Gutachten von Pro Asyl dokumentiert Rechtlosigkeit in der Türkei

In der Türkei wird Strafverfolgung häufig dazu eingesetzt, für das Erdoğan-Regime unliebsames politisches Handeln zu bestrafen. Das bestätigt auch ein Gutachten der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl.

Aushebelung der Justiz unter Erdoğans Ägide

Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl setzt sich ein für den Schutz von Flüchtlingen in Deutschland und Europa. Der Förderverein der Frankfurter Organisation hat jetzt ein wissenschaftliches Gutachten „Zur Lage der Justiz in der Türkei. Rechtsunsicherheit in Strafverfahren mit politischem Bezug“ veröffentlicht. Die umfangreiche und unabhängige Dokumentation beschäftigt sich mit dem Zustand der türkischen Strafjustiz. Der Schwerpunkt liegt auf den inflationären und als willkürlich wahrgenommenen Anklagen wegen „Terrorismus“, mit denen der türkische Staat missliebiges politisches Handeln zu verhindern versucht.

Kurd:innen am häufigsten von „Terrorismusvorwürfen“ konfrontiert

Die Autor:innen des Gutachtens sind zwei Rechtswissenschaftler:innen. Sie haben Anwält:innen in der Türkei interviewt, Urteile türkischer Gerichte und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ausgewertet und kommen zu dem Fazit: „Strafverfahren wegen entsprechender Vorwürfe verlaufen nicht rechtsstaatlich. Betroffene Personen haben keine Möglichkeit, dem mit Mitteln des Rechts effektiv zu begegnen. […] Im Vergleich zu den 1990er und 2000er Jahren hat sich die („versteckte“) politisch motivierte Anwendung von Strafverfahren, insbesondere von Terrorismusgesetzen, zwar auch auf andere Gruppen als Kurden und Linke ausgeweitet, doch sind Kurden heute mehr als jede andere Gruppe dem Risiko ausgesetzt, zur Zielscheibe politischer Strafverfahren zu werden und wegen terrorismusbezogener Straftaten angeklagt zu werden.“

Türkische Justiz nicht unabhängig

Das Gutachten weist nach, dass Unabhängigkeit, Unparteilichkeit sowie die Wahrung von Verfahrensrechten im türkischen Justizsystem nicht gegeben sind. Das sollte vor allem deutsche Gerichte interessieren, die sich in ihren Bewertungen immer noch zu oft auf eine unterstellte Rechtsstaatlichkeit türkischer Justiz berufen. Die für mehrere Bereiche dokumentierte Aushebelung des Rechts in der Türkei dürfte auch relevant sein im Hinblick auf die sogenannte Verfolgungsermächtigung. Sie sieht bekanntlich eine strafrechtliche Verfolgung dann als gerechtfertigt an, wenn gegen „die Grundwerte einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung“ verstoßen wird. Deutsche Richter:innen unterstellen in Verfahren gegen kurdische Aktivist:innen regelmäßig, der türkische Staat sei eine solche, die Würde des Menschen achtende staatliche Ordnung und somit ein „taugliches Schutzgut“ im Sinne des §129b StGB. Anwält:innen bezweifeln dies schon lange, doch bisher wurden ihre Einwände immer ignoriert.

Gutachten muss für BAMF Konsequenzen haben

Auch für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) müsste das Gutachten Konsequenzen haben bei Entscheidungen über Asylanträge. Kein politisch Verfolgter kann in der Türkei mit einem rechtsstaatlichen Verfahren rechnen. Das betrifft vor allem schutzsuchende Kurd:innen, deren Schutzquote noch immer weit unterhalb derer von türkischen Antragsstellenden liegt, die jedoch am meisten von ausufernden Anschuldigungen wegen „Terrorismus“ betroffen sind.

„Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht!“

Derzeit liefert sich in Deutschland die Ampelregierung bei der Abwehr von Migrant:innen mit Rechtspopulisten und Neo-Faschisten einen Wettbewerb in Sachen Menschenfeindlichkeit und Rassismus. Im neuen „Sicherheitspaket“ von Innenministerin Nancy Faeser (SPD) werden Grundrechte in Frage gestellt und europäisches Recht ausgehebelt. Ein Blick in die Türkei zeigt, wie schnell der Umbau zum Unrechtsstaat gehen kann. Die Erinnerung an Berthold Brecht mahnt: „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht!“