„Eine Niederlage Efrîns liegt nicht im Interesse Deutschlands”

„Mit Hilfe der von Deutschland gelieferten Panzer wird zurzeit die Bevölkerung von Efrîn angegriffen. Der deutsche Staat macht für seinen eigenen Vorteil die Völker des Mittleren Ostens zum Ziel von Faschismus, Rassismus und Völkermord.”

Das Exekutivratsmitglied der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) Fatma Adır bewertete für ANF die Angriffe des türkischen Staates auf Efrîn. Adır hob hervor, dass die Angriffe des IS-Komplizen Erdoğan auf Efrîn nicht nur eine Gefahr für die Kurd*innen und Syrien darstellen, sondern dass sie sich mit ihrer Verschärfung auf den ganzen Mittleren Osten und Europa auswirken. Adır betonte, dass die Unterstützung der Besatzung Efrîns durch Europa, insbesondere durch Deutschland, auch nicht im Interesse dieser Länder sein könne.

Adır begrüßte den Widerstand der Bevölkerung von Efrîn, der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ wie auch der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) gegen die seit dem 20. Januar 2018 andauernden Besatzungsversuche des Erdoğan-Regimes und seiner Milizen. Sie gedenkt als erstes den Menschen aus der Bevölkerung und den Widerstandskräften, die ihr Leben verloren haben.

Adır, erklärte, dass die Bevölkerung von Efrîn und die Freiheitskämpfer*innen Moral und Kraft aus dem Widerstand gegen Erdoğan und seinen Milizen zögen und dass der Widerstand von Efrîn nicht nur ein Widerstand des kurdischen Volkes sei, sondern die Bedeutung eines Freiheitskampfes für die gesamte Menschheit habe.

„Das Thema Efrîn ist mit Blick auf die europäische Öffentlichkeit von außerordentlicher Bedeutung. Ich halte es daher für nützlich den Ort Efrîn und seine Lage noch einmal darzustellen. Efrîn ist eine Region, die wie ganz Rojava (Westkurdistan) mit aller Kraft Widerstand gegen den IS geleistet hat und nicht zuließ, dass er in die Region eindringen konnte. Efrîn hat Hunderttausende Flüchtlinge aufgenommen und geschützt. Es ist eine sehr stabile Region, die sich selbst versorgen kann und gut zu verteidigen ist. In dieser Hinsicht ist die Region beispielhaft für Syrien. Efrîn ist eine Region, in der die verschiedenen Komponenten der Bevölkerung, alle religiösen Identitäten, die verschiedenen Ethnien, die Kurdische, Turkmenische, Armenische, Arabische, aber insbesondere auch die verschiedenen religiösen Komponenten, wie auch die Christ*innen, Alawit*innen und Ezid*innen deutlich ihre Entschlossenheit für ein demokratisches Zusammenleben gezeigt haben. Die Region ist Ausdruck einer solchen Realität. Dies beschreibt ein wenig, was für ein Syrien wir uns vorgenommen haben aufzubauen und welche Form es haben könnte.”

 

Diese Besatzung richtet sich gegen alle Völker des Mittleren Ostens

Adır sagte, dass der Geist, den die Völker und Kämpfer*innen, die gegen die Besatzungsoperation in Efrîn Widerstand leisten, Ausdruck einer Entschlossenheit zur Verteidigung von Rojava, Syrien und des gesamten Mittleren Ostens sei.

„Der Angriff des AKP-Regimes und des Erdoğan-Bahçeli-Faschismus richtet sich hauptsächlich gegen die Völker des Mittleren Ostens und ihre Tradition des Zusammenlebens. Die Kurd*innen befinden sich hier in einer Vorreiterrolle. Das wissen die Kurd*innen in Rojava und das ist auch der Öffentlichkeit im Westen weitgehend klar. Rojava schützt ganz Syrien und insbesondere auch die Regionen Minbic, Raqqa, Tabqa und Dêra Zor vor dem radikalfundamentlistischen Islamischen Staat (IS). Rojava schützt die ja auch in der westlichen Demokratie enthaltenen Werte von Laizismus und Demokratie. Es handelt sich um ein Widerstandsgebiet, in dem diese Werte geschützt, verteidigt und weiterentwickelt werden. Wenn wir uns erinnern, dann war der Widerstand, der sich gegen den IS in Şengal, Kobanê und ganz Rojava und zuletzt in Tabqa entwickelt hat, kein Widerstand allein der Kurd*innen von Rojava oder nur zum Schutz der Rechte der Kurd*innen in Rojava. Es ist vielleicht ein Kampf, den die Kurd*innen besonders stark führen, aber es ist ein Kampf für den gesamten Mittleren Osten und im generellen Sinne für die Werte von Demokratie, Frieden, Gleichheit und Freiheit. Dieser Kampf wird zur Verteidigung aller Völker und ihrer Werte geführt. Es handelt sich um eine Bewegung, die diese Rolle eingenommen hat und Verantwortung dafür übernimmt.”

