„Der türkische Angriffskrieg gegen Efrîn wurde auf Seiten des türkischen Staates und dem Großteil der türkischen Medien, insbesondere der staatsnahen Medien monatelang vorbereitet, tagtäglich wurde die Gesellschaft diskursiv auf einen Krieg eingestimmt. Insgesamt wird die Rojava-Revolution seit den Anfängen in 2012 medial und ideologisch als eine Gefahr und ein Feindbild konstruiert. Euch ist allen bekannt, dass der türkische Staat verschiedene Maßnahmen traf, um die Entwicklungen in Nordsyrien zu stören oder zu zerstören. Sei es durch Unterstützung verschiedener islamistischer Gruppen; einem gänzlichen Boykott und Embargos gegenüber Rojavas, durch ihren Einmarsch in Cerablus oder Al-Bab im letzten Jahr, um die geografische Anbindung der Kantone Kobanê und Efrîn zu unterbinden; oder sei es durch diplomatische Bemühungen auf internationaler Ebene, um die politischen und militärischen AkteurInnen der Revolution als ‚Terroristen‘ zu diffamieren. Ein leider erfolgreiches Beispiel dieser Bemühungen ist das Verbot der Flaggen der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ hier in Deutschland. Die Repression gegenüber aktuellen Antikriegsdemonstrationen nehmen täglich zu, so hat beispielsweise die Polizei in Köln Demos verboten und angegeben, dass Nav-Dem keine Demos anzumelden brauche, weil sie durch ihre ‚Nähe‘ zur kurdischen Befreiungsbewegung ihr Demonstrationsrecht ‚verwirkt habe‘.
Ich habe heute einen anderen thematischen Schwerpunkt, und zwar die massenhafte Haltung der türkischen Gesellschaft und Öffentlichkeit. Was das Massenhafte und die hauptsächliche gesamtgesellschaftliche Atmosphäre und das Klima betrifft, kann man sagen, dass eine breite Unterstützung des Kriegs seitens der türkischen Gesellschaft vorherrscht. Die wenigen Ausnahmen, die unter der Repression, Hetze und Verfolgung leiden, z.B. kurdische und demokratische Oppositionelle, dürften vielen bekannt sein. Ich möchte heute jedoch die Aufmerksamkeit auf die breite Masse und ihre Unterstützung für Kriegs- und Verfolgungspolitik der AKP-Regierung lenken.
Nationalistische Euphorie auf allen gesellschaftlichen Ebenen
Um Euch das Ausmaß dieser Unterstützung zu zeigen, möchte ich einige Beispiele nennen. Die Religionsbehörde DIYANET und diverse ‚Theologen‘ unterstützen den Angriffskrieg. In 90 Tausend Moscheen des Landes wurden Gebete für die Soldaten im Einsatz verrichtet und Predigten in diesem Kontext gehalten. Auch der deutsche Ableger der Diyanet, hier bekannt als DITIB, ist auf Linie des türkischen Staates und verfolgt eine ähnliche Politik in ihren zahlreichen Moscheen.
Auf der Ebene des Fußballsports, und die türkische Gesellschaft liebt den Fußball, haben alle großen Clubs des Landes öffentlich ihre Solidarität mit dem Krieg gegen Efrîn bekundet. Der größte Unternehmerverband TÜSIAD hat eine öffentliche Erklärung abgegeben, die den Krieg unterstützt. Mitglieder von Kamu Sen, eine Gewerkschaft im öffentlichen Dienst, haben in militärischer Kleidung ihren Beistand mit der türkischen Armee erklärt. Alle Parteien, außer der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und marginale sozialistische Parteien, stehen hinter dem Angriffskrieg.
In der Türkei findet im nächsten Jahr eine wichtige Wahl statt. Und das einzige Mittel, das Erdoğan derzeit Konkurrenz machen kann, ist der türkische Nationalismus. Die neugegründete Iyi Parti (Gute Partei) ist eine explizit nationalistische Partei und hat sehr gute Umfragewerte. Auch die anderen größeren Parteien wie die CHP oder MHP befinden sich in einem Wettstreit um nationalistische Themen. Nicht demokratische oder reformorientierte Themen beherrschen ihren Wahlkampf, sondern das Türkentum, die Interessen der Türkei oder anti-kurdische Politiken.
Verschiedene Umfragen zeigen, dass bis zu 80 Prozent der Bevölkerung die Militäroffensive begrüßen. In den türkischen Medien laufen Sendungen und Nachrichten in nationalistischer und kriegerischer Sprache hoch und runter, die Tageszeitungen quasi aller politischen Spektren sind ebenso in einer Pro-Krieg-Haltung. Und auch viele andere gesellschaftlichen Akteure und Aspekte, die hier nicht aufgezählt wurden, könnten mit in diese Reihe aufgelistet werden.
