Seit dem 9. Oktober führt die türkische Armee gemeinsam mit ihren dschihadistischen Verbündeten einen Angriffskrieg gegen Nordsyrien. Die völkerrechtswidrige Invasion beinhaltet schwere Luftangriffe vor allem in den Regionen Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) sowie Bombardierungen und Beschuss mit schweren Waffen entlang der gesamten Grenze, einschließlich der Städte Dêrik, Rimelan, Qamişlo, Amûdê, Dirbêsiyê, Serêkaniyê, Girê Spî, Kobanê, Minbic (Manbidsch) und Ain Issa. Trotz der Ankündigung der Türkei, dass sich die Angriffe nicht gegen die Zivilbevölkerung richteten, berichten alle offiziellen Stellen über die Gefährdung und Verletzung des zivilen Lebens.
Der folgende Bericht des Kampagnen-Komitees von „Women Defend Rojava“ und des kurdischen Frauendachverbands Kongreya Star dokumentiert die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung nach vier Kriegstagen bis einschließlich 12. Oktober:
Angriffe auf zivile Infrastruktur
Luftangriffe und Angriffe am Boden haben wichtige zivile Infrastruktur getroffen. Es werden Angriffe auf Wasserpumpwerke, Bäckereien, Kirchen, Dämme, Kraftwerke und Ölfelder gemeldet. Am 9. Oktober traf ein türkischer Luftangriff die Hauptwasserversorgungsstation im Gebiet von Allouk im Bezirk Hesekê (al-Hassakah). Infolgedessen floss Berichten zufolge kein Wasser mehr aus der Versorgungsstation. 500.000 Menschen, die von dieser Wasserstation abhängig sind, wird der Zugang zu sauberem Wasser verwehrt. Die Wasserknappheit betrifft auch die Krankenhäuser in der Region. Es wird berichtet, dass Krankenhäuser nur mit begrenzter Versorgung betrieben werden. In Qamişlo wurde eine Brotfabrik von der türkischen Armee beschossen. Am 12. Oktober bombardierte die türkische Armee ein Weizenlager in Qamişlo, im Stadtteil Qinat El-Siwês. Das Krankenhaus von Serêkaniyê wurde aufgrund von Angriffen in der Umgebung evakuiert. Am 12. Oktober wurde die Traumastation der Hilfsorganisation Kurdischer Roter Halbmond (Heyva Sor a Kurd) südlich von Serêkaniyê getroffen. Rettungswagen der Organisation, die sich in Serêkaniyê oder aus der Stadt hinaus bewegt haben, wurden gezielt angegriffen. Die Straßen der Stadt Serêkaniyê werden von türkischen Scharfschützen und Granaten beschossen. In Rimelan wurde die Kraftstoffversorgung getroffen. Die türkische Armee zielte mit schweren Waffen auf die assyrische Marienkirche im Dorf Tal Djihane, nordwestlich von Tirbespiyê/Al-Qahtaniyya.
Vertreibung von Zivilisten
Seit Beginn der Angriffe ist eine große Anzahl von Menschen aus den betroffenen Gebieten geflohen, ohne während der Dauer der Angriffe einen sicheren Zufluchtsort finden zu können. Die Straßen Nord- und Ostsyriens sind voll von Menschen, die vor den Angriffen fliehen. Am Grenzübergang Semalka haben sich viele Geflüchtete gesammelt, die versuchen, in die kurdische Region des Nordirak zu gelangen. Die Artillerie- und Luftangriffe auf Girê Spî und Serêkaniyê haben zur Zwangsvertreibung der gesamten Zivilbevölkerung in diesen Regionen geführt. Am 11. Oktober wurden die ZivilistInnen aus der Stadt Girê Spî vollständig evakuiert. Mindestens ein Dorf in der Region Dêrik wurde ebenfalls evakuiert. Allein in den ersten beiden Tagen des Konflikts sind nach Angaben des Human Needs Assessment Programms der Vereinten Nationen 191.069 Menschen vertrieben worden – mittlerweile übersteigt die Anzahl wahrscheinlich 200.000.Die meisten Vertriebenen sind nach Ain Issa, Raqqa, Til Temir oder Hesekê geflohen. Das Flüchtlingslager Mabruka nahe Serêkaniyê, in dem 3.776 Vertriebene untergebracht waren (63 Prozent davon Kinder) wurde evakuiert und die Menschen in das Lager Areesha, südlich von Hesekê, gebracht. Humanitäre Organisationen und NGOs, die in Nord- und Ostsyrien tätig sind, haben Personal abgezogen. Dies bedroht die Versorgung überall dort, wo sie aktiv waren, und die lokalen Organisationen werden stärker belastet. Im Lager al-Hol, in dem Zehntausende von IS-Kämpfern und Familien festgehalten werden, wurde ebenfalls Personal abgezogen.
