In Libyen herrscht nach dem blutigen Bürgerkrieg ein gespannter Waffenstillstand. Für Dezember 2021 sind Wahlen vorgesehen. Während es in politischer Hinsicht Fortschritte gibt, ist die Situation auf militärischer Ebene festgefahren. Der Hauptgrund dafür ist der türkische Staat. Das Erdogan-Regime versucht zwar den Eindruck zu vermitteln, die Feuerpause und den damit entstandenen politische Prozess zu unterstützen, unterhält jedoch die überwältigende Mehrheit der ausländischen Truppen in Libyen.
Nach vorliegenden Informationen hat der türkische Staat einen Teil seiner Kräfte zurück nach Syrien transferiert, etwa 15.000 Söldner sind jedoch nach wie vor in Libyen. Die Söldner aus Syrien halten auf der einen Seite Wache für die türkischen Soldaten in Libyen, auf der anderen Seiten werden sie in Lagern militärisch ausgebildet.
Zuverlässige Quellen berichten gegenüber ANF über die aktuellen Bewegungen von dschihadistischen und rechtsextremistischen Milizionären im Dreieck Türkei, Libyen und Syrien. Demnach wurden die persönliche Habe und insbesondere die Telefone den auf dem Luftweg von Istanbul nach Tripolis entsandten Söldnern erst nach der Ankunft in Libyen ausgehändigt. Danach wurden die Truppen gruppenweise auf verschiedene Camps aufgeteilt und dem Bedarf entsprechend an die Front geschickt. Nach dem Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen wurden die getöteten und verwundeten Söldner über die Türkei nach Syrien zurückgebracht. Während manche Gruppen nach Syrien zurückgezogen wurden, wurden einige von ihnen einfach mit neuen Kräften ausgetauscht.
Den gleichen Quellen zufolge werden die nach Beginn des Waffenstillstand nach Libyen verlegten Truppen vor allem im Camp Yarmouk und in Hotels untergebracht. Im Lager Yarmouk werden alle Gruppen in getrennten Einheiten militärisch ausgebildet, insbesondere für den Wüsten- und Städtekrieg.
Nur mit Bestechungsgeld zurück nach Syrien
Ein ANF-Informant berichten, dass der türkische Staat die vertragsmäßig versprochenen Zahlungen in Höhe von 2.000 Dollar an die SNA-Söldner halbiert habe und die Soldzahlungen hinausgezögert werden. Laut einer anderen Quelle sind die Verträge der aus Libyen nach Syrien zurückgebrachten Söldner abgelaufen: „Diejenigen, die nach Syrien zurückkehren wollten, konnten dies nur tun, indem sie die Kommandanten mit 500 Dollar bestochen haben. Die Libyer hassen die Syrer, sie wollen keine Angehörigen der Syrischen Nationalarmee in ihrem Land. Es gibt viele, die zurück wollen. Aber türkische Regierungsbeamte und Gruppenkommandeure sagen, dass sie ihre militärischen Kräfte weiterhin in Libyen halten werden.“
12.835 SNA-Söldner über Efrîn und Azaz geschleust
Der türkische Staat hat über die besetzten Regionen Efrîn und Azaz mindestens 12.835 Söldner aus Nordsyrien nach Libyen geschickt. Von diesen sind nur 1226 bisher nach Syrien zurückgebracht worden. ANF liegt eine Namensliste mit 2.700 Söldnern vor, die in Efrîn und Azaz versammelt und über den Grenzübergang Hawar-Kilis in die Türkei und von dort in den libyschen Bürgerkrieg geschickt worden sind. Aus unseren Recherchen ergibt sich, welche Miliz wie viele Mitglieder zu welcher Zeit nach Libyen entsandt hat.
Die Sultan-Murad-Division und Hamza-Brigade, beides SNA-Milizen, die sich vor allem aus Rechtsextremisten und Dschihadisten rekrutieren, stellten 1722 (Sultan-Murad-Division) und 1810 (Hamza-Brigade) Söldner für den Libyen-Einsatz. Eine 40-köpfige Gruppe reiste am 25. Juli 2020 über den Grenzübergang Hawar-Kilis in die Türkei ein und wurde von dort nach einer zwölftägigen Ausbildung nach Libyen entsandt. Eine weitere Gruppe von 75 Personen wurde am 23. Februar 2021 und eine 35-köpfige Gruppe am 14. März 2021 auf dem gleichen Weg nach Libyen geschickt.
Ebenfalls zu den Milizen mit türkisch-nationalistischer, dschihadistischer Ideologischer Synthese gehört die Süleyman-Shah-Brigade. Diese Gruppe entsandte 1910 Söldner nach Libyen. 125 von ihnen reisten am 26. Februar 2021 über den Hawar-Kilis-Grenzübergang in die Türkei ein und wurden weiter nach Libyen geschleust, 90 weitere am 11. Februar 2021.
150 Mitglieder der Muntasir-Billallah-Brigade wurden am 22. Juni 2020 im türkischen Kırıkhan-Camp eine Woche lang ausgebildet. Die Ausbildung der Dschihadisten sollte die Gruppe für einen Angriff auf die selbstverwalteten Gebiete in Nord- und Ostsyrien vorbereiten. Nach dem Angriff auf die Al-Watiya-Basis in Libyen wurden die Einheiten im Juli 2020 nach Libyen geschickt.