Wir sehen ein Ineinandergreifen von verschiedensten Säulen der Gesellschaft, das synergetisch eine massenhafte nationalistische Grundhaltung und Orientierung erzeugt. Bedenkt man die Repression, Unterdrückung und Verfolgung andersartiger oder kritischer Haltungen, dann erscheint die gegenwärtige Stärke dieser Massenhaltung um die AKP und Erdoğan umso deutlicher.
Man kann sich ausmalen, welche Stimmung in der Türkei herrscht und dass es sehr schwer ist für viele Menschen, sich dieser zu entziehen, geschweige denn eine gegenteilige Position einzunehmen.
Ursprung und Geschichte des türkischen Nationalismus
Die zentralen Ursachen und die Kraft dieses Phänomens liegen sicherlich im türkischen Nationalismus. Es macht Sinn, diesbezüglich einen groben historischen Einblick zu geben. Der Ursprung des türkischen Nationalismus geht auf die Ideologie der Jungtürken zurück, die im ausgehenden 19. Jahrhundert entstand und von den in Europa entstandenen Konzepten der Rasse, Nation und Faschismus geprägt wurde. Die Jungtürken waren eine reformistische Bewegung in der Zerfallsphase des Vielvölkerreiches der Osmanen. Neben politischen und wirtschaftlichen Erneuerungen, forderten bzw. entwickelten sie auch auf der identitären Ebene eine Reform. Nicht mehr die osmanisch-muslimische Identität, sondern die rassisch-türkische Nation bestimmte die Identitätskonstruktion. Je mehr einzelne Gruppen sich nationalstaatlich vom Osmanischen Reich lösten, so beispielsweise diverse Volksgruppen auf dem Balkan, desto stärker wurde die türkische Nation in den Mittelpunkt gestellt.
Man kann also sagen, dass die Entstehung des türkischen Nationalismus sowohl europäisch geprägt als auch eine Angstreaktion war. Angst davor, immer mehr Gebiete zu verlieren und vom Global-Player in einen Zustand der Bedeutungslosigkeit degradiert zu werden.
Den Jungtürken schwebte vor, einen ethnisch monolithischen Staat zu errichten, in dem nur Türken lebten. Minderheiten hatten in einem derartigen Staat kein Existenzrecht, es sei denn, sie würden auf ihre Kultur und Sprache verzichten und sich ‚türkisieren‘ lassen.
Nach dem Zusammenbruch des jungtürkisch beherrschten Osmanischen Reichs und ihrer Niederlage im Ersten Weltkrieg auf Seiten des Deutschen Kaiserreichs, wurden auch die Jungtürken besiegt, die zuvor noch den Genozid an den nahöstlichen Christen, den Armeniern, Pontosgriechen und den Assyrern begangen haben, um das eben erwähnte Vorhaben der Türkisierung und der Beseitigung aller Hindernisse zur Türkisierung zu erreichen.
Im Gegensatz zum Deutschen Kaiserreich, war das Osmanische Reich keiner totalen Niederlage ausgesetzt. Von 1919 bis 1923 fand ein Befreiungskrieg statt, auf dem die Gründung der Republik Türkei im Jahre 1923 durch Mustafa Kemal Atatürk folgte. Durch Mustafa Kemal, der selbst den Jungtürken angehörte, aber an ihren Genoziden nicht beteiligt war, konnte sich der Nationalismus jungtürkischen Ursprungs in modifizierter Art als Ideologie des türkischen Staates am Leben halten und dort als Überbau verankern. Ihre Ideen und Konzepte bestimmten die Form und das Wesen der neuen türkischen Republik.
Das Prinzip des Nationalismus wurde dahingehend interpretiert, in die Verfassung verankert und institutionell und über das Erziehungssystem übermittelt, dass in der Türkei keine andere Nation oder Ethnie außer der türkischen existiert. Alle Positionen in den Staatsorganen sollten von konformen türkischen Nationalisten eingenommen werden.
Als Nachfolger der Jungtürken waren auch die Kemalisten um Atatürk angetan von europäischen Staaten und Ideen; sie übertrugen die sich in einem historisch komplexen Prozess herausbildenden europäischen Konzepte schablonenartig auf den mosaikartigen Nahen Osten bzw. das ehemalige Osmanische Reich. Der Nationalismus wurde nach dem (ethnischen) deutschen, der Nationalstaat nach dem (zentralistischen) französischen Modell etabliert: Dies impliziert die zentrale staatliche Herrschaft alles Türkischen über alle anderen Gruppen und legt den Grund für deren Zwangsassimilation und Unterdrückung. Die Zwangsassimilations-, Vernichtungs- und Vertreibungspolitik der Türkei gegenüber Kurden und anderen Minderheiten ist die Folge dieser nationalstaatlichen Politik und dürfte vielen hier bekannt sein.