Zivile Verluste
Es gibt Berichte über direkte Angriffe auf ZivilistInnen, wie z.B. dem Beschuss einer friedlichen Demonstration in Girê Spî am 10. Oktober. Auf gleiche Weise wurde ein Konvoi mit ZivilistInnen und Regierungsbeamten auf der Straße zwischen Girê Spî und Raqqa beschossen. Fliehende, teils verwundete ZivilistInnen wurden von türkischen Scharfschützen beschossen, als sie sich von Serêkaniyê aus auf dem Weg nach Hesekê befanden. Das größte christliche Viertel in Qamişlo (Bisheriya) wurde 17 Mal mit schweren Waffen beschossen. Durch die Angriffe wurden zwei christliche ZivilistInnen getötet und Häuser in Brand gesteckt. In Qamişlo wurde ein syrisches christliches Paar, Fady Habsula und Juliette Negola, getötet. In Serêkaniyê wurde ein christlicher Zivilist sowie ein weiterer Zivilist getötet. Zwei weitere wurden verletzt. Dörfer um Tirbespiyê, in denen syrische ChristInnen und JesidInnen leben, wurden von der türkischen Armee beschossen. Die Stadt Girê Spî, in der die Bevölkerung mehrheitlich arabisch-sunnitisch ist, war das Ziel schwerer Angriffe der Türkei. Havrin Khalaf, die Ko-Vorsitzende der Zukunftspartei Syriens (FSP), wurde bei einem gezielten Angriff durch die sogenannte „Türkische Freie Syrische Armee“ (TFSA) getötet. Der Fahrer, der sie begleitete, wurde ebenfalls getötet. Die türkische Tageszeitung Yeni Şafak erklärte daraufhin, dass Havrin Khalaf „bei einer erfolgreichen Operation neutralisiert“ worden sei.
Menschenrechtsverletzungen in der türkisch besetzten Region Afrin
Im Januar 2018 begann die türkische Armee mit ihrem völkerrechtswidrigen Einmarsch in Afrin. So wie die derzeit angegriffenen Gebiete war auch Afrin Teil der Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens. Gemeinsam mit verbündeten dschihadistischen Gruppen drang die türkische Armee in Afrin ein und besetzte es. Es wurden schwere Menschenrechtsverletzungen an ZivilistInnen dokumentiert, die an die Verstöße der aktuellen Situation erinnern. So wurden beispielsweise die gezielten Bombardierungen der Trinkwasserversorgung und ziviler Konvois in Afrin ausführlich dokumentiert. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte führt die andauernde türkische Besatzung in Afrin immer noch zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Es gibt Berichte über Plünderungen, systematische Formen von Folter, Entführungen, sexuelle Versklavung von Frauen, Lösegeldforderungen und Mord durch protürkische Kräfte. Die Anzahl der Menschen, die durch die türkische Invasion und Besatzung vertrieben wurden, wird auf etwa 110.000 geschätzt. Bisher leben sie unter schwersten Bedingungen in Lagern in der Region Shehba, wo ebenso Angriffe dokumentiert worden sind, die durch von der Türkei unterstützte dschihadistische Gruppen durchgeführt wurden.