Dr. Bahoz Erdal, Kommandant des zentralen Hauptquartiers der Volksverteidigungskräfte HPG (Hêzên Parastina Gel), sprach mit ANF über die Entscheidung, den 1999 von Abdullah Öcalan eingeleiteten Waffenstillstand am 1. Juni 2004 zu beenden und die Waffen wieder aufzunehmen. „Die Entscheidung zur Offensive am 1. Juni 2004 war für unseren Kampf ein historischer Moment. Es war das Beharren auf Freiheit und Widerstand. Man war an den Punkt gelangt, entweder auf der Linie der Freiheit und des Widerstands zu beharren oder die Linie der Aufgabe zu verfolgen. Sowohl die Gleichgewichte im Mittleren Osten hatten sich verändert, als auch in der Türkei, wo die AKP an die Macht gekommen war und ihr Vernichtungskonzept ins Visier nahm“, erklärte er am Anfang des Gesprächs.
Der kurdische Repräsentant und Vordenker Abdullah Öcalan leitete im Jahr 1999 einen einseitigen Waffenstillstand ein, der bis 2004 andauerte. Die Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes am 1. Juni 2004 jährte sich dieses Jahr zum 15. Mal. Können Sie uns die Gründe für diese Entscheidung schildern?
Der Vorsitzende Öcalan hat mit dem angekündigten Waffenstillstand im Jahr 1999 gegen das internationale Komplott einen strategischen Schritt getan. Er wollte den Chauvinismus in der Türkei ins Leere laufen lassen und die kurdische Frage auf die politische Agenda bringen. Auch unsere Bewegung begann eine neue Art des Kampfes. Der Vorsitzende hat der Lösung der kurdischen Frage die Chance einer politischen Lösung gegeben, doch dies wurde vom türkischen Staat nicht genutzt. Sie haben in diesen fünf Jahren des Waffenstillstands propagiert, dass sie den Anführer der Revolution festgenommen hätten und es somit keinen neuen Aufbruch mehr geben könne. Anstatt diese Chance zu nutzen, hat der türkische Staat alles getan, um die Bewegung zu zerschlagen. Vor allem in den Jahren 2002 und 2003 war klar und deutlich, dass die Türkei lediglich das Ziel verfolgte uns zu zerschlagen.
In dieser Zeit haben die internationalen Mächte mit der Intervention in den Irak eine neue Phase im Mittleren Osten begonnen. Bei dieser Intervention wollten sie den Faktor der Revolution Kurdistans als einen aktiven regionalen Akteur aus dem Weg räumen. Ziel war es, die Kurden je nach Interessen auszunutzen. Diese Entwicklungen brachten negative Folgen für unseren Widerstand und unsere Gesellschaft mit sich. Im Jahr 2002 begannen deshalb interne Diskussionen. Ein einseitiger Waffenstillstand auf diese Art und Weise war nicht mehr möglich. Denn es bedeutete die Abwesenheit von Widerstand und somit in gewissem Sinne sich ergeben. Die Entscheidung zur Offensive am 1. Juni 2004 war für unseren Kampf ein historischer Moment. Es war das Beharren auf Freiheit und Widerstand. Man war an den Punkt gelangt, entweder auf der Linie der Freiheit und des Widerstands zu beharren oder die Linie der Aufgabe zu verfolgen. Sowohl die Gleichgewichte im Mittleren Osten hatten sich verändert, als auch in der Türkei, wo die AKP an die Macht gekommen war und ihr Vernichtungskonzept ins Visier nahm. Die AKP wollte die kurdische Gesellschaft betrügen. Sie sprach davon, den europäischen Gesetzen entsprechend zu handeln und demokratisch zu werden. Sie zwang eine Politik der Ergebung auf. Die Guerilla soll sich auflösen, erklärte sie. Sie sprach von »Aufgabe oder Vernichtung«. Die Guerilla und die Gesellschaft entschieden sich jedoch für den Widerstand und die Freiheit.
Welche Reaktionen folgten auf diese Entscheidung zur Offensive innerhalb der Bewegung und in der Öffentlichkeit?
Es war eine Phase, die von reichen Diskussionen geprägt war. Zu dieser Zeit wurde im Irak interveniert, das Regime von Saddam war zerschlagen, die AKP war an die Macht gekommen und machte große Versprechungen. Die türkische Regierung schürte Hoffnungen. Nach einem fünf Jahre währenden Waffenstillstand hat solch eine Entscheidung viele Diskussionen mit sich gebracht. Einige Kreise erklärten: »Wenn wir nochmal die Entscheidung zum Widerstands treffen, ist dies gleichbedeutend mit Selbstmord. Die internationalen Mächte haben in den Mittleren Osten interveniert, wenn wir solch eine Entscheidung treffen, torpedieren wir deren Rechnung und sie werden uns angreifen.« Dies war nur ein bestimmter, zahlenmäßig kleiner Kreis. Sie wurden unter anderem von außen beeinflusst. Innerhalb der Bewegung wurde ungefähr zwei Jahre darüber diskutiert.
Die Bevölkerung in Nordkurdistan war zu der Zeit stark von der staatlichen Repression betroffen und empfing die Entscheidung zum Widerstand damals mit großer Freude. Die Menschen sahen, dass die PKK stark war, auf ihren eigenen Beinen stand und Hoffnung geben konnte. Ein anderer Kreis hingegen war sehr unsicher und verstand diese Entscheidung nicht. Beispielsweise sagten einige inhaftierte kurdische Abgeordnete, die zu der Zeit von der AKP entlassen wurden: »Diese Entscheidung ist falsch bzw. verfrüht, diese Entscheidung wird die Kurden allein stehen lassen und sie international zur Zielscheibe machen«.
Die internationalen Mächte waren nicht erfreut über diese Entscheidung und gingen sogar soweit, unsere Bewegung offenen zu bedrohen. Doch die Gesellschaft glaubte größtenteils daran, dass diese Entscheidung zur neuen Offensive gleichbedeutend sei mit der Entscheidung zur Aufnahme des bewaffneten Kampfes vom 15. August 1984.
Nun sind seitdem 15 Jahre vergangen und die Geschichte vergisst niemals. In dieser Zeit sind einige Personen aus Südkurdistan auf der Bildfläche aufgetaucht, die sich zu Anführern der Kurden deklarierten und erklärten, dass die PKK eine falsche Entscheidung getroffen habe, die nicht im Interesse der Kurden und Südkurdistans sei. Mit dieser Entscheidung würde die PKK die bisherigen Errungenschaften allesamt gefährden. Sie machten Antipropaganda gegen diese Entscheidung.
Doch die Kurden wurden im neuen Gleichgewicht des Mittleren Ostens ein Akteur und alle relevanten Kräfte in der Region mussten die Revolution in Kurdistan und die PKK zur Kenntnis nehmen.
Mit der Offensive begann in Nordkurdistan ein Krieg. Was für Vorbereitung hatte die türkische Armee getroffen?
Die Offensive vom 1. Juni 2004 war eine neue Entscheidung zum Krieg. Es war das Beharren auf der Widerstandslinie gegen Folter, Unterdrückung, die militärischen Operationen als auch gegen die Verleugnungs- und Vernichtungspolitik des türkischen Staates. Es war ein Beharren auf dem Geist vom 15. August. Der türkische Staat hat sich mit dem Glauben, dass mit der Festnahme des Vorsitzenden Öcalan die PKK in sich zerfallen würde selbst betrogen. Der Staat hat an seine eigenen Lügen geglaubt. Doch sowohl der Vorsitzende Öcalan als auch die Guerilla Kurdistans hatten mit dem ausgerufenen Waffenstillstand die Chance zu einer politischen Lösung die Tür geöffnet. In dieser Zeit hat sich die Guerilla Kurdistans neu strukturiert. Sie gründete die Volksverteidigungskräfte HPG, baute ein neues System auf und diskutierte eine neue Art von Krieg. Mit Bildung und Diskussionen hat sich die Guerilla selbst erneuert. Die türkische Armee war über die Verteidigung der Guerilla und ihre Schläge gegen die Unterdrückung überrascht. Deshalb waren die internen Diskussionen innerhalb der türkischen Armee ab 2004 nicht mehr zu verheimlichen. Sie hatten Probleme mit der Art, wie die Guerilla kämpfte.
Auch die türkische Armee wollte sich erneuern, ihre Kriegsführung ändern und neue Waffen nutzen. Es gab zwischen der türkischen Armee und der Guerilla einen Wettlauf um Erneuerung. Der türkische Staat gab Millionen für neue Waffen aus, stellte bezahlte Söldner ein und änderte die Art der Operationen. Sie folterten die Menschen grausamer als in den 90ern und probierten neue Techniken aus. Doch die Guerilla hat in den vergangenen 15 Jahren deutlich gemacht, dass man im 21. Jahrhundert, wenn die Taktik stimmt und die Sache wofür man kämpft, legitim ist, selbst gegen die stärkste und neuste Technologie ankämpfen und gewinnen kann.
Was für Folgen haben diese 15 Jahre für Kurdistan mit sich gebracht?
Die Frage um Kurdistan ist an die Schwelle einer politischen Lösung gebracht worden. Das war das größte Ergebnis, wovon sich der türkische Staat am meisten beunruhigen ließ. Er fasste die kurdische Frage nur als »Terror- und Sicherheitsproblem« auf. Doch diese 15 Jahre haben die kurdische Frage auf die politische, kulturelle, historische und wirtschaftliche Agenda der Türkei gebracht. Es wurde eine Diskussion über dieses Thema erzwungen. Im Jahr 2003 hatte Erdoğan gesagt, dass wenn man nicht darüber nachdenke, es auch keine kurdische Frage gebe. Es war die Folge des Kampfes, dass man nun an den Punkt angelangt ist, über eine Lösung zu diskutieren.
Die Offensive vom 1. Juni 2004 konnte unserer Gesellschaft in Nordkurdistan Kraft und Hoffnung geben und schaffte die Basis zur Selbstorganisierung. Sie hat gewährleistet, dass die Einheit der Gesellschaft im politischen Sinne gestärkt wurde und sich der gesellschaftliche Widerstand weiter entwickelte. Sie hat die klassische Diskussion des türkischen Staates, dass es sich nur um paar Banditen handelt überwunden und die ganze Gesellschaft in der Türkei beeinflusst. Sie hat die Wirtschaft, Gesellschaft und Tagesordnung der Türkei maßgeblich beeinflusst. Das waren die größten Ergebnisse.
Diese 15 Jahre haben gezeigt, dass man nicht wie früher an die kurdische Gesellschaft herantreten kann, ohne dass ständig politische und wirtschaftliche Krisen zutage treten. Ohne Kurdistan und die Freiheit der Kurden kann es keinen Aufbruch der Gesellschaft in der Türkei geben. Das hat die Offensive ebenfalls gezeigt.
Mit der Offensive wurde die Guerilla stärker. Als der Islamische Staat (IS) angriff, ist den Menschen in Südkurdistan niemand zur Hilfe geeilt. Die südkurdische Regierung forderte Unterstützung von Erdoğan, doch dieser half dem IS. Wer kam zur Hilfe? Die Guerilla. Wenn der Status in Südkurdistan erhalten wurde, dann spielen die Offensive vom 1. Juni und der Guerillakampf eine maßgebliche Rolle dabei.
Und das nicht nur in Südkurdistan. Wenn es die Offensive vom 1. Juni nicht gegeben hätte, dann hätte sich die Guerilla aufgelöst. Die Rojava-Revolution hätte es nicht gegeben und der IS wäre nicht zu stoppen gewesen. Wenn die Kurden und Kurdistan heute im Mittleren Osten als Ganzes betrachtet werden, dann ist das ein Ergebnis dieser Offensive. Alle Teile Kurdistans wurden gestärkt. Deutlich trat hervor, dass der türkische Staat der Feind der Kurden ist. Erdoğans List wurde aufgedeckt und seine Maske heruntergerissen.
Der Krieg dauert weiterhin an. Wie bewerten Sie den Kampf der Guerilla?
In diesen 15 Jahren hat nicht nur die Guerilla gekämpft. Im Rahmen des neuen Paradigmas ist neben dem Verteidigungskampf auch die demokratische, politische und gesellschaftliche Organisierung vorangetrieben worden. Das war der größte Erfolg unserer Gesellschaft. Sie hat gelernt, auch an der politischen und gesellschaftlichen Front den demokratischen Kampf zu entwickeln; Erfahrung wurden gesammelt. Gegen den jüngsten Krieg des türkischen Kolonialismus hat unsere Gesellschaft an allen Fronten, in den Gefängnissen und außerhalb, einen sehr wertvollen Widerstand geleistet. Während dem Hungerstreik haben unsere Mütter ihre große Kraft gezeigt und stellten sich dem Faschismus des türkischen Staates gegenüber.