Man muss sich vorstellen, dass in allen wichtigen Säulen der Sozialisierung – der bildungstechnischen, familiären und medialen – die Menschen seit Jahrzehnten mehr oder weniger dieser Ideologisierung ausgesetzt sind. Ich will damit auf die Bedeutung der (nationalistischen) gesellschaftlichen Struktur hinweisen und betonen, dass gewöhnliche Menschen unter starkem Einfluss dieser stehen und ich überzeugt bin, dass unter anderen Umständen es nicht möglich wäre, dass die türkische Gesellschaft tendenziell so faschistoid nationalistisch ist.
Verschiedene Arten des faschistoiden türkischen Nationalismus
Die Nationalismen der Kemalisten der CHP und der faschistischen MHP, die die Nachfolger der Jungtürken sind, unterscheiden sich nur grob in einigen unwesentlichen Punkten voneinander. Zum Beispiel darin, dass die MHP ein großtürkisches Reich anstrebt, die Kemalisten dagegen sich auf das Gebiet der heutigen Türkei begrenzen.
Insbesondere wegen dem hundertjährigem Widerstand der KurdInnen, vor allem in den letzten vierzig Jahren durch die kurdische Befreiungsbewegung um die PKK und Abdullah Öcalan, befindet sich der Kemalismus heute in einem Auflösungsprozess. Von den sechs Säulen des Kemalismus ist nur der Nationalismus übrig geblieben.
Seit mehreren Jahrzehnten wurde der türkische Staat Schritt für Schritt einer Islamisierung ausgesetzt, durch die sogenannte türkisch-islamische Synthese. Die islamistische AKP ist in diesem Prozess zur hegemonialen Kraft im türkischen Staat aufgestiegen. Der sogenannte ‚Grüne Faschismus‘ ist geprägt durch den politischen Islam, und neo-osmanische Ziele, das heißt der Herrschaft über die muslimische Welt unter der türkischer Führung. Man kann sagen, dass sie die Religion als politisches Mittel für türkische Herrschaftsansprüche instrumentalisieren. Die widerständigen Kurden werden auf der diskursiven Ebene mit diesem Prozess nicht mehr nur als ‚Terroristen‘, sondern heute zudem religiös konnotiert als ‚Ungläubige‘ bezeichnet. Der türkische Parlamentspräsident selbst bezeichnete letzte Woche den Krieg gegen Efrîn als Dschihad. Insgesamt wird der Krieg in Efrîn religiös konnotiert und als islamische Befreiung von westlichen Mächten und ihren atheistischen kurdischen Verbündeten dargestellt. Dabei ist es die Türkei, die in der NATO ist, in die EU will, beste Beziehungen zu Deutschland hat oder vollausgestattet ist mit westlichen Waffen.
Vor zwei Tagen wurde nach den hohen Verlusten der türkischen Armee auf Twitter eine Kampagne mit dem Hashtag ‚YansinSuriyeYikilsinAfrin‘ (Syrien soll brennen, Afrin soll vernichtet werden) gestartet, die den ersten Platz der weltweiten Trends erreichte, das bedeutet, dass mehrere zehntausende Tweets getätigt wurden. Schaut man sich die Beiträge dort an, dann sieht man, wie alle Formen des türkischen Nationalismus in diesem Hashtag vereint sind. Ob Anhänger der MHP, der CHP oder der AKP, alle sind im antikurdischen Nationalismus vereint. Eine der häufigsten Forderungen dabei ist ‚Tas üstüne tas, omuz üstünde bas kalmamali‘ (Kein Stein auf dem anderen lassen, keinen Kopf auf den Schultern lassen). ‚Also die totale Zerstörung und Tötung aller Menschen in Efrîn‘, kommentiert der deutschtürkische Journalist und Politologe Ismail Küpeli diesen Aufruf.
Argumente und Ideologie zwei Seiten derselben Medaille
Begründet wird eine solche Haltung und Politik mit dem Argument der Unteilbarkeit des türkischen Staates, der Bedrohung durch separatistische Terroristen oder mit dem Argument, dass sich die Türkei im Kampf gegen moderne Kreuzritter bzw. westlich-imperiale Mächte befindet.
Die Angst, die die Jungtürken zum extremen Nationalismus und zu Genoziden trieb, scheint gegenwärtig immer noch zu bestehen und ähnliche Handlungen hervorzurufen.
Diese Argumente haben ferner die Funktion, den eigenen faschistoiden Charakter und die Unterdrückung der KurdInnen und Kurdistans zu verstecken. Die Argumente und nationalistische Ideologie sind je eine Seite derselben Medaille.
Kritische Stimmen außerhalb diesen argumentativen Gewands werden entweder als Vaterlandsverräter, Terroristen oder Terrorismusunterstützer unterdrückