Frauen im Freiheitskampf: Das Gestern und Heute von Hungerstreiks

In der März-Ausgabe der Frauenzeitung Newaya Jin schreibt die Journalistin Füsün Erdoğan, die selbst wegen Terrorvorwürfen acht Jahre in einem türkischen Gefängnis verbracht hat, über die Geschichte und Gegenwart von Hungerstreiks als Mittel des Kampfes.

Hungerstreiks und Todesfasten sind historische Mittel des Kampfes. Wenn in der heutigen Zeit dieses Kampfmittel an vielen Orten der Welt hauptsächlich von Gefangenen genutzt wird, so ist es in der Geschichte doch genauso eine generelle Aktionsform von Individuen und Gruppen gegen Ungerechtigkeiten gewesen.

Vor der Christianisierung war es ein verbreiteter Mechanismus in Irland, mit Hungerstreiks gegen Ungerechtigkeit zu protestieren. Diese „Troscadh“ oder „Cealachan“ genannte Aktion führte der oder die Betroffene direkt vor der Haustür derjenigen Person durch, die die Ungerechtigkeit verursacht hatte. Es gilt in Irland als eine große Schande für Hausbesitzer, wenn sich vor dem Haus ein hungriger Mensch befindet. Eine ähnliche Tradition existiert in Indien. Macht jemand einen Hungerstreik vor einem Haus, so bedeutet das einen Aufruf, der Gesellschaft Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und gerichtliche Mechanismen auszulösen. Diese Tradition geht zurück bis 750 v.u.Z. und wurde 1861 von den englischen Kolonialisten verboten. Unter englischen und US-amerikanischen Frauenrechts-Verfechterinnen entwickelte sich diese Aktionsform zu einer deutlichen Form, gerechte Forderungen an die Autorität, die politische Macht zu stellen.

Hungerstreiks im Kampf von Frauen um das Wahlrecht

Die 1864 in Schottland, Inverness, geborene Marion Wallace Dunlop war eine der führenden Verteidigerinnen der Frauenrechte. Dunlop war ein aktives Mitglied der für das Wahlrecht und die Gleichstellung in der Gesellschaft eintretende „Soziale und Politische Frauenunion“ (WSPU) und ist 1908 zweimal mit dem Vorwurf, die Harmonie in der Gesellschaft gestört zu haben, festgenommen und verhaftet worden. Als sie im Juli 1909 im Holloway-Gefängnis inhaftiert war und ihr gesetzlich zugesicherte Rechte vorenthalten wurden, begann sie einen Hungerstreik.

Dunlops Hungerstreik, der der erste in den Gefängnissen Englands gewesen war, dauerte 91 Stunden an. Dann wurde sie durch die englische Verwaltung wegen ihres schlechten Gesundheitszustands freigelassen. Diese Aktionsform wurde in kürzester Zeit von der WSPU als eine friedliche Protestform gegen Repression angenommen. Noch im September desselben Jahres ließ die britische Regierung ein  Gesetz zur Zwangsernährung im Hungerstreik befindlicher Gefangener vom Parlament verabschieden. Auf der Grundlage dieses Gesetzes ist 1910 die Schwester der Anführerin der englischen Frauenbewegung Emmeline Punkhurst, Mary Jane Clark, an den Gesundheitsschädigungen durch Zwangsernährung während ihres Hungerstreiks gestorben.

In den USA begann die Frauenrechtlerin Alice Paul im Kampf um das Wahlrecht für Frauen im Occoquan Workhouse, Virginia, einen Hungerstreik. Diese Aktion ging 1917 als erster Hungerstreik von Aktivistinnen mit politischer Forderung in die Geschichte ein.

Hungerstreiks in der Türkei und Nordkurdistan

In der Türkei und Nordkurdistan waren Hungerstreiks und Todesfasten von jeher Ausdruck der Aufstände gegen die Unterdrückung des Staates in den Kerkern. Nach dem Hungerstreik des Dichters Nazım Hikmet im Gefängnis wurde von PKK-Gefangenen im Kerker von Amed (Diyarbakır), dem Herzen Nordkurdistans, erstmals am 14. Juli 1982 ein unbefristeter Hungerstreik – ein sogenanntes Todesfasten – gegen die unmenschliche und entwürdigende Folter gestartet. In diesem ersten Todesfasten, welches als einer der Wendepunkte in der kurdischen Politik angesehen werden muss, verloren die führenden PKK-Kader Hayri Durmuş, Kemal Pir, Ali Çiçek und Akif Yılmaz ihr Leben. Zeugen dieser Tage sagen: „Dort fand ein Krieg des Willens statt und diesen Krieg hat das Volk zusammen mit denen, die ihren Körper eingesetzt haben, gewonnen.“

Am 11. April 1984 haben Gefangene aus Devrimci-Sol- und TIKB-Prozessen einen Hungerstreik für ein Ende des Anstaltskleidungszwangs, der Folter und die Rechte als politische Gefangene sowie soziale und menschliche Haftbedingungen begonnen. Der Hungerstreik wurden von 400 Gefangenen am 45. Tag in ein Todesfasten umgewandelt. Zwischen dem 60. und dem 70. Tag dieses Widerstandes verloren Abdullah Meral, Haydar Başbağ, Mç Fatih Öktülmüş, Hasan Telci ihr Leben. Der Hungerstreik endete insbesondere mit der Rücknahme des Anstaltskleidungszwangs endgültig im Februar 1986. An diesem Hungerstreik, an dem sich auch weibliche Gefangenen beteiligten, hatte Aysel Zehir, die in einem TIKB-Verfahren angeklagt war, als Todesfastende teilgenommen. Sie war im Zimmer des Krankenhauses an ihr Bett gekettet und lehnte jede medizinische Behandlung ab. Jedes Mal, wenn sie wieder zu Bewusstsein kam, riss sie sich die Kanülen, durch die sie ein Serum verabreicht bekam, aus dem Arm. Durch die Zwangsbehandlung ist sie dazu verurteilt, mit dem Korsakow-Syndrom zu leben.

Die Erste im Todesfasten: Ayça İdil Erkem

Während in den 1990er Jahren Hungerstreiks als Kampfmethode zur Erlangung von Rechten von unterschiedlichen oppositionellen Kreisen angewandt wurden, blieb es doch eine Hauptmethode von Gefangenen, um die Repression und Unterdrückungspolitik des Staates zu bekämpfen. An allen diesen Widerstandsaktionen nahmen Frauen zahlreich teil.

Für die Aufhebung des „Mai-Erlasses“ des unter der Koalitionsregierung von Necmettin Erbakan und Tansu Çiller amtierenden Justizministers Mehmet Ağar von 1996 wurde in 43 Gefängnissen ein unbefristeter Hungerstreik begonnen. Abgesehen von schwerkranken Gefangenen beteiligten sich alle weiblichen wie männlichen Gefangenen an dem Hungerstreik. Am 45. Tag wurde die Aktion in ein Todesfasten umgewandelt, an welchem sich 355 Gefangene, darunter viele Frauen, beteiligten. Ayça İdil Erkem war – soweit bekannt – sowohl weltweit als auch in der Türkei die erste kämpfende Frau, die ihr Leben im Todesfasten verlor. Sie starb am 68. Tag ihres Widerstandes. Ayça İdil, die sich mit ihrer Unerschrockenheit ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat, wurde zu einem Symbol des Frauenbefreiungskampfes.

Von Jahreszeiten, Jahren und Unsterblichkeit…

Gegen die Einführung von Isolationsgefängnissen, den sogenannten F-Typ-Gefängnissen, begannen Gefangene aus DHKP-C-, TKP/ML- und TKIP-Verfahren am 20. Oktober 2000 einen Hungerstreik, den sie einen Monat später in ein Todesfasten umwandelten.

Am 19. Dezember 2000 richtete der türkische Staat in den Gefängnissen ein Massaker an und transportierte die politischen Gefangenen in die F-Typ-Gefängnisse, woraufhin sich das Todesfasten ausweitete. Worin sich diese Aktion von allen vorherigen unterschied, war die Tatsache, dass sich Frauen massenhaft über Monate bis hinzu Jahren daran beteiligten. Im Rahmen dieses Todesfastens, das mit immer neuen Gruppen von 2000 bis 2007 andauerte, sind 25 Frauen gefallen. Außerhalb der Gefängnisse starben sechs Frauen, die sich an dem von TAYAD begonnenen Todesfasten beteiligten. Hunderte müssen durch die Zwangsmaßnahmen des Staates mit dem Korsakow-Syndrom leben.

Hungerstreik gegen die Isolationshaft

Am 12. September 2012 begannen 483 PKK- und PAJK-Gefangene einen Hungerstreik mit den Forderungen nach Aufhebung der Totalisolation von Abdullah Öcalan und nach freiem Gebrauch der kurdischen Sprache. Dieser Hungerstreik endete am 67. Tag mit der Erfüllung der Forderungen. Unter den 483 Hungerstreikenden war der Frauenanteil beträchtlich. Gefangene, die nach der Beendigung des Hungerstreiks in Krankenhäuser gebracht wurden, waren dort schwerwiegenden Problemen ausgesetzt. Unter anderem wurden Gefangene lange Zeit in der Nähe der Verstorbenen warten gelassen.

Nuriye Gülmen, Esra und Semih Özakça

Nach der Ausrufung des Ausnahmezustands im Jahr 2016 wurden Tausende Beschäftigte aus dem Öffentlichen Dienst entlassen. Die Akademikerin Nuriye Gülmen und der Lehrer Semih Özakça begannen daraufhin am 8. März 2017 einen Hungerstreik unter dem Slogan „Wir verlangen unsere Arbeit zurück“. Als am 75. Tag der Aktion beide verhaftet wurden, nahm eine weitere Pädagogin, Esra Özakça, den Hungerstreik auf. Sie brach ihren Hungerstreik am 70. Tag wegen Herzproblemen ab. Nuriye Gülmen und Semih Özakça beendeten ihre Aktion am 26. Januar 2018, dem 324.Tag ihres Hungerstreiks.

Eine Frau auf den Spuren des 14. Juli: Leyla

Leyla Güven nahm die Spur derjenigen auf, die am 14. Juli 1982 im Kerker von Amed ihren Hungerstreik begannen, als sie am 7. November 2018 während ihrer Gerichtsverhandlung erklärte, dass sie für die Durchbrechung der Isolation des Repräsentanten des kurdischen Volkes, Abdullah Öcalan, in einen unbefristeten Hungerstreik tritt!

Einmal mehr hat die Geschichte den Frauen die Mission der Führerschaft auferlegt und Leyla hatte dies mit sich selbst ausgemacht, niemandem in ihrer Umgebung von ihrem Entschluss berichtet und am Verhandlungstag die Hand gehoben.

Als Kurdin aus Zentralanatolien wurde sie 1964 in Konya (Cihanbeyli, Yapalı) geboren. Weil die Familie es so wollte, wurde sie mit 17 Jahren mit ihrem Cousin verheiratet. Die Ehe hielt fünf Jahre. Nach der Scheidung verließ sie mit ihren beiden Kindern Deutschland und ging zurück in die Heimat. Nachdem sie ihre Kinder großgezogen und sich selbst eine Existenz aufgebaut hatte, widmete sie ihre gesamte Zeit der politischen Arbeit und wurde 1999 Abgeordneten-Kandidatin von Konya. 2001 ging sie nach Ankara und übernahm die Leitung der Frauen-Strukturen in der HADEP-Zentrale. Als Mitglied des Parteirates hat sie dieses Amt bis 2004 ausgeübt.

Bei den Kommunalwahlen 2004 wurde sie zur Bürgermeisterin der Gemeinde Küçük Dikili im Kreis Seyhan bei Adana gewählt. Nach fünf Jahren als Bürgermeisterin in der Gemeinde wurde sie bei den Kommunalwahlen 2009 zur Bürgermeisterin der Kreisstadt Wêranşar (ViranşehirI in der Provinz Riha (Urfa) gewählt. Nach acht Monaten im Amt wurde sie im Rahmen des „KCK Operation“ genannten politischen Vernichtungsfeldzugs verhaftet. Zusammen mit Tausenden Politikerinnen und Politikern wurde sie fünf Jahre im Gefängnis von Amed gefangen gehalten. Zu den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 kandidierte sie in Riha erneut für die HDP und wurde zur Abgeordneten des Türkischen Nationalparlaments gewählt. Bei den von Erdoğan willkürlich ausgerufenen und unter großem Repressionsdruck stattfindenden Neuwahlen am 1. November 2015 wurde sie nicht wieder gewählt. Ihre Frauen- und anderen politischen Arbeiten hat Leyla Güven jedoch zu keiner Zeit ausgesetzt und so wurde sie am 26. März 2015 auf dem außerordentlichen Kongress des DTK (Demokratischer Gesellschaftskongress) zur Ko-Vorsitzenden gewählt.

Weil Leyla eine Erklärung gegen den Besatzungsangriff des türkischen Staates auf Efrîn abgegeben hat, wurde sie in Amed festgenommen und am 31. Januar 2018 erneut verhaftet. Nach Jahren des Kampfes und Widerstandes war ihr bewusst, dass diese Dynamik sie Schritt für Schritt in Richtung Freiheit bringen würde: „Die Identität einer sich organisierenden, institutionalisierenden, kämpfenden Frau ist in Kurdistan dank der Freiheitsideen Abdullah Öcalans entstanden. Deshalb habe auch ich mich als Kurdin darin wiedergefunden, meinen Willen gestärkt und mir diese Identität angeeignet.“ Genau darin liegt Ursprung ihres Geheimnisses, für die Durchbrechung der Totalisolation in einen Hungerstreik zu treten, begründet. 

Leylas Widerstand ist überall

Leylas Widerstand hat sich von den Gefängnissen in der Türkei und Nordkurdistan auf Europa, den Mittleren Osten und Kurdistan ausgeweitet. Als erste haben PKK- und PAJK-Gefangene in neun Gefängnissen in der Türkei und Nordkurdistan am 16. Dezember 2018 den unbefristeten Hungerstreik begonnen. Von den 40 Gefangenen dieser ersten Gruppe waren zwölf Frauen. Bereits in den Folgetagen haben sich diese Zahlen vervielfacht und die Aktion wuchs auf 300 Personen an.

Um Leylas Widerstand in Europa und der Welt Gehör zu verschaffen, begannen am 17. Dezember 2018 in Straßburg 14 Menschen, darunter eine ehemalige Abgeordnete, Akademiker, eine Journalistin und Politiker einen unbefristeten Hungerstreik und wurden zum Zentrum der in Europa stattfindenden Aktionen.

Am 65. Tag von Leylas Widerstand ließ der türkische Staat den Repräsentanten des kurdischen Volkes, Abdullah Öcalan, mit seinem Bruder Mehmet Öcalan sprechen. Da der Staat derlei Spielchen anwandte, anstatt auf die Forderung der sich im Hungerstreik befindlichen Gefangenen einzugehen, konnte er damit weder Leyla noch die anderen Hungerstreikenden überzeugen.

Leyla hatte zu Beginn ihrer Aktion „bis zur Durchbrechung der Isolation“ gesagt und die Isolation dauert an. Am 79. Tag ihrer Aktion, dem 25. Januar 2019, wurde Leyla in ihrer Gerichtsverhandlung urplötzlich freigelassen, was als Versuch des Staates, den Hungerstreik zu brechen, in die Geschichte einging. An dem Tag ruhten alle Augen auf Leyla und Leyla hat ein weiteres Mal erklärt, dass sie ihre Aktion fortsetzt. Leyla ist entschlossen ihre Aktion fortzusetzen, bis blinde Augen wieder sehen, taube Ohren wieder hören können, bis die Isolation Öcalans aufgehoben wird.

Als Leyla ihre Aktion startete, befanden wir uns in der ersten November-Woche, die Jahreszeit wechselte, der Winter kam, es vergingen Tage, Monate… der Januar war zu Ende, der Februar zur Hälfte. In den Tagen, in denen ich das hier schreibe, wurde Leyla ins Krankenhaus eingeliefert (98. Tag); da sie eine Behandlung ablehnte, wurde sie wieder nach Hause gebracht. Ihr Körper leistet mit jeder Zelle Widerstand gegen den Hunger. Ihre Tochter Sabiha betont, dass ihre Mutter „für das Leben und Leben lassen“ diesen Hungerstreik durchführt.

Während Leyla in Amed mit jeder Zelle ihres Körpers Widerstand leistet, Hunderte Gefangene in den Kerkern, Nasır Yağız in Erbil, Imam Şiş in Galler, 14 Aktivistinnen und Aktivisten in Straßburg, Yusu Iba in Kanada, Toronto, Sebahat Tuncel und Selma Irmak im Gefängnis Kandıra, Fadile Tok, Mitglied des Frauenrates Iştar in Mexmûr, Widerstand leisten, ist es unsere Aufgabe draußen, den Widerstand zu verbreitern.