Welche Ziele verfolgt die Türkei mit ihrem Angriffskrieg?
Factsheet des Kurdischen Zentrums für Öffentlichkeitsarbeit – Civaka Azad zum Angriffskrieg der Türkei gegen Nordsyrien/Rojava.
Factsheet des Kurdischen Zentrums für Öffentlichkeitsarbeit – Civaka Azad zum Angriffskrieg der Türkei gegen Nordsyrien/Rojava.
Das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit – Civaka Azad beleuchtet in einem Dossier die Hintergründe des seit dem 9. Oktober von der türkischen Armee und ihren dschihadistischen Verbündeten geführten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Nordsyrien/Rojava:
In der heißen Wahlkampfphase der wiederholten Istanbul-Wahlen fasste der AKP-Bürgermeisterkandidat Binali Yildirim Mitte Juni dieses Jahres die Frage der syrischen Geflüchteten wie folgt zusammen: „Wir haben die Operation in Afrin durchgeführt. Nun haben wir einen Teil der syrischen Geflüchteten dorthin geschickt. Knapp 500.000 Syrer sind dorthin gegangen. Jetzt werden wir eine Operation im Osten des Euphrat durchführen, die Region dort bereinigen und den Rest dorthin schicken.“ Die AKP versucht, diese als innenpolitisches Problem wahrgenommene Angelegenheit mit einem außenpolitischen Anliegen zu verknüpfen: dem Interventionsbestreben in Nordsyrien.
Wenn wir das Vorhaben Erdogans verstehen wollen, genügt ein Blick auf die seit März 2018 von der Türkei besetzte Provinz Efrîn. Auch dort ließ der türkische Staatschef Syrerinnen und Syrer ansiedeln. Zuvor vertrieb er erst einmal die eigentliche Bevölkerung der Region. Während hunderttausende Kurdinnen und Kurden aus Efrîn ihre Heimat hinter sich lassen mussten und bis heute unter schwierigsten Bedingungen in der Region Shehba ausharren, siedelte der türkische Staat mit ihm kooperierende islamistische Milizen und ihre Familienangehörigen in der Provinz Efrîn an. Die dortigen Einwohner, die bis heute versuchen, in ihrer Heimat zu bleiben, sind immer wieder Opfer von Entführungen, Raubüberfällen oder Vergewaltigungen. Die Urheber dieser Verbrechen sind türkeitreue Milizen, die aus Aleppo, Idlib und anderen Regionen abgezogen und in Efrîn stationiert wurden. Ein solches Vorgehen nennt man eine ethnische Säuberung und einen kulturellen Genozid.
Mit der nun laufenden Militäroperation „Quelle des Friedens“ versucht die Türkei ihr Vorgehen von Efrîn in noch größerem Ausmaß zu wiederholen. Um drei Millionen Syrerinnen und Syrer in der Region anzusiedeln, sollen wohl ebenso viele Menschen vertrieben werden. So plant die Türkei mithilfe einer ethnischen Säuberung im Norden Syriens die „Lösung der Flüchtlingsfrage“. Zudem widerspricht das Projekt der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens den Interessen der Türkei in einem zukünftigen Syrien. Schließlich haben die Kurdinnen und Kurden darin neben anderen gesellschaftlichen Gruppen eine weitgehende Selbstverwaltung und Selbstbestimmung erreicht.
Neben der kurdischen Frage in der Türkei, bezweckt die Erdogan-Regierung auch andere innenpolitische Ziele und Konflikte mittels Krieg und Besatzung anzugehen: Zum einen gilt es, die in den letzten Monaten entstandene Annäherung der Oppositionsparteien zu unterminieren, zum anderen soll von der krisengeschüttelten wirtschaftlichen Lage abgelenkt werden. Beides dürfte Erdogan dank nationalistischer Einstellungen weiter Teile der Gesellschaft und aller großen Parteien – mit Ausnahme der HDP – zunächst gelungen sein.
Welche Haltung hat die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyriens?
Zunächst einmal muss darauf hingewiesen werden, dass die Vereinbarung über die Grenzsicherheit, die zwischen der Türkei auf der einen Seite und den USA sowie den nordsyrischen Akteuren andererseits erzielt wurde, nur von kurzer Dauer war und die Türkei nicht daran hinderte, Nordsyrien anzugreifen. Das Abkommen über die Grenzsicherung war ein Entgegenkommen aufgrund der sogenannten Sicherheitsinteressen der Türkei, obwohl bis zu dem Zeitpunkt keine konkrete Gefahr von Nordsyrien ausging und immer unterstrichen wurde, man wolle eine friedliche Nachbarschaft mit der Türkei.
Noch einen Tag vor dem Beginn der Besatzungsoperation am 9. Oktober erklärte die Autonome Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien ihre Bereitschaft zum Dialog mit folgenden Worten: „Wir bekräftigen erneut, dass es hier um die Einheit von Syrien und der Gesellschaft geht. Wir werden unsere Bevölkerung vor allen Arten von Angriffen schützen. Alle beteiligten Parteien, also Russland, das syrische Regime, die internationale Koalition, die EU, die UN und alle Kräfte, die Erdoğan zu seinem Angriff dadurch ermutigt haben, indem sie die Teilnahme der Selbstverwaltung am Verfassungskomitee in Syrien verhinderten, sollten nun eine klare Haltung beziehen. Das erwarten wir von ihnen. Die Angriffe des türkischen Staates werden zur Zerstörung und zu einer humanitären Krise in der Region führen. Die ganze Welt wird dafür verantwortlich sein.“ Die Autonomieverwaltung betonte, dass sie sich weiterhin für die „Suche nach einem Dialog zur Erzielung von Verhandlungslösungen“ einsetzen werde.
Die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) erklärten darüber hinaus, dass die Türkei vor den Augen der Weltöffentlichkeit einen Genozid an der Bevölkerung Nordsyriens verüben will und man deshalb das Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch nehme. Darüber hinaus wurde die internationale Koalition umgehend zur Erfüllung ihrer Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen angehalten, wobei die Schaffung einer Flugverbotszone für türkische Kriegsflugzeuge im Zentrum stand.
Diverse politische Vertreter der Demokratische Föderation Nord- und Ostsyriens warnten zudem vor einem Wiedererstarken des Islamischen Staates durch die Besatzungsoperation der Türkei. Bereits in den Regionen Qamişlo und Hesekê habe sich der IS wieder reaktiviert. Damit stehe man nun vor zwei Fronten, dem türkischen Staat und dem IS.
Was ist die „Nationale Armee Syriens“, die gemeinsam mit dem türkischen Militär die Besatzungsoperation durchführt?
Die Türkei führt ihren wiederholten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg mit diversen islamistisch-jihadistischen Söldnern durch, die sie unter dem Banner der „Nationalen Armee Syriens“ zusammengezogen hat. Viele dieser auch im Efrîn-Krieg eingesetzten Kämpfer dieser Einheiten entstammen aus der Al-Qaida, dem IS oder den ehemaligen Einheiten der oppositionellen Freien Syrischen Armee. Die Freie Syrische Armee wurde nach dem Beginn des Bürgerkriegs sehr bald von islamistischen Kräften und ausländischen Staaten vereinnahmt. Die folgenden Gruppen, von denen einige als Terrorgruppen aufgelistet sind, bilden die sogenannte Nationale Armee Syriens:
Ahrar al-Sham, Jaish al-Islam, Suqhur al-Sham, First Coastal Division, Liva Selam, Jaish al-Sani, Jaish al-Nasir, Free Idlib Army, Suwar al-Jazeera, 51st Brigade, Firqa Shimal, Jaish al-Ahfad, Jaish al-Sharkiyya, Firqa Mutassim, Jabhat’us Shamiyye, 5th Regiment, Liwa asl Shimal, Muntassir Billah Brigade, Festakin Kema Umirte, Jaish al-Islam, Liwa Sultan Osman, Rical el-Harb, Liwa al-Awwal Magavir, Fevc al-Mustafa, 9th Division, 23rd Division, Semerkand Brigade, Fatih Sultan Mehmet Brigade, al-Wakkas Brigade, Hamza Division, Sultan Murad Brigade, Liwa al-Fatih, Liwa Shukur al-Shimal, Ahrar al-Sharqiyye, Jaish al-Mukha, Failaq al-Sham, Sultan Suleiman Shah.
Welche Kriegsverbrechen wurden bislang im Rahmen der türkischen Besatzungsoperation bekannt?
Infolge der Bombardements des türkischen Staates wurden bisher mehr als 100.000 Menschen vertrieben. Sie sind nun auf der Flucht, ihre Lage ist dramatisch. Hinzu kommen mindestens 200 zivile Todesopfer und Verletzte aufgrund der Kriegshandlungen der Türkei. Unter den Verletzten sind auch Kinder und ältere Menschen.
