Wir veröffentlichen den zweiten Teil eines Interviews mit dem Kommandanten des zentralen Hauptquartiers der Volksverteidigungskräfte (Hêzên Parastina Gel, HPG) Dr. Bahoz Erdal im kurdischen Fernsehsender Stêrk TV.
Was sind Ihre Erwartungen an die südkurdische Autonomieregierung?
Die Regierung sollte einen nationalen Ansatz verfolgen, wenn sie den Standpunkt vertritt, dass der Autonomiestatus der Region Kurdistan eine nationale Errungenschaft ist. Eine Haltung, die der Politik Nordkurdistans schadet, ist nicht annehmbar. Natürlich ist unsere Bewegung für einen hohen Lebensstandart der südkurdischen Bevölkerung. Aber haben die Menschen Nordkurdistans keinen Anspruch auf ein Leben in Wohlstand, Frieden und Freiheit? Der türkische Staat mit Recep Tayyip Erdoğan an seiner Spitze ist den Kurdinnen und Kurden sowie Kurdistan feindlich gesinnt. Von der südkurdischen Regierung wäre zu erwarten, eine entsprechende Haltung einzunehmen und weder nachrichtendienstliche noch militärische Kooperationen einzugehen. Klar ist doch, und die Geschichte hat es bewiesen, dass der Frieden und die Stabilität Kurdistans kein Bündnis mit dem türkischen Staat erfordert. Ganz im Gegenteil, ein Schulterschluss mit der Türkei wird immer zu Lasten Südkurdistans gehen. Der Wohlstand für alle liegt in der kurdischen Einheit.
Vor gar nicht allzu langer Zeit sind Bilder aufgetaucht; die Guerilla und die Peschmerga kämpften gemeinsam an derselben Front gegen den IS. Diese Szenen waren für die gesamte kurdische Bevölkerung eine große Quelle von Moral, Mut und Vertrauen. Sie waren der Wille des Volkes. Was haben uns diese Bilder noch gezeigt? Die nationale Einheit und ein kurdisches Bündnis. Dieses Bündnis war ausschlaggebend für den Sieg der Kurdinnen und Kurden, nicht nur in Südkurdistan, sondern auch im Norden sowie in Rojava. Das sollten sich unsere Brüder und Schwestern hier in Südkurdistan nochmal vor Augen führen. Die Zukunft Kurdistans hängt vom kurdischen Bündnis ab.
‚Nicht die Guerilla, der türkische Staat weitet den Krieg auf Südkurdistan aus’
Einige Kreise fragen sich, warum die PKK ihren Kampf nicht auf Nordkurdistan beschränkt.
Die kurdische Freiheitsguerilla führt einen historischen Krieg in Nordkurdistan. Eine andere Organisation als die PKK hätte gegen die türkischen Angriffe mit hochtechnologischen Waffensystemen womöglich keinen einzigen Monat standgehalten. In Botan, Amed, Dersim und auch in allen Regionen der Türkei kämpft unsere Guerilla. Aber es ist nicht die Guerilla, die Südkurdistan in einen Kriegsschauplatz verwandelt hat. Die Verantwortung hierfür tragen der türkische Staat und diejenigen, die die Besatzungsversuche in Südkurdistan schweigend hinnehmen. Warum wird eine Haltung gegen die PKK verlangt, aber nicht gegen die Besatzung Südkurdistans? Das Schweigen und die Schwäche der Autonomieregierung ermutigen den türkischen Staat, seinen Ambitionen nachzugehen und ohne Rücksicht südkurdisches Territorium anzugreifen. Die Administration hat es nicht nötig, sich dermaßen vor dem türkischen Staat zu fürchten. Die Türkei hat quasi mit der ganzen Welt Probleme und wird von allen Seiten ausgeschlossen. Sie ist in einer sehr schwierigen Situation. Das Schweigen der südkurdischen Regierung führt das Land in ein Schlachtfeld. Lange Rede kurzer Sinn: Wir bleiben bei unserem Standpunkt, dass die nationale Einheit dringend nötig ist. Diesen Krieg können wir nur gemeinsam gewinnen.
‚Türkischer Staat will innerkurdische Auseinandersetzungen’
Was sagen Sie zu den Spitzelanwerbeversuchen innerhalb der Bevölkerung?
Der türkische Staat greift in letzter Zeit ganz bewusst südkurdische Dörfer und Siedlungsgebiete an. Unter dem Vorwand, die PKK-Guerilla bewege sich in Amêdî (Amediye), wurde die Dörfer Spindar und Çemankê bei Dihok bombardiert. Bei diesen Angriffen sind Zivilisten zu Schaden gekommen. Es haben aber auch Luftschläge auf andere Siedlungsgebiete in dieser Region stattgefunden. Man stellt sich die Frage, weshalb Dörfer in Amêdî angegriffen werden, wenn die Guerilla doch bekanntermaßen in den Bergen ist und täglich Aktionen in Nordkurdistan durchführt. Mit diesen Bombardements verfolgt der türkische Staat sein Ziel, die Kurd*innen gegeneinander auszuspielen. Die Kurd*innen, die im Dienste der Türkei stehen, sollen die anderen Kurd*innen bekämpfen. Das war schon bei den Osmanen die Kurdenpolitik. Die politischen Parteien Südkurdistans und ihre Repräsentant*innen sollten sich dessen bewusst werden. Dass die türkische Regierung heute gute Beziehungen zur südkurdischen Administration unterhält, bedeutet nicht, dass ihre Existenz und ihr Status akzeptiert werden. Die Türkei ist bestrebt, eine Polarisierung zwischen den Kurd*innen zu schaffen, die zu innerkurdischen Auseinandersetzungen führen soll. Damit soll die Entstehung einer nationalen Einheit unterbunden werden.
Die Menschen Südkurdistans sind patriotisch und sensibel. Wir rufen sie auf, nicht zum Werkzeug der Politik des türkischen Staates zu werden. Die Angriffe auf Südkurdistan sollten analysiert und eine entsprechende Haltung eingenommen werden.
‚Informanten der Guerilla melden‘
In diesem Zusammenhang appelliere ich an die südkurdische Bevölkerung, keine Informationen über Rückzugsorte der Guerilla preiszugeben. Ganz gleich, wer danach fragt, steht im Dienst des türkischen Geheimdienstes MIT. Diese Personen sollten unverzüglich der Guerilla gemeldet werden, andernfalls erreichen sie ihr Ziel, eure Hände mit dem Blut der Guerilla zu beflecken.
Aufruf an kurdische Organisationen
Die Erfahrungen zeigen, dass wann immer die kurdische Einheit stark ist, sie sich zum Vorteil aller Kurdinnen und Kurden entwickelt. Das war zwischen den Jahren 2005 und 2011 so, und auch 2014 im gemeinsamen Kampf gegen den IS. Auch jetzt ruft unser Parteivorstand dazu auf, mit dem Geist von Kobanê, Şengal und Mexmûr eine Einheit zu bilden. Wir sollten uns an einen Tisch setzen. Wir werden uns in den wichtigsten Punkten übereinstimmen, Differenzen können wir ausdiskutieren. In der aktuellen Phase befindet sich im Mittleren Osten jeder im Dialog. Lasst uns auch in einen Dialog treten. Wenn Kräfte, die sich gegeneinander bekämpfen, an einem Tisch zusammenkommen können, warum soll es uns Kurd*innen nicht möglich sein, einen Dialog zu führen? Warum entzieht sich die südkurdische Regierung dem? Für die Zukunft und den Frieden Südkurdistans müssen wir an den Tisch. Diesen Dialog können wir für alle vier Teile Kurdistans entwickeln. Bei Bedarf können wir auch Entscheidungen treffen und umsetzen. Lasst uns darüber diskutieren, wie wir uns in den Bereichen der Politik, Sicherheit und Diplomatie ergänzen können. Wir sind bereit. Wir fordern nicht, dass die Autonomieregierung keine Beziehungen zu Staaten eingeht. Wir sind gegen Beziehungen, deren Basis das Blut der Kurd*innen bildet. Wir erwarten, dass die südkurdische Administration Beziehungen vermeidet, die zum Nachteil Kurdistans sind und rufen dazu auf, nicht Teil des Krieges des kolonialistischen türkischen Staates gegen die Guerilla zu sein. Die Guerilla ist kein Lamm, das geopfert werden kann. Sie ist die Verteidigung dieses Landes. Personen, die das Blut der Guerilla an ihren Händen haben, werden früher oder später zur Rechenschaft gezogen.