„Die Wirkung wäre gewiss“ – Erinnerungen an Andrea Wolf (Ronahî)

Vor 25 Jahren ist Ronahî / Andrea Wolf in den Bergen Kurdistans von der türkischen Armee ermordet worden. Ihre Freundin und Weggefährtin Anja Flach erinnert sich an die Internationalistin und gemeinsame Erlebnisse mit ihr bei der Frauenguerilla.

Wir hatten Andrea im Austausch mit einigen Freund:innen aus Frankfurt kennengelernt. Anfang der 1990er Jahre hatte der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan Internationalist:innen aus aller Welt aufgerufen, in die Berge zu kommen, um sich mit der kurdischen Bewegung auszutauschen. Wir hatten uns als eine kleine Gruppe schon entschieden dem Aufruf zu folgen. Andrea wollte nachkommen; bei ihr stand noch eine Knieoperation an und sie hatte ihrer Mutter versprochen, sie in Guatemala zu besuchen. Also machten wir uns erst mal ohne sie auf den Weg. Wir hatten uns schon etwa eineinhalb Jahre bei der Guerilla aufgehalten, überwiegend in der Region Botan, als uns eine Nachricht erreichte.

Aus meinem Tagebuch:

Frühjahr 1997: Inzwischen ist eine Gruppe aus der Parteischule eingetroffen, die erste, die seit Monaten durchgekommen ist. Heval Meryem [Çolak], meine Einheitskommandantin aus Haftanîn, gehört auch dazu. Ich freue mich sehr, sie zu sehen, erzähle ihr, dass ich viele aus ihrer alten Einheit in Haftanîn wieder getroffen habe. Wir hören, dass eine neue Gruppe aus der Parteischule gekommen ist, die sich jetzt im Zap-Gebiet aufhält. Es soll auch eine deutsche Genossin dabei sein, ihr Name sei Ronahî, nach vielem Nachfragen komme ich darauf, dass es nur Andrea sein kann. Ich möchte sie unbedingt treffen.

Es verwirrte mich, dass erzählt wurde, die Freundin hätte schwarze Haare, Andrea war doch blond. Erst später konnte ich erfahren, dass sie sich die Haare gefärbt hatte, weil sie eine Weile in der Illegalität gelebt hatte. Wir konnten nicht zu Andrea, da wir wegen der türkischen „Operation Hammer“ (tr. „Çekiç Harekâtı“), die zwischen dem 12. Mai und dem 7. Juli 1997 mit mehreren zehntausend Soldaten gegen die PKK stattfand, zurück nach Nordkurdistan geschickt wurden, wo wir gerade herkamen.

Andrea Wolf wurde am 23. Oktober 1998 zusammen mit 40 weiteren Menschen, darunter mindestens 24 Kämpferinnen und Kämpfern der kurdischen Guerilla, bei einem Massaker der türkischen Armee in der Nähe des Dorfes Keleş in Şax (tr. Çatak) bei Wan ermordet. Sie wurde gefangen genommen, verhört, misshandelt und anschließend hingerichtet - ein klares Verbrechen laut Genfer Konvention. Bis heute wurden die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen. Das Massengrab, in dem die Leichen verscharrt wurden, ist 2011 vom Menschenrechtsverein IHD entdeckt worden. Die Türkei lehnt die Exhumierung der sterblichen Überreste ab. | Foto: Andrea Wolf wird von Abdullah Öcalan aus der zentralen Parteischule in Damaskus in die Berge Nordkurdistans verabschiedet, 1997 © Serxwebûn / ANF


20. Mai: Gestern noch einmal Nachrichten: Die türkische Regierung sagt, die Armee hätte 1000 PKKler getötet, das deutsche Radio hält das immerhin für möglich. In Wirklichkeit haben wir insgesamt 25 Gefallene. Viele Soldaten sind tot, keine genauen Zahlen. Im Zap haben sich sieben Soldaten ergeben. Die Armee hat es nicht geschafft, in das Zap-Gebiet einzudringen. In Richtung Batufa wurden fünf Peşmerga getötet. Viele Dorfschützer haben ihre Waffen niedergelegt. Angeblich will der Feind bis September im Süden bleiben, das heißt, Ronahî werde ich so schnell nicht sehen, leider.

Im Spätsommer war es endlich so weit, wir konnten in Richtung Zap-Gebiet aufbrechen. Ich hatte es sehr vermisst, mit einer Frau mit demselben Erfahrungshintergrund zusammen zu sein, ich freute mich sehr auf Ronahî.

Heval Hüseyin sagt, er hätte Ronahî noch vor 15 Tagen im Zap gesehen, sie wäre stark, als wäre sie hier groß geworden, lebendig sei sie. Wir gehen also dorthin, um sie zu treffen. Alle schlafen, wir haben einen langen Marsch vor uns, mindestens drei Tage bis zum Zap, ich muss an Ronahî denken, was sie jetzt schon alles mitbekommen hat, ist in eine Riesenoperation geraten. Jetzt, wo ich weiß, dass sie da ist, bin ich sehr motiviert zu laufen.