Von der für Entführungen und Lösegelderpressung in Efrîn berüchtigten Miliz Liwa Suqour al-Shamal wurden 430 Mitglieder nach Libyen geschickt, davon 45 im Juli 2020. Zuvor waren sie zehn Tage lang in der Türkei trainiert worden.
Auch 150 Mitglieder der 9. Legion wurden nach Libyen entsandt. 50 von ihnen wurden am 17. Dezember 2020 über den Grenzübergang Hawar-Kilis in die Türkei gebracht, im Kırıkhan-Camp zehn bis 13 Tage ausgebildet und dann nach Libyen geschleust. Quellen zufolge wurde diese Gruppe für den Einsatz in Sirte vorbereitet.
Die für Kriegsverbrechen berüchtigte syrische Dschihadisten-Miliz Faylaq al-Majd ist mit ganzen 978 Mitgliedern in Libyen präsent. Eine 40-köpfige Gruppe wurde am 20. Juli 2020 und eine 65-köpfige Gruppe am 16. Juli über den Grenzübergang Hawar-Kilis in die Türkei gebracht und nach anschließender Ausbildung nach Libyen geschleust. [Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags sehen Ähnlichkeiten im Vorgehen zwischen der SNA-Miliz Faylaq al-Majd und dem IS. Die Gruppe hatte unter anderem Leiche der getöteten kurdischen Kämpferin Amara Renas misshandelt und ein Video davon veröffentlicht.]
Außerdem wurden 1170 Mitglieder von Liwa al-Mutassim, 600 Mitglieder von Jaish al-Watani, 790 Mitglieder von Faylaq al-Rahman, 600 Mitglieder von Ahrar al-Sharqiya, 585 Mitglieder von Jaish al-Islam, 400 Mitglieder von Liwa al-Waqqas, 350 Mitglieder von Liwa-Samarkand, 365 Mitglieder von Faylaq al-Sham und 80 Mitglieder von Hayat Tahrir al-Sham von der Türkei nach Libyen gebracht.
Auch nicht-syrische Dschihadisten wurden unter dem Kommando von Abu Jassin al-Misri aus Syrien über die Türkei nach Libyen geschickt. Dabei handelt es sich Quellen zufolge ausschließlich um ehemalige IS-Dschihadisten.
Rückkehrer durch neue Einheiten ersetzt
Die Anzahl der Söldner, die aus Libyen nach Syrien zurückkehren, ist im Vergleich zu den dort weiterhin stationierten Truppen relativ gering. Die zurückgekehrten Söldner werden sofort gegen neue ausgetauscht. So wurden im Februar 2021 210 Söldner der Hamza-Brigade nach Libyen geschickt und die gleiche Anzahl konnte nach Syrien zurückkehren. Ähnliches gilt für andere Milizen ebenfalls.
18.000 Söldner aus Syrien in einem Jahr nach Libyen entsandt
Mit dem Abkommen zwischen dem Muslimbruderregime in Libyen und der Türkei am 27. November 2019 wurde die Türkei zur Kriegspartei im libyschen Bürgerkrieg. Am 2. Oktober 2020 wurde beschlossen, türkische Truppen nach Libyen zu schicken. Sofort begann auch der Transfer von Söldnern der SNA in die Region. Dem gingen Treffen mit Söldnerführern in den besetzten Gebieten in Efrîn und Azaz voraus. Es wurden in Efrîn vier Rekrutierungszentren eröffnet. Außerdem bestimmten die Kommandanten Söldner, die nach Libyen entsandt werden sollten.
Seit Anfang 2020 hat der türkische Staat insgesamt rund 18.000 SNA-Söldner nach Libyen geschickt. Von diesen wurden mindestens 12.835 über die Linie Efrîn-Azaz in die Türkei und dann nach Libyen geschleust. Sowohl aus Idlib als auch aus den besetzten Regionen Serêkaniyê und Girê Spî sollen Söldner nach Libyen verlegt worden sein. Mit 600 Toten hat die Hamza-Brigade in diesem Rahmen die schwersten Verluste erlitten.
Situation in Libyen weiterhin unsicher
Die von der Türkei unterstützte und international anerkannte Regierung der Nationalen Einheit hat am 23. Oktober 2020 unter Schirmherrschaft der UN einen Waffenstillstand mit dem Parlament in Tobruk unterzeichnet. Das Parlament in Tobruk wird vor allem von Ägypten und Russland unterstützt. Bis zu den für den am 24. Dezember 2021 vorgesehenen Parlamentswahlen wurde eine gemeinsame Regierung gebildet. Der Premierminister und drei Mitglieder des Präsidialrats wurden vom Libyschen Forum für politischen Dialog (LSDF) für die im Februar ins Leben gerufene Übergangsregierung gewählt.
Es gibt immer noch keinen sichtbaren ernsthaften Schritt in Richtung Abzug ausländischer Truppen und Söldner aus der Region, obwohl dies eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Beendigung der politischen und militärischen Krise darstellt. Es wird geschätzt, dass trotz der Appelle der Einheitsregierung, der USA, der EU und Ägyptens aktuell weiterhin Zehntausende ausländische Soldaten und Söldner in Libyen sind. Ein erheblicher Teil dieser Kräfte sind Söldner des türkischen Staates.