Geschichte der Frauen und Völker wieder ans Licht holen

Die Jineologie-Forscherin und Journalistin Gönül Kaya beschreibt das kulturelle Erbe Rojavas und plädiert dafür, die eigenen Wurzeln wiederzufinden.

Vom Jahr 2001 bis heute erleben die Völker von Afghanistan bis nach Syrien und Mesopotamien eine massive Phase von Massakern und Zerstörungen. Wir werden Zeug*innen des letzten Gliedes in der Kette der Kriege, Plünderungen, Besatzungen und Massaker durch die Kräfte der 5.000 Jahre alten staatlichen Zivilisation. In diese Phase wurde von Mosul bis Şengal, von Serêkaniyê bis Kobanê, von Palmyra bis Efrîn ein großes kulturelles Erbe vernichtet.

Die Menschheit und insbesondere die Kultur der Zivilisation, die sich um die Frauen herum gebildet hat, ihr Leben und ihre materiellen Hinterlassenschaften sind mit einem gewaltigen Angriff konfrontiert, gegen den sie einen massiven Widerstand leisten. Heute lauten die Namen dieser Angreifer IS oder al-Nusra, es handelt sich jedoch auch um Staaten wie die Türkei.

Unsichtbare Geschichte

Wenn wir die Geschichtswissenschaft betrachten, sehen wir, dass den Errungenschaften und geschaffenen Werte der vom herrschenden Diskurs marginalisierten ethnischen Gruppen und den Frauen bisher nicht ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Insbesondere die Schöpfungen und Erfindungen von Frauen wurden in der Geschichtswissenschaft nie beachtet und unsichtbar gemacht. In den überlieferten Schriften und Kommentaren werden Frauen höchstens am Rande und nicht prominent dargestellt. Die herrschende Beziehungsmentalität und der daraus folgende sexistische Blick sind in diesem Kontext wirksam und bezeichnend. Funde, Objekte und Dokumente, die der Annahme widersprechen, dass die historischen Werte und Erfindungen von Männern geschaffen wurden, werden weder ausreichend geschützt, noch untersucht oder interpretiert. Aus diesem Grund sind die Objekte, das kulturelle Erbe und die Grabungsstätten, die Beweise für eine um die Frau herum geschaffene Zivilisation, Gesellschaft, Kultur, Moral und Politik bieten, bedauerlicherweise heute mit der Gefahr ihrer Zerstörung konfrontiert.

Die Politikwissenschaftlerin, Akademikerin und Autorin aus der Türkei, Fatmagül Berktay, sagt zu diesem Thema folgendes: „Seit der Erfindung der Schrift – der Technik der Speicherung von Wissen – vom alten Mesopotamien bis heute, gilt den Priestern, Palastgeschichtsschreibern oder ausgebildeten Akademiker*innen immer nur das, was Männer geschaffen und erlebt haben, als ‚von historischer Bedeutung’, ‚wert aufzuzeichnen’, während die Erfahrungen von Frauen immer noch marginalisiert werden. Diejenigen die aus der Geschichte verdrängt und marginalisiert werden, sind natürlich nicht nur die Frauen, es handelt sich um alle Unterdrückten, die Sklav*innen, die Dorfbewohner*innen, die Proletarier*innen, die nicht-Weißen und andere. Sie wurden immer zu bestimmten Zeiten aus der Geschichte verdrängt.”

Menschen auf der Suche nach der Wahrheit

Wir sind davon überzeugt, dass man die Geschichte nicht als eine „erlebte und abgeschlossene” Vergangenheit bezeichnen kann. Wir haben im 21. Jahrhundert wachsende soziale, ökologische, politische und gesellschaftlich-ökonomische Probleme. Das Entscheidendste ist, dass wir ein Freiheits- und Demokratiedefizit haben. Wir sind Menschen, die auf der Suche nach einer Lösung für diese Probleme sind. Um eine Lösung für die heutigen Probleme zu finden, ist es von immenser Bedeutung zu ihren Wurzeln hinabzusteigen, sie zu hinterfragen und sie zu erforschen. Das wird uns dorthin bringen, die Geschichte besser zu verstehen und zu analysieren. Geschichte ist nicht die Summe abgeschlossener Ereignisse. Sie geht bis heute weiter und in diesem Zusammenhang ist das Wort von Abdullah Öcalan, „Die Geschichte ist heute und wir sind am Beginn der Geschichte verborgen”, von großer Bedeutung.

