Erdoğan kommt nach Berlin und mit ihm der Protest

Was wir von vergangenen Demonstrationen gegen Staatsgäste lernen können. Ein Gastbeitrag von Niels Seibert

Am 28. und 29. September kommt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zum Staatsbesuch nach Berlin. Wie von ihm gewünscht, wird er dort mit allen Ehren empfangen. Dazu gehören die Begrüßung durch das deutsche Staatsoberhaupt mit militärischer Zeremonie und ein Staatsbankett. Das abendliche Festessen findet im Schloss Bellevue statt, dem Dienstsitz des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier (SPD). Der hat Erdoğan nach seiner Wiederwahl Ende Juni zum Besuch in die Bundesrepublik eingeladen.

Ein Staatsbesuch, bei dem alle protokollarische Ehren gewährt werden, ist etwas Besonderes. In der Regel finden pro Jahr nicht mehr als vier solcher herausgehobenen Empfänge statt. Dass ein Despot wie Erdoğan diese besondere Würdigung erfährt, stößt allerdings auf öffentliche Ablehnung. Er sei ein autoritärer Alleinherrscher, der kritische Presse nicht dulde und Oppositionelle verhaften lasse, so der Grünen-Politiker Cem Özdemir. Sein Einmarsch ins nordsyrische Efrîn und die anschließende Annektierung seien ein Völkerrechtsbruch gewesen, deshalb sei er ein Kriegsverbrecher. Selbst nach Auskunft der Bundesregierung sei er ein expliziter Förderer des islamistischen Terrors, so die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, Sevim Dağdelen. Eine so offen formulierte und über die Medien breit transportierte Kritik ist ebenfalls etwas Besonderes. Sie wurde vor ähnlichen Staatsempfängen in der Vergangenheit oft vermisst und erst Demonstrant*innen trugen sie auf vielfältige Weise in eine breite Öffentlichkeit.

Beethoven und Mozart

Erdoğan war zuletzt im Juli 2017 in Deutschland, anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg. Er blieb dem kulturellen Abendprogramm fern, als Beethovens feierliche „Ode an die Freude“ gespielt und die Elbphilharmonie „zur Glitzerbühne für Autokraten“ wurde, wie Johann Hinrich Claussen von der Evangelische Kirche in Deutschland kritisierte.

Die Hamburger Ereignisse 2017 erinnern an einen Staatsempfang 40 Jahre zuvor. Im Juni 1967 wurde der Schah von Persien in Westberlin empfangen und zu Ehren des Staatsgastes in der Deutschen Oper Mozarts „Zauberflöte“ gespielt, während draußen, nur ein paar Schritte entfernt, etwa 2000 Menschen protestierten und der Demonstrant Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde.

Initiiert hatten diese Proteste die iranische Auslandsopposition und ihr Dachverband CISNU, wie der damalige Habilitand und Buchautor Bahman Nirumand rückblickend berichtet. Sie waren die ersten, die den Legenden über den Iran, die in deutschen Zeitungen zu lesen waren, widersprochen haben. Erst später hat sich auch der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) den Vorbereitungen angeschlossen. Nirumand hielt am Vortag des Schah-Besuchs einen Vortrag an der FU Berlin über das iranische Regime und mobilisierte damit für die Demonstrationen am 2. Juni. Zuvor hatte die deutsche Bundesregierung auf Betreiben der iranischen Botschaft vergeblich versucht, seinen Auftritt zu verhindern.

Militante Aufklärung

An vielen dieser Proteste waren maßgeblich Menschen aus betroffenen Ländern beteiligt. So auch im Dezember 1964, als der kongolesische Ministerpräsident Moïse Tschombé nach Deutschland kam. Die überwiegend studentischen Arbeitskreise, die sich beispielsweise unter Beteiligung von afrikanischen Student*innen mit Kolonialismus und Neokolonialismus beschäftigten, entwickelten im Rahmen des Tschombé-Besuchs eine militante Praxis.

An nahezu allen Stationen seiner Reise versuchten sie über Kolonialismus und Neokolonialismus sowie die jüngere Geschichte des Kongo aufzuklären. In ihren Flugblättern schrieben sie, dass die westeuropäischen Zeitungen in ihrer Berichterstattung das Entscheidendste unterschlagen hätten: Der kongolesische Diktator „kann sich gegenüber seinen Landsleuten, die ihn nie gewählt haben, nur noch mit Hilfe ausländischer Söldner-Truppen und militärischer Unterstützung durchsetzen“. Sie verurteilten die militärische und ökonomische Unterstützung aus Westeuropa und den USA: „Zum Schutz westlicher Konzerninteressen setzt Tschombé belgische Panzer, amerikanische Flugzeuge, ehemalige deutsche SS-Leute, südafrikanische Rassisten und französische OAS-Terroristen (die gegen die Unabhängigkeit Algeriens Anschläge verübt hatten) ein”. Und schließlich stellten die Demonstrant*innen eine wichtige Verbindung her: „Die Unterdrücker des kongolesischen Volkes sind auch unsere Unterdrücker.”

Die ersten Tage seiner Reise war Tschombé im Münchener Hotel „Bayerischer Hof” untergebracht. Am Eingang verteilten etwa 100 Student*innen ihre Flugblätter und warfen Stinkbomben in das Hotelfoyer, das vorübergehend unbetretbar wurde. Sie verfolgten Tschombé durch ganz München, riefen vielerorts Sprechchöre und bewarfen auch mal seinen Wagen.

In Bonn traf Tschombé Bundespräsident Heinrich Lübke (CDU), in Düsseldorf sprach er – gestört von studentischen Zwischenrufen – vor Industriellen über den „Kampf gegen den Kommunismus“ und bat um finanzielle und wirtschaftliche Hilfe. Dieses Anliegen werden auch Erdoğan und seine Minister anlässlich ihres Besuchs Ende September in Berlin zur Sprache bringen.

Westberlin 1964

Während heute Staatspräsidenten in der Regel im militärischen Teil des Flughafens Tegel landen und im Autokonvoi über die beflaggte Protokollstrecke vorbei an Ernst-Reuter-Platz und Großer Stern ins Regierungsviertel fahren, landete Tschombé am 18. Dezember 1964 auf dem damaligen Flughafen Tempelhof. Zeitgleich versammelten sich auf dem Platz der Luftbrücke etwa 800 Student*innen – 15 bis 20 Prozent waren nicht-deutsche Kommiliton*innen – zur angemeldeten „Schweigekundgebung“.

Nachdem der kongolesische Diktator durch einen Nebenausgang den Flughafen verließ und so nicht mit den Protesten konfrontiert wurde, entwickelte sich aus der Schweigekundgebung eine sehr lebendige Demonstration mit lautstarken „Tschombé raus!”-Sprechchören. Dazu trugen maßgeblich die nicht-deutschen Student*innen durch ihre Entschlossenheit, Flexibilität und Aktionsbereitschaft bei. Der FU-Student Rudi Dutschke notierte dazu in seinem Tagebuch: „Unsere Freunde aus der dritten Welt sprangen sofort ein, die Deutschen hatten zu folgen.”

Sie zogen auf den Mehringdamm, durchbrachen und überrannten dort mehrmals Polizeiketten und gingen, zum Teil eingehakt in Ketten, zügig weiter durch die Dudenstraße Richtung Schöneberg. Vor dem Schöneberger Rathaus verstreuten sie sich, um sich innerhalb der Bannmeile auf dem Platz vor dem Rathaus wieder zu versammeln.

Abbruch des Besuchs

Das Rathaus Schöneberg war Sitz des Regierenden Bürgermeisters von Westberlin. Der hieß Willy Brandt, war Bundesvorsitzender der SPD und feierte an diesem Tag seinen 51. Geburtstag. Hier wollte er den Gast willkommen heißen, auch um Westberlin stärker aufs internationale Parkett zu bringen. Dagegen hatte es schon, bevor Tschombé in der Stadt landete, Proteste im Westberliner Abgeordnetenhaus gegeben. Unmittelbar nach Eröffnung der Sitzung sprang ein Mann von der Zuschauertribüne auf und rief in den Plenarsaal: „Herr Bürgermeister, empfangen Sie nicht den Massenmörder Tschombé!”