Es wurden bereits zahlreiche Kriegsverbrechen der türkischen Armee und ihrer islamistischen Verbündeten dokumentiert. So wurde am 12. Oktober die Generalsekretärin der Syrischen Zukunftspartei, Havrin Khalaf, von einer mit der türkischen Armee verbündeten islamistischen Miliz in Rojava ermordet. Die Medien des türkischen AKP-Regimes sprechen von dieser extralegalen Hinrichtung der kurdischen Politikerin als „gelungene Operation zur Neutralisierung einer Terroristin“. Das Fahrzeug der 34-Jährigen geriet am Samstagmorgen auf dem internationalen Verkehrsweg M4 zwischen Qamişlo und Minbic in einen von der türkischen Armee unterstützten Hinterhalt. Es wurde zunächst von einer islamistischen Söldnerfraktion angehalten und dann mit Schüssen durchsiebt. Die verletzte Politikerin wurde anschließend aus dem Wagen herausgezerrt und hingerichtet. Ihr Fahrer wurde ebenfalls getötet. Nach Recherchen verschiedener Einrichtungen Nordostsyriens ist das „Bataillon 123“ der protürkischen Dschihadistenmiliz „Ahrar al-Sharqiya“, die als Proxy-Armee des Nato-Partners Türkei am Angriffskrieg gegen Rojava beteiligt ist, für den Anschlag verantwortlich. Nobahar Mustafa, die stellvertretende Vorsitzende des Ortsverbands der Zukunftspartei Syriens in Ain Issa gab an, dass Khalaf aus der Cizîrê-Region über Ain Issa nach Raqqa fuhr, als ihr die Islamisten an einem Kontrollpunkt den Weg versperrten.
Am 10. Oktober wurde ein Zivilkonvoi bei Serêkaniyê (Ras al-Ain) in Nordsyrien Ziel eines türkischen Luftangriffs. Bei dem Angriff sind elf Menschen ums Leben gekommen. 74 weitere, darunter acht Journalist*innen, wurden verletzt. Unter den Todesopfern ist auch der Journalist Seed Ehmed (Saad al-Ahmad), Korrespondent der Nachrichtenagentur ANHA. Sein Kollege Mihemed Hisen Reşo vom ezidischen Fernsehsender Çira TV erlag am Montag seinen schweren Verletzungen. Das Komitee zum Schutz von Journalisten CPJ verurteilte den Anschlag und erklärte, dass solche Angriffe nach internationalem Recht ausdrücklich verboten sind und als Kriegsverbrechen betrachtet werden.
Nach Angaben der UN-Organisation für Migration sind bereits mindestens 190.000 Menschen vor den Kämpfen geflohen. Rund 2.000 seien auf dem Weg in den Irak, berichtete das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) in Genf. Die meisten fliehen demnach vor dem türkischen Militär und den mit ihm verbundenen syrischen Kampfgruppen nach Süden.
Auf welche internationalen Reaktionen stößt die Besatzungsoperation?
Die USA hatten am Montag wegen der Militäroffensive Sanktionen gegen türkische Minister verhängt und eine sofortige Waffenruhe gefordert.
Die EU-Mitgliedstaaten haben einstimmig die türkische Militäroffensive in Nordsyrien verurteilt, und verschiedene EU-Staaten wie Frankreich, Deutschland oder Dänemark ihre Waffenlieferungen in die Türkei eingeschränkt.
In Luxemburg diskutieren die Außenminister der EU-Staaten über mögliche Reaktionen auf den türkischen Militäreinsatz. Schweden hat sich im Vorfeld der Gespräche offen für ein EU-weites Waffenembargo gegen die Türkei ausgesprochen und will bei einer Verschlechterung der Lage auch Wirtschaftssanktionen oder Sanktionen gegen Einzelpersonen vorschlagen.
Der Außenminister von China forderte die Türkei auf, den Einmarsch zu beenden. Neben Russland gab es auf internationaler diplomatischer Ebene auch von vielen anderen Staaten kritische Worte in Richtung Türkei.
Was fordern die Anti-Kriegs-Demonstrationen in Deutschland?
Seit dem Beginn der völkerrechtswidrigen Militäroffensive protestieren auch in Deutschland zehntausende Menschen gegen den Angriffskrieg und bringen ihre Solidarität mit dem Gesellschaftsprojekt in Rojava zum Ausdruck. Zentrale Forderungen dabei sind:
♦ Der Angriffskrieg der Türkei in Nordsyrien muss sofort beendet werden
♦ Deutsche Waffenlieferungen in die Türkei müssen nicht nur zukünftig verboten, sondern sofort gestoppt werden
♦ Um weitere Opfer zu vermeiden, muss sofort eine Flugverbotszone über Nordsyrien verhängt werden.
♦ Solange die aggressive Diktatur des AKP-Regimes an der Macht ist, muss die wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit mit der Türkei ausgesetzt werden.
♦ Für die Erreichung einer friedlichen Lösung für Syrien, ist die Einbindung und Beteiligung der kurdischen Akteure und der Autonomen Föderation Nord-Syriens zwingend.