Ohne Zweifel ist die härteste Linie in der Verteidigung die Kriegsfront. Um die Guerilla wirksam zu bekämpfen, hat der türkische Kolonialismus 15 Millionen Dollar aufgebraucht. Wie bereits erwähnt, hat die türkische Armee ihr System geändert und entwickelt mithilfe neuer Technologien und dem Geheimdienst neue Kriegsmethoden. Doch die Guerilla Kurdistans erneuert sich jeden Tag und ist eine kreative Kraft. Zweifellos ist uns der türkische Staat in technischer und quantitativer Hinsicht überlegen. Der Guerillakampf an sich wird ehe gegen einen technisch und zahlenmäßig überlegenen Feind geführt. Die Guerilla ist kreativ und flexibel. Doch für uns ist der Krieg zweifellos nicht leicht. Wenn man nicht jeden Tag mit eisernem Willen entschlossen ist, kann man nur schwer gegen die Brutalität des Besatzers standhalten. Zweifellos ist Krieg etwas Schweres, doch wir führen seit 35 Jahren diesen Krieg gegen die Brutalität des türkischen Staates.
In der jüngsten Phase war die Neustrukturierung der Guerilla auf unserer Tagesordnung; von ihrem organisatorischen System bis hin zur Aktionsart. Die Guerilla möchte auf der einen Seite die Angriffe des türkischen Staates ins Leere laufen lassen und sich unsichtbar machen, um der Armee keinen Angriffspunkt zu geben, aber auf der anderen Seite ihre Schlagkraft zur Schau stellen. Heute führt die Guerilla überall in Kurdistan ihren Widerstand und das täglich ohne Pause. Jeden Tag heben die Kriegsflugzeuge ab und tausende Soldaten werden in den Krieg geschickt. Es gibt einen großen Krieg. Mit Opferbereitschaft, Geduld und starkem Willen begegnet die Guerilla jeden Tag diesem großen Krieg.
Die türkische Armee führt nun in der Region Xakurke in Südkurdistan eine Besatzungsoperation namens »Klaue« (türkisch: Pençe). Wie ist die aktuelle Situation?
Es gibt einen großen Krieg zwischen dem türkischen Staat und uns in Kurdistan. Sie führen überall in Nordkurdistan Operationen durch, sie nutzen jede Möglichkeit in Rojava und auch in Südkurdistan um anzugreifen. Es ist nicht ihre erste Operation in Xakurke und auch nicht ihre letzte. Sie tun dies seit 35 Jahren. Jeden Tag greifen Kampfflieger an. Es gibt also einen Krieg in Südkurdistan. Auch diesen Angriff werden wir – wie in den vergangenen 35 Jahren – zurückschlagen. Im letzten Jahr haben sie es ebenfalls versucht und schwere Verluste erlitten. Jeden Tag werden Soldaten getötet. Jeder Schritt von ihnen wird von der Guerilla Kurdistans beantwortet. Ob in Südkurdistan oder in Nordkurdistan, die Guerilla ist überall bereit, ihrer Verantwortung gerecht zu werden.
Abdullah Öcalan hat im Zuge des Hungerstreiks eine Sieben-Punkte-Erklärung abgeben. Wie ist diese zu verstehen?
Der Vorsitzende Öcalan denkt groß und weitsichtig. Er hat dies noch einmal gezeigt, indem er auf einen Lösungsweg hingewiesen hat. Alle Ansprechpartner sollten diese Botschaft gut verstehen. Ich meine nicht nur die Kräfte in Kurdistan, sondern auch die internationalen Mächte. Alle internationalen Akteure, die im Mittleren Osten Politik führen, müssen die Botschaft gut verstehen. Wenn die internationalen Kräfte die Kraft der PKK und den Willen der kurdischen Gesellschaft nicht berücksichtigen, können sie keine wirksame Politik im Mittleren Osten beschreiten. All diese Akteure müssen die kurdische Gesellschaft und die PKK anerkennen. Die Menschen in Kurdistan möchten in Freiheit und Würde leben. Niemand hat etwas zu verlieren. Wenn die internationalen Kräfte die kurdische Gesellschaft in ihren Plänen nicht berücksichtigen und sich so annähern wie sie es beim Vertrag von Lausanne gemacht haben, werden ihre Pläne ins Leere laufen. Denn die Kurden haben die Kraft entwickeln können, Gleichgewichte zu verändern. Deshalb rate ich den internationalen Kräften, dass sie sich mit Abdullah Öcalan gut auseinandersetzen und ihre klassische Politik gegen die Gesellschaft und Bewegung überdenken sollten.