Dass es jetzt auch noch Widerstand auf der Straße gab und plötzlich linke Student*innen vor seiner Rathaustür standen, hat Brandt schockiert, resümierte Dutschke. Der Regierende Bürgermeister sah sich gezwungen, eine Delegation des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) aus einem deutschen Studenten und zwei afrikanischen Studentinnen zu empfangen. Er soll Verständnis für die Proteste gezeigt haben, aber danach erwies er Tschombé trotzdem die Ehre. Das Amt des Bürgermeisters, so seine Begründung, lasse ihm keine Möglichkeit, prominente Berlin-Besucher nach persönlichen Sympathien zu empfangen oder abzuweisen.

Der Empfang, für den ursprünglich 70 Minuten eingeplant gewesen sein sollen, hatte sich verzögert und war laut Tagespresse schon nach etwa 15 Minuten vorbei. Womöglich hat das Tschombé als Rausschmiss aufgefasst. Als er das Rathaus durch einen Hinterausgang verließ, traf er in Berlin erstmals direkt mit Demonstrant*innen zusammen. Es gab verbale Attacken und laut Dutschke spontane Tomatenwürfe, die den Diktator „voll in die Fresse“ trafen. Tschombé brach seinen BRD-Besuch noch am gleichen Abend vorzeitig ab, flog nicht wie vorgesehen nach Frankfurt am Main, sondern mit einer US-amerikanischen Militärmaschine nach Brüssel.

Radikale Bilder

Am nächsten Tag bestimmten die Proteste die Berichterstattung in den Zeitungen. Der Verlauf der Berliner Demonstration und das offensive Vorgehen der Teilnehmer*innen gegen den kongolesischen Ministerpräsidenten war ein Initialereignis, das einen Radikalisierungsprozess einleitete, der in seiner weiteren Entwicklung immer wieder auf spontane und militante Widerstandsformen zurückgriff.

Damals wie heute sind Staatsbesuche immer auch eine PR-Maßnahme. Die Bilder des Staatsempfangs gehen um die Welt und die Autokraten können sich insbesondere in ihrem Land als geschätzte Gäste vermeintlich mächtiger Staaten und ihrer angesehenen Repräsentant*innen präsentieren. Das wussten auch Brandt, der Tschombé empfing, und Steinmeier, der Erdoğan einlud – die damit beide eine politische Entscheidung getroffen haben und Verantwortung dafür tragen, dass Despoten hofiert werden und somit einen rechtsstaatlichen Schein wahren können. Wenn ihnen dann noch Finanz- und Wirtschaftshilfen zugesagt werden, ohne diese an klare Bedingungen bezüglich Demokratie und Menschenrechte in ihren Ländern zu knüpfen und ohne ihre Politik eindeutig zu verurteilen, dann wird ihre Herrschaft nur verlängert.

Staatsbesuche sind ein geeigneter Anlass um Kritik – auch an den deutschen Gastgebern* – auf die Straße zu tragen und eigene Bilder eines starken und mutigen Widerstands zu schaffen. Dass ein Staatsgast in einem guten Licht erscheint, wird nicht durch diplomatische Worthülsen in regierungsamtlichen Pressestatements verhindert, sondern kann mit entschlossenen und einfallsreichen Protesten durchkreuzt werden.

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(*) Wenn der Bundespräsident am 28. September Erdoğan empfängt, schütteln sich zwei Folterfreunde die Hand. Steinmeier war von 1999 bis 2005 Chef des Bundeskanzleramts und Geheimdienstkoordinator der rot-grünen Bundesregierung. Im September 2002 hat er das Angebot abgelehnt, den in Bremen geborenen und Ende 2001 von US-Geheimdienstmitarbeitern in Pakistan nach Guantanamo verschleppten Murat Kurnaz freizulassen. Steinmeier rechtfertigte diese Entscheidung, mit der er die Inhaftierung und Folter des unschuldigen Kurnaz in Guantanamo für vier weitere Jahre ermöglichte.