Kampf der Menschheit im Visier

Adır, stellte klar, dass der Angriff von Efrîn sich nicht allein gegen die Kurd*innen, sondern gegen alle menschlichen Werte richte:

„Die Besatzungsoperation gegen Efrîn richtet sich eigentlich gegen die YPG/YPJ. Bis heute aber haben bereits über hundert Zivilist*innen ihr Leben verloren. Tausende sind gezwungen, ihr Heim zu verlassen. Es gibt sehr viele verletzte Zivilpersonen. Gleichzeitig gibt es eine Bevölkerung und Kräfte, die gemeinsam gegen den IS Widerstand geleistet haben. Das sind diejenigen, welche Efrîn, seine Völker, seine Religionen, seine Demokratie und seine Werte verteidigt haben. Wie ich schon gesagt habe, wurden hier gleichzeitig auch die Werte der westlichen Demokratien verteidigt. Der Kampf hat sich auch zu einem Schutzschild entwickelt, der das Eindringen des radikalen Islamismus in den Westen behindert. Der Angriff [auf Efrîn] zielt auf diese Kräfte, er zielt auf ihre Auslöschung und die Zerstörung ihrer Widerstandskraft ab. In diesem Sinne mögen die Ziele im Besonderen die Kurd*innen, die demokratischen Werte der Kurd*innen und der nationale Kampf der Kurd*innen gewesen sein, doch sind sie im Allgemeinen gesehen gegen einen Menschheitskampf gerichtet. Gegen die Kultur des demokratischen Zusammenlebens, gegen die Kultur gemeinsam eine neue Zukunft aufzubauen. Erdoğan und Bahçeli haben diesen Kampf angeführt, ihr Angriff hat diesen Charakter.”

Erdoğan als Ausdruck einer Tradition, die den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nicht verkraftet hat

Adır beschreibt Erdoğan als Ausdruck einer Mentalität, einer Tradition, in der der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches immer noch nicht überwunden worden ist.

„So wie es auch Deutschland als Staat ist, ist Erdoğan seit Jahren Ausdruck einer Tradition, die die Phase des Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches und der darauffolgenden Jahre nicht überwinden konnte. Erdoğan ist ein verschärfter Ausdruck dieser Tradition, die sich beginnend mit der jungtürkischen Bewegung als Traditionslinie im türkischen Staat herausgebildet hat. Er betreibt genau das im Moment. Er hat diese Einstellung. Wir stehen einer eigenen Erdoğan-Realität, seiner osmanischen Perspektive und seinem osmanischen Bewusstsein gegenüber. Das ist bekannt, ich sage dies bezüglich des deutschen Staates, der deutschen Regierung und des deutschen Systems, nicht bezüglich der Bevölkerung Deutschlands. Der deutsche Staat trägt eine große Verantwortung für die Herausbildung des türkischen Nationalstaats. Vor allem die Tatsache, dass Nationalismus und Rassismus sich in Form einer Fraktion organisieren, die eigentlich alle Völker der Türkei mit Faschismus, Terror, Angriffen, Massakern und Völkermordpolitik überziehen, stützt sich auf die Realität, die der deutsche Staat mit geschaffen hat.”

Deutschland trägt eine Verantwortung bei der Entwicklung von Gladio in der Türkei

Adır wies darauf hin, dass Erdoğan und seine Milizen von Deutschland modernisierte Panzer und Waffen bei ihrem Angriff benutzten:

„Gleichzeitig gibt es auch eine Verantwortung des deutschen Staates und des deutschen Militärs bei der Entwicklung von Gladio in der Türkei. Diese Unterstützung geht mit deutschen Panzern, Waffen, Geheimdienstarbeit auf die gleiche Weise in Efrîn weiter. Das ist bekannt. Von Deutschland gelieferte Panzer greifen die Bevölkerung von Efrîn an. Das ist die aktuelle Lage. Der deutsche Staat macht für seinen eigenen Profit die Völker des Mittleren zum Ziel von Faschismus, Rassismus und Völkermord. Sie verschließen die Augen davor, aber geben in dieser Allianz jede Form von ökonomischer, militärischer, technischer und geheimdienstlicher Unterstützung. Deutschland muss von dieser Haltung Abstand nehmen. Die Ermordung der Menschen in Rojava, in Efrîn – und eine Niederlage Efrîns – ist nicht im deutschen Interesse. Ein Erfolg von Erdoğan und Bahçeli wird zur Vermehrung der islamistischen Zellen in Deutschland und Europa führen und für Deutschland, wie auch für die europäische Bevölkerung und weitere Staaten eine Bedrohung darstellen. Das hat Erdoğan sehr offen zum Ausdruck gebracht. Deutschland sollte die Unterstützung für Erdoğan, der diejenigen Kräfte angreift, die dies zu verhindern wissen und sich gegen eine solche Entwicklung erheben, beenden. Deutschland sollte ihn nicht stärken sondern sich gegen ihn stellen. Deutschland sollte seine Politik dagegen berichtigen.”