Als wir endlich das Lager erreichen, schlafen alle bis auf die Wache. Ich kann es kaum noch erwarten, sie zu treffen, den ganzen Weg über habe ich nur an sie gedacht und jetzt schläft sie schon. Da Ronahî noch nicht so lange in Kurdistan ist, erhoffe ich von ihr auch Neuigkeiten zu hören, Nachrichten aus dem Land, das wir vor mehr als zwei Jahren verlassen haben und zu dem wir seitdem nur noch Kontakt über die Deutsche Welle hatten. Vor Aufregung kann ich die ganze Nacht nicht schlafen, obwohl wir so lange gelaufen sind. Morgens ist es endlich so weit. Ronahî und ich fallen uns in die Arme. Mit einer Frau reden zu können, die aus der gleichen Gesellschaft kommt und mit ähnlichen Schwierigkeiten zurechtkommen muss, ist wunderbar. Stundenlang erzählen wir uns unsere Erfahrungen und Erlebnisse, Tränen fließen, weil so vieles, was lange weggerückt wurde, sich jetzt seinen Weg an die Oberfläche bahnt. Vom YAJK-Hauptquartier erhalte ich die Erlaubnis, dass ich in Ronahîs Manga ziehen kann, während meine Freundinnen aus Botan zu einem anderen Punkt gehen werden, an dem der Kader-Unterricht für die Kommandantinnen stattfinden wird. Hier im Hauptquartier hält sich nur eine Einheit Jugendliche auf, die speziellen Unterricht erhält. Ronahî gibt ihnen Schwimmunterricht. Am Vormittag kann ich gleich zusehen. Es erstaunt mich, wie ungezwungen die Freundinnen sich bewegen, in T-Shirt und Unterhosen planschen sie im Wasser herum, und das bei der tief sitzenden Schamhaftigkeit in der kurdischen Gesellschaft. Ich selbst habe in den letzten beiden Jahren kaum ein unbekleidetes Frauenbein gesehen, kaum mal meine eigenen Beine. Fast komme ich mir vor wie in einem Ferienlager.

Eine kurdische Aktivistin trägt ein Transparent mit einem Foto von Andrea Wolf | November 1998, Rom © Serxwebûn / ANF


Diese Szene sehe ich immer noch vor mir. In einem ruhigeren Teil des Avaşîn-Flusses schwimmen junge Frauen in T-Shirt und Unterhosen. Ronahî zeigt ihnen Schwimmbewegungen. Es ist sehr wichtig, dass sie schwimmen lernen. Unzählige Freund:innen sind schon in Flüssen in den Bergen ertrunken.

Ronahî und ich wollen um die Erlaubnis bitten, zum Hauptquartier auf dem Tepê Cûdî zu gehen. Während ich bei der Unterrichtseinheit war, ist Sîpan [ein anderer deutscher Freund] hier gewesen und Ronahî und er haben entschieden, dass es das Beste wäre, wenn wir etwa einen Monat Zeit hätten, um gemeinsam unsere bisherige Zeit bei der Guerilla auszuwerten und über Perspektiven des Kampfes für Internationalistinnen hier und in Europa zu diskutieren. Nach wenigen Tagen erhalten wir die Erlaubnis, zum Hauptquartier zu gehen.

Dort angekommen, richten Ronahî und ich uns eine eigene Manga [Aufenthaltsort einer Gruppe von ca. acht Personen] her. Essen holen wir gemeinsam mit der Pressemanga, der einzigen anderen Frauenmanga, hier im Hauptquartier. Wir machen uns einen Arbeitsplan, einen Monat lang wollen wir die vergangenen zwei Jahre auswerten, Perspektiven für unsere Rückkehr nach Deutschland erarbeiten, einschätzen, was uns dort erwartet. Gleichzeitig nehmen wir natürlich am Alltag des Hauptquartiers teil. Wie eine normale Manga werden wir zum Essenkochen oder Brotbacken eingeteilt.

Ronahî ist eine sehr beeindruckende Persönlichkeit, eine Kämpferin. Sie ist sehr begeistert von den neuen Erfahrungen hier, besonders mit dem Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, den sie in der Zentralen Parteischule kennen gelernt hat, fühlt sie sich sehr verbunden. Vor allem, dass er dem Aufbau der Frauenarmee eine derartig große Bedeutung zumisst und ihn sehr unterstützt, hat sie beeindruckt. Hier bei der Guerilla will sie vor allem Dinge lernen, von denen sie glaubt, dass sie später in Europa nützlich sein könnten.

Ronahî vermutet, dass die Angriffe [in Deutschland] auf uns sehr hart sein werden, nicht nur von Seiten des Staates, sondern auch von der sogenannten Linken. Sie geht davon aus, dass die Linke in der BRD, gefangen in ihrer Niederlagenhaltung, nichts Besseres zu tun haben wird als sich auf uns zu stürzen und zu zerfleischen. Die vielen Niederlagen, die die Linke in der BRD erfahren hat, haben dazu geführt, dass nicht mehr an die Kraft des Kampfes geglaubt wird. Wir trauen uns nicht mehr zu, dieses System aus den Angeln zu heben, kaum jemand glaubt an die Möglichkeiten des revolutionären Kampfes. Die Metropolenlinke kann sich nicht vorstellen, dass sie von den Befreiungsbewegungen lernen kann. Sie glaubt, nur sie allein wäre in der Lage, die ideologische Führung zu übernehmen, und kann es nicht ertragen, dass andere einen Kampf führen, wo sie selbst längst kapituliert hat.