Wir sind Menschen auf der Suche nach Wahrheit. Wir wissen, dass die hegemonialen Kräfte unsere Suche nach Wahrheit behindern. Wir wissen auch, dass es in der herrschenden Mentalität liegt, die Geschichte mit sich beginnen und mit sich enden zu lassen. Die Verleugnung der Existenz von Kulturen und Zivilisationen vor ihnen ist das Fundament ihrer eigenen Existenz. Sie versuchen, uns dazu zu bringen zu akzeptieren, dass die Frauen, die Menschen jenseits der 5.000-jährigen Geschichte keine Zivilisation erschaffen hätten und, selbst wenn es sie gegeben hätte, sie nicht mehr existiere und längst abgeschlossene Vergangenheit sei.

Das herrschende System zielt darauf ab, die Region, die es mit Plünderungen, Besetzungen, Raub, kurz gesagt, einer Kriegskultur unter ihre Herrschaft gebracht hat, durch Verleugnung und Vernichtung der Geschichte und der Kultur der Menschen oder zumindest durch deren Transformation zu beherrschen. Die Herrschenden akzeptieren nichts, was eine vor ihnen liegende gesellschaftliche Realität repräsentiert oder auch nur daran erinnert. Denn allein die Existenz von solchen Symbolen legt die fehlende Basis dieser Herrschaft offen und stellt sie so in Frage. Sie müssen sich selbst immer mit einem Vorher vergleichen. Deshalb soll alles, was sich auf ein Vorher stützt, ausgelöscht werden. So kann eine Akzeptanz für das eigene System leichter vermittelt werden. Eine Bevölkerung, deren historisches Bewusstsein enteignet wurde, deren Gedächtnis gelöscht wurde, kann wesentlich leichter regiert werden.

Verdrehung historischer Wahrheiten als Herrschaftssicherung

Die Kräfte der staatlichen Zivilisation messen daher der historisch-kulturellen Verwüstung eine besondere Bedeutung zu. Die historischen Wahrheiten zu verdrehen, ist eine Herrschaftstechnik. Die Herrschenden stellen sich selbst als Schöpfer der Reichtümer der Natur, der materiellen Reichtümer und des Lebens dar und versuchen sich selbst an den Anfang von Allem zu setzen. Sie bemühen sich darum, dass nichts im Namen der Völker und der Geschichte klassenloser Zivilisationen ohne Ausbeutung geschrieben wird. So versuchen sie auch, das um die Frauen herum entwickelte System von Freiheit und Gleichheit vergessen zu machen. In diesem Sinne ist es wichtig, das folgende Zitat genau zu lesen: „Mit einer falschen Geschichte kann man nicht richtig leben. Diejenigen, die ihre eigene Freiheitsgeschichte nicht schreiben können, können nicht frei leben.”

Die Plünderung und Verwüstung des kulturellen Erbes muss als eine Form des Kolonialismus verstanden werden. Kultureller Kolonialismus wird heute durch die Vernichtung der Geschichte praktiziert.

Heute gibt es viele Völker, die der Gefahr der kulturellen Vernichtung gegenüberstehen. Die Kurden, die Eziden, die Armenier, die Suryoye, die lokalen Völker in den Amerikas, die Stämme in Afrika und Asien sind nur einige Beispiele. Die von diesen Völkern geschaffenen Gesellschaftssysteme ohne Staat werden in der heutigen Welt nicht vertreten. Diese Gesellschaften befinden sich de facto im Visier des Genozids.