Erdoğan ermordet Kurd*innen mit deutscher Unterstützung

Adır betont, dass Deutschland seine Augen gegenüber dem Völkermord und den Massakern verschließt und auch die Ohren der demokratischen Gruppierungen innerhalb der deutschen Gesellschaft, die ihre Stimme nicht erheben, verstopft seien.

„Deutschland sollte sich nicht der Erpressung beugen, die Erdoğan mit der Drohkulisse, drei Millionen syrische Flüchtlinge nach Deutschland durchzulassen, aufgebaut hat. Diese Menschen könnten sehr entspannt nach Rojava kommen und dort ihr Recht auf Leben und Versorgung finden. Daher ermordet er jetzt mit Unterstützung des deutschen Staates, seinen Panzern und seiner Geheimdienste die kurdische Bevölkerung, die Kräfte der YPG und YPJ, die Widerstand gegen den IS geleistet haben. Aber das würde dazu führen, dass mit ihrer Ermordung und Auslöschung die demokratischen Werte ausgelöscht werden und dass dieses Hindernis und dieses Schild [das Europa vor den Dschihadisten schützt] aufgehoben wird. Das stellt in diesem Sinne eine ernste Bedrohung für den Westen dar. Deswegen fordern wir den deutschen Staat zu einer geduldigen und verantwortungsvollen Herangehensweise auf. Dass ist eine Notwendigkeit für Deutschland. Natürlich gibt es auch die Realität der Bevölkerungen von Deutschland und Europa. Im deutschen Bundestag gibt es viele Abgeordnete und Politiker*innen, welche diese Beobachtung ebenfalls gemacht haben und sich dementsprechend verhalten. Es gibt an sich auch einen politischen Willen in Deutschland, den Aufrufen der Gesellschaft und der Völker ein Ohr zu geben. Aber das Verhalten der Regierung wie auch dessen politischer Wille zeigen, dass die demokratische Gesellschaft in Europa, in Deutschland, gegenüber dem kurdischen Volk Augen und Ohren verschließt. Aber Deutschland sollte folgendes klar sein, in Deutschland gibt es eine sehr große gesellschaftliche demokratische Strömung. Die Bevölkerung Deutschlands will, dass man mit dieser Angelegenheit verantwortungsvoll und vorsichtig umgeht. Aber es gibt gleichzeitig ein sehr starkes türkisches und kurdisches Potential in Europa. Ein sich vertiefender kurdisch-türkischer Konflikt wird auch in Europa und Deutschland zu großen Kämpfen und Problemen führen.”

Es ist wichtig, dass sich Deutschland zu dieser Besatzung verhält

Adır, schloss mit einem Aufruf, dass die Besatzung verhindert werden kann, wenn sich die in der Bevölkerung Deutschlands entwickelnde Sensibilität noch weiter verstärkt.

„Gleichzeitig geht es um eine Sensibilität der Presse. Diese Kräfte müssen ihre Stimmen stärker, organisierte und effektiver nutzen. So kann der Angriff des türkischen Staates durch Maßnahmen in Deutschland in einem wichtigen Ausmaß behindert, begrenzt und sogar gestoppt werden. Insbesondere die Kurd*innen, aber auch alle in Deutschland lebenden demokratischen Kräfte aus der Türkei, alle die sich in der deutschen Gesellschaft als links, demokratisch oder sozialistisch definieren, die Presse und die demokratischen politischen Institutionen, alle sensiblen gesellschaftlichen Komponenten müssen ihre Haltung radikalisieren und ihre Worte in eine klare politische Praxis umwandeln. Sie müssen Druck auf den deutschen Staat aufbauen und ein Verhalten gegen alle Erpressungen durch Erdoğan und den türkischen Staat entwickeln. Das sind unsere Erwartungen, das ist unser Aufruf. Ansonsten wird es zu einem sich vertiefenden Kampf kommen, der sich auf den ganzen Mittleren Osten und natürlich auch überall dorthin, wo Kurd*innen leben, ausweiten. Dies wird natürlich auch dafür sorgen, dass in der Türkei, im Mittleren Osten und vor allem in Syrien keine Lösung des Problems entstehen kann und der Krieg nicht endet, sondern sich Krieg, weitere Probleme und Krisen vertiefen und verschärfen. Unser Aufruf an die demokratische Öffentlichkeit und an die Staaten selbst ist es, den Faschismus Erdoğans und des türkischen Staates zu stoppen, und seine Kurd*innenfeindschaft, seinen Nationalismus und seine Menschenfeindlichkeit zu beenden.”