die notwendigen Mechanismen für erfolgreiche Vorwahlen vollständig entwickeln. Unsere zuständigen Ausschüsse arbeiten an diesem Thema.

Der Aspekt Ihrer Frage bezüglich der Bündnispolitik erfordert eine ganz andere Diskussion. Die HDP und die YSP sind heute Bündnisparteien. Mit anderen Worten, sie sind Parteien, die aus verschiedenen Allianzen bestehen. Es geht darum, sich den linken, sozialistischen und demokratischen Überzeugungen sowie den verschiedenen Identitäten und den Arbeiter:innen in der Türkei zu öffnen und die Isolations- und Marginalisierungspolitik gegenüber den Kurd:innen zu überwinden. Dies ist eine Strategie, die, wenn sie wie in der Anfangsphase der HDP auf der richtigen Grundlage umgesetzt wird, zu bedeutenden Ergebnissen führt. Ziel ist es, dass die Partei in allen Provinzen und Bezirken der Türkei Stimmen gewinnt, eine organisatorische Basis schafft und letztendlich die Regierung in der Türkei übernimmt. Es wäre nicht richtig, sie nur aufgrund einiger Vorkommnisse bei den letzten Wahlen zu bewerten. Darüber hinaus ist unsere Bündnispolitik ein Bereich, den wir in Zukunft analysieren werden. Wir werden die Mängel und Unzulänglichkeiten der strategischen und taktischen Schritte identifizieren und sie neu gestalten.

Es heißt, die HDP habe bei den letzten Wahlen ihre Fähigkeit eingebüßt, die Politik in der Türkei zu beeinflussen. Was werden Sie gegen diese Wahrnehmung unternehmen?

Die HDP und die YSP sind Teil einer Tradition, die über die Politik der Türkei hinausgeht. Ihre bestimmende Rolle in der Politik wird nicht nur durch Wahlen gewonnen oder verloren. Diese Entschlossenheit wurde durch die Teilnahme an einem epischen Kampf erreicht, der mit großen Opfern einherging und die Schaffung großer Werte zur Folge hatte. Wir sind die einzige Partei, die die Idee, das Programm und die Lösungsvision hat, um die Probleme der Völker zu lösen. Dafür kämpfen wir unter heftigen Angriffen aller Parteien und des Staates. Sowohl die Regierung als auch die Opposition schöpfen aus der offiziellen Ideologie. Ein bedeutender Teil dieser Angriffe wird zweifellos von Zentren für psychologische Kriegsführung durchgeführt. Die Behauptung, dass die HDP/YSP ihre führende Position in der Politik verloren hat, ist nicht realistisch; stattdessen spiegelt sie die Wünsche der Strategen des Spezialkriegs wider. Die erfolgreichen Wahlergebnisse vom 7. Juni 2015 sind ein Hauptargument für den Plan, den Völkermord an den Kurd:innen zu vollenden und das demokratische Umfeld und die verschiedenen Identitäten in der Türkei auszulöschen. Die monopolisierten Medien sind ständig bemüht, eine solche Wahrnehmung zu erzeugen. Die Behauptung, dass die HDP/YSP ihren Einfluss verloren hat, entspricht nicht der Realität.

Wir sind die Bewahrer:innen eines Erbes, das jeden Fehler zu einem Anlass für Erneuerung, Erfolg und Sieg macht. Im Kampf gegen die Propaganda des Faschismus werden wir noch mehr Menschen erreichen und organisieren und Öffentlichkeitsarbeit leisten. Ein Teil unseres Prozesses der Kritik und Selbstkritik besteht darin, sowohl die Politik der Repression, Festnahmen und Verhaftungen als auch die Methoden des Spezialkriegs durch Organisierungsarbeit an der Basis zu neutralisieren. In diesem Zusammenhang werden wir uns verstärkt auf die direkte Organisierungsarbeit konzentrieren, die uns bisher gefehlt hat.