Spuren des Neolithikums in Mesopotamien

In Mesopotamien gibt es eine zivilisatorische Realität, deren Wurzeln bis in die Zeitalter des Neolithikums zurückreichen. Diese Wirklichkeit dauert in der Lebensform, der Sprache, im gesellschaftlichen Leben, in den sozialen Beziehungen und in der Architektur fort. Die Geschichte der Frauen, der Völker und der Kulturen der Region liegt also nicht nur unter der Erde, auch ihre Quellen in der Gesellschaft und ihrer Performanz sind von Plünderung und Vernichtung bedroht. Eine dieser Gesellschaften ist die kurdische Gesellschaft. In dieser Gesellschaft lebt die matrizentrische neolithische Kultur und Zivilisation auf verschiedene Weise fort. Die kurdische Gesellschaft ist jedoch heute einer kulturellen Vernichtung ausgesetzt.

Die Staaten, die Kurdistan besetzt haben, stehen der Geschichte vor ihnen selbst feindlich gegenüber. Insbesondere um die kurdische Identität zu vernichten, wurden viele historische Werte ausgelöscht. Der kurdische Historiker Hışyar Serdi schrieb in den 1930er Jahren in seinem Buch „Perspektiven und Erinnerungen” Beispiele dieser Politik des türkischen Staates nieder: Serdi berichtet von vielen historischen Orten in Kurdistan, die von türkischen Beamten mit Spezialauftrag dem Erdboden gleich gemacht wurden. So erzählt er über den Beamten Abidin Özmen: „Er berichtet davon, dass an der Stadtmauer von Diyarbakir ein Steinobjekt, das vom kurdischen Dostki-Staat früher angebracht worden war, herausgerissen wurde und verschwunden sei, dass an einer Brücke bei Batman eine kurdische Inschrift gelöscht und die alten Inschriften und Figuren in der Biqlin-Höhle am Tigris vernichtet worden sind. Das Ziel des türkischen Staates dabei war, die Verleugnungspolitik gegenüber dem kurdischen Volk zu stärken. So sollte die Existenz eines der ältesten Völker der Region verleugnet und ausgelöscht werden. Alle historischen Inschriften und Objekte, welche die Existenz dieses Volkes belegen, sollten in diesem Sinne vernichtet werden. Auf diese Weise sollten die Menschen zu der Annahme gebracht werden, dass hier niemals ein Volk, das sich Kurden nannte, gelebt hat‘.”

Auslöschung der Frauenkultur

Heute wird diese Politik durch den IS, durch al-Qaida, al-Nusra und den türkischen Staat in Palmyra, Mosul, Şengal, Serêkaniyê, Kobanê und Efrîn fortgesetzt. Diese Angriffe richten sich gegen die Existenz und die Geschichte der Kurden und in diesem Sinne auch gegen die heute weiter bestehende kommunale Lebenskultur. Es sollen wieder einmal die Belege für eine Zivilisation, in der es eine Frauenkultur und Gleichberechtigung gab, vernichtet werden. Die Situation im Mittleren Osten und insbesondere in Mesopotamien und Syrien ist ein Ausdruck davon. In den letzten sieben Kriegsjahren erlitten die Werte der jahrtausendealten natürlichen, kommunalen Gesellschaft und die Objekte, die ihr kulturelles Erbe darstellen, schwerste Schäden. Man wollte die Spuren der in dieser Region lebenden neolithischen Zivilisation auslöschen und die eigene patriarchale Zivilisation der Region aufzwingen und diese institutionalisieren. Ein Beispiel dafür sind die Angriffe auf Şengal, wo die Keimzellen der kommunalen Kultur vernichtet werden sollten und dazu insbesondere die Frauen als ihre Vertreterinnen und Trägerinnen angegriffen wurden.

Die Vereinten Nationen (UN) verurteilten in ihrer Resolution 2347 die Zerstörung kulturellen Erbes durch terroristische Gruppen und bewerteten die Angriffe des IS und von al-Nusra auf das kulturelle Erbe als Kriegsverbrechen. Sie riefen zur Verfolgung und Verurteilung derjenigen aus, die Gebäude und Orte von historischer Bedeutung, die der Bildung, Kunst, Wissenschaft oder Erholung dienen, angreifen oder zerstören oder solche Orte plündern und Objekte schmuggeln.

Der IS hat in der Bücherei von Mosul 8.000 historische Objekte, unter ihnen viele Handschriften, verbrannt. In den Städten Babylon und Ninova wurden 2.700 Jahre alte Figuren mit Vorschlaghämmern zerstört. In Aleppo und Raqqa wurden die Museen geplündert und zerstört. In der antiken Stadt Palmyra wurden schwere Zerstörungen angerichtet und der Baal-Tempel vernichtet. Solche Angriffe fanden auch in Afghanistan, Libyen, im Sudan, in Mali, im Jemen und an vielen anderen Orten statt und hier nun gegen die mesopotamische Kultur.

Es ist klar, dass diese Resolution bedeutsam ist, aber umso bedauerlicher ist es, dass die UN keinen ähnlichen Kommentar zur Vernichtung des 3.000 Jahre alten Tempels in Efrîn, Ayn Dara, durch ihren Mitgliedsstaat Türkei abgegeben hat.

Vernichtung kulturellen Erbes

Die Aufmerksamkeit gegen die Vernichtung kulturellen Erbes durch den IS und andere Terrororganisationen im Irak und Syrien ist wichtig, aber es ist von bezeichnender Inkonsequenz, dass Schweigen herrscht, wenn diese Taten von Staaten ausgeführt werden.

Den Zielen dieser Angriffe ist gemein, dass sie sich gegen die Halaf-Kultur richteten, die sich von Rojava, Kurdistan nach Mesopotamien, Anatolien und Transkaukasien ausbreitete und immer noch existiert. Diese Kultur bildet die Basis für die in der Region lebenden Völker. Das Zentrum der Halaf-Kultur liegt in Nordsyrien/Rojava in der Umgebung von Serêkaniyê.

Ab 6.000 v.u.Z. hat sich diese Kultur dort institutionalisiert. Es ist das Gebiet, in dem die sich um die Frauen entwickelnde landwirtschaftliche und dörfliche Revolution stattfand. Diese kulturelle Revolution, welche als Morgendämmerung der Menschheit bezeichnet wird, wird von den Völkern und insbesondere von den Frauen der Region am Leben gehalten. Diese Kultur existiert bis heute als eine von Frauen und der Bevölkerung getragene Widerstandskultur weiter, trotz der von Akkad bis heute praktizierten Plünderungs-, Besatzungs- und Vernichtungspolitik.

Die Tell-Halaf-Kultur ging in Form der Kurden von den Hurritern über die Gutäer, die Kassiten, Mitanni, die Urartäer und den Meder weiter. Diese Kultur hat sich als Identität geformt. Eines der wichtigsten Zentren dieser Kultur befindet sich in Êlih-Heskîf (Batman-Hasankeyf) und wird gerade durch den Ilisu-Staudamm vernichtet.

Von Tell Halaf zur demokratischen Autonomie

Am Tell Halaf wurden zwischen 1899–1927 vom deutschen Agenten und Abenteurer Max von Oppenheim und anderen Ausgräbern weitreichende Siedlungsreste gefunden. Göttinnen-Statuen, Doppelsitzbilder, Keramiken, Krüge, Becher, Siegel (die ersten Siegel kommen von dort) und Lehmhäuser warten auf eine Interpretation unter neuen Gesichtspunkten. Ausgehend von diesen Objekten können wir wichtige Verbindungen zum Modell der Demokratischen Autonomie herstellen. Wenn wir uns zum Beispiel auf das Alter der Doppelsitzbilder von etwa 3.000 Jahren eingehen und betrachten, welche Kultur von ihnen vertreten wird, dann lebt diese heute in der Demokratischen Autonomie regelrecht von Neuem auf. Wir können hier die Wurzeln des Modells des Ko-Vorsitzes in Rojava sehen. In diesem Sinne erhebt sich vor uns lebendige Geschichte. Die Freundinnen von der Jineologie versuchen die historischen Objekte in den Kontext einer soziologischen Analyse zu stellen. Es geht darum, die Verbindungen der Vergangenheit mit der Gegenwart sichtbar zu machen. In diesem Sinne wird deutlich, dass das auf der Basis der gesellschaftlichen Strukturen in Rojava im Aufbau befindliche System der Demokratischen Autonomie kein Zufall ist, sondern über historische Wurzeln verfügt und auch die Angriffe auf dieses Modell ein historisches Ziel verfolgen.

Die Kultur von Tell Halaf repräsentiert die matrizentrische Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die heute in den Dörfern in Cizîrê, Serêkaniyê, Kobanê und Efrîn weiterlebt. In Dörfern, die noch nicht vom System der staatlichen Zivilisation infiziert wurden, wird das Leben auf ökologischer Grundlage aufgebaut. Dies ist in weiten Siedlungsgebieten sichtbar. Heute noch sind es in diesen Regionen die Frauen, welche die Produktivkraft darstellen. Die Göttinnen, die sich aus der Tell-Halaf-Kultur entwickelten, Ninhursag, Star, Ischtar, Kubaba, Kybele, Hepat, Isis, Aphrodite und Inanna leben heute noch im Verborgenen.

So existierte zum Beispiel in den Jahren um 1.300 v.u.Z. die Karkamisch-Zivilisation in Kobanê. Fruchtbarkeitssymbol und Stadtgöttin war die Göttin Kubaba, die als Kybele auch im griechischen Kontext erscheint. Manche lokale Quellen sagen, dass sich der Name Kobanê von Kubaba ableitet. Bei Kobanê am Ufer der Euphrat in der Nähe von Korpingal liegt der Tell Xezal. Dort befinden sich Höhlen. Eine davon nennt die Bevölkerung Ini oder Inanna-Höhle. Diese Orte werden von der Bevölkerung immer noch als heilige Orte angesehen und für manche wichtige Rituale genutzt.

Frauenkultur in Efrîn

Viele Berge in Efrîn tragen die Namen von Frauen. Ein Beispiel ist der Stêrk (Stern). Der Stern ist das Symbol der Göttin Ischtar. Auch der zerstörte Tempel von Ayn Dara war Ischtar, der Göttin der Liebe, der Fruchtbarkeit und des Krieges geweiht.

Auch der Name der Region Cindirês in Efrîn kommt vom Begriff der Frau. Alte Frauen aus Efrîn berichten, dass das Wort „Cin” vom kurdischen „Jin” (Frau) kommt und „dires” im Kurdischen für „produzieren, herstellen” steht. Es ist bekannt, dass das Wort „Cin” auf Hurritisch Frau bedeutet. Die aus der Vergangenheit bis heute überlieferte Form des Lebens nach dem Tode dauert heute noch fort. So werden die Toten in Cindirês immer noch auf dem Cindirês-Gipfel beigesetzt und neben ihnen wird ein Webschiffchen abgelegt.

Das, was ich gesagt habe, gilt auch für die Geschichte der Stadt Minbic. Die Schutzgöttin dieser Stadt war Atargis. Atargis ist als Schutzgottheit und große Göttin in ganz Nordsyrien bekannt. Sie hält eine Ähre in ihrer Hand. Ihr Thron wird von Löwen getragen, sie wird als eine Meerjungfrau beschrieben. Ihr Symbol ist halb Fisch, halb Frau.

Auch in der Architektur der Region können wir eine Fortsetzung der Geschichte beobachten. Diese Wurzeln stellen die Grundlage der dörflichen Siedlungsweise dar. Es gibt flache runde Häuser mit dem Namen Tolos. Sie haben einen Durchmesser zwischen drei und sieben Metern. Das Fundament dieser Häuser besteht aus Stein, die Wände aus Lehm oder Ton. Auch die Toten werden auf den „Gir”, den hohen Gipfeln bestattet. Diese Hügel sind häufig auch alte Siedlungsorte, die, weil sie Friedhöfe sind, von niemandem gestört wurden.

Der Name Efrîn bedeutet auf Hurritisch Fruchtbarkeit. Eine Mutter aus Efrîn sagt, dass Efrîn von der Wurzel „afirandin, afraindin, afrat” also „schaffende, produzierende Frau“ kommt. Auch hier gibt es neun heilige Orte, deren Bezeichnungen Namen von Frauen sind, so wie Porsa Hatun oder Nebi Hurri, das Tal der Frauen oder die Höhle der Frauen. Es gibt 365 Dörfer und Siedlungen und hier gibt es immer noch eine sich auf kommunale, solidarische und kollektive Werte stützende Lebenskultur.

Im Dorf Ruta in Efrîn-Mabeta gibt eine Sprache, die nur die Frauen verstehen. Sie ist nur ein Beispiel für Frauensprachen, die wir auch aus Hewraman in Ostkurdistan und China kennen. Auf die Frage, „Wozu bracht ihr so eine Sprache?”, wird immer wieder geantwortet: „Um uns vor der Männerwelt zu schützen”.

In Efrîn leben Eziden, Aleviten, Muslime und Christen zusammen. Jede Religion lebt ihr kulturelles Erbe auf eine eigene Weise. Die orale Tradition und die Kunst sind sehr bedeutend. Es gehört dazu, dass es in jeder Familie eine Künstlerin gibt. Handarbeiten gehören immer noch zu den bedeutenden Tätigkeiten. So sind viele Menschen in Efrîn Schneiderinnen und Schneider.

Die Kultur der Göttin Ischtar

In der Kultur von Ischtar gibt es keinen ethnischen oder religiösen Monismus. Jeder Glaube, jede ethnische Kultur kann sich in der Kultur von Ischtar (Tell Halaf) wiederfinden. Mit dem Aufbau der Demokratischen Autonomie in Rojava geht diese Kultur weiter. Die Stärke der mit der Revolution in Rojava in Begriffe gefassten Demokratischen Nation entstammt dieser historischen Wurzel. Die Völker, die Unterschiedlichkeiten, die verschiedenen Religionen können auf diese Weise gemeinsam hier leben. In diesem Sinne können wir von einer Verankerung des Systems in der Geschichte sprechen. Sie macht eine gemeinsame, demokratische Kultur aus.

Die Geschichte der Göttinnenkultur wurde mit dem Widerstand kurdischer Frauen in Kobanê gegen den IS, mit dem Widerstand der arabischen, kurdischen, turkmenischen und ezidischen Frauen, die nach der Befreiung von Şengal, Minbic, Tişrin und Raqqa ihre schwarzen Vollverschleierungen abwarfen, wieder deutlich. Sie konkretisiert sich auch heute in Rojava im wiederbelebten kulturellen Erbe der Frauen im 2017 begonnenen Aufbau des Frauendorfs Jinwar. In Jinwar wird eine Organisierung in Kommunen, Räten und Kooperativen aufgebaut, die dafür sorgen wird, dass Frauen – von der Architektur bis zum ökonomischen Leben – aktiv an der Gesellschaft teilnehmen. Dieses Projekt soll die individuelle und gesellschaftliche Kraft von Frauen stärken und ist die Stimme der Göttinnenkultur, die sich heute wieder erhebt.

Unsere eigenen Wurzeln finden

Der Erhalt der Gesellschaften, deren kulturelles Erbe vernichtet wird, die Fortsetzung ihrer geistigen und materiellen Existenz stehen nicht zur Debatte. Es ist eine unabdingbare Aufgabe, den Widerstand der Völker und der Frauen gegen diese Vernichtung zu stärken. Es ist unabdingbar, dass wir die in die Abgründe der Geschichte gestoßenen kommunalen Werte ans Licht holen, unsere Wurzeln finden und unsere Geschichte im Heute leben.