Die Zeit mit Ronahî ist sehr intensiv. Nächtelang diskutieren wir, stellen viele Gemeinsamkeiten in unserer Geschichte fest. Vor allem unsere Bilanz der Erfahrungen im Geschlechterkampf innerhalb der deutschen Linken fällt niederschmetternd aus. Eine Tatsache, dass wir nicht selten selbst diese Strukturen gestützt haben. Die YAJK hat uns in vielen Punkten die Augen geöffnet.

„Kein Vergessen“: Im September 2011 reiste eine 30-köpfige Menschenrechtsdelegation aus Deutschland, El Salvador und der Schweiz in die Provinz Wan, um die im Frühjahr desselben Jahres entdeckten Massengräber zu besuchen. Nach einer Gedenkveranstaltung unweit des von der türkischen Armee begangenen Kriegsverbrechens vom 23. Oktober 1998 stellten Angehörige von Ermordeten bei der Staatsanwaltschaft Çatak Strafanzeigen gegen Verantwortliche des türkischen Militärs © ISKU


„Innerhalb der Linken fehlen uns klare Kriterien dafür, wie Frauen und Männer zusammen kämpfen können und sich bei einer Entwicklung nicht gegenseitig im Weg stehen“, erklärte Ronahî. Sie hatte viel Erfahrung, sie schlug vor, dass der Kern einer neuen Organisierung Verbindlichkeit sein sollte. Kriterien müssten aufgestellt werden, an denen die eigene Praxis interpretiert werden könne. Sie schlug vor, einen konkreten Vorschlag für die Organisierung zu erarbeiten und mit diesem an Organisationen und Projekte herangetreten werden sollte. Auch schlug sie eine autonome feministische Organisierung vor. Wir diskutierten unseren Begriff von Freiheit. „In allen Konfliktfeldern zwischen Bevölkerung und Staat eine Bresche für eine fortschrittliche Lösung schlagen“, drückte sie sich aus.

„Ich sehe es so, dass im Aufbau einer umfassenden Organisation für uns eine große Chance liegt, wo wir frühere Fehler wettmachen können. Die Wirkung wäre gewiss, denn eigentlich gibt es einen mannigfaltigen Reichtum an Ausprobiertem, Erreichtem und Erfahrungen. Nur systematisch auswerten und anwenden tut sie niemand. Mittels einer Organisation kann aus der Geschichte produktiv gelernt werden“ schrieb Ronahî später.

Als ich von Ronahîs Tod erfuhr, waren wir schon fast ein Jahr wieder zurück in Deutschland. Ich war unter Schock und konnte es zunächst nicht begreifen, dass sie nicht mehr kommen würde. Kurz davor war der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan gezwungen worden, Syrien zu verlassen. Gegen uns lief ein §129a-Verfahren, man ermittelte gegen uns, weil wir angeblich „eine bewaffnete Organisation nach dem Vorbild der PKK in der BRD“ aufbauen wollten. Als ob man von der kurdischen Bewegung nicht ganz andere Dinge lernen könnte als ein paar Waffen zu bedienen. Die Solidaritätsstrukturen brachen aufgrund der Repression weitgehend zusammen. Kurz danach, im Februar 1999, wurde Öcalan in die Türkei entführt. Bis die kurdische Bewegung sich konsolidieren konnte, dauerte es noch Jahre. Und noch viel länger, bis sich wieder eine ernsthafte Solidaritätsbewegung entwickeln sollte.

Dass es heute „Gemeinsam Kämpfen“ gibt und viele Internationalist:innen im kurdischen Befreiungskampf teilnehmen, ist auch ein Verdienst von Ronahî. Vor dem Hintergrund des eskalierenden Dritten Weltkrieges und der sich anbahnenden Klimakastastrophe ist Ronahîs Wunsch dringender denn je:

„Einfach den Nachschub kappen. Ich weiß, es ist angesichts des Zustands in den Metropolen utopisch, angesichts der Widersprüche zur PKK und der vorhandenen Solidaritätsbewegung. Auch auf längere Zeit wird es so bleiben. Schade, das wäre was. Eine militante Bewegung, die die Kriegsmaschine lahmlegt.“

Hevala Ronahî hat viel bewegt und bewegt uns und viele andere immer noch. Wir haben immer wieder in bestimmten Phasen darüber nachgedacht, wie sie wohl bestimmte Entwicklungen und Ereignisse bewerten und welche Schlüsse sie daraus ziehen würde. Sie fehlt mir, wie gerne hätte ich sie an unserer Seite.


Zitate aus: Jiyaneke din – ein anderes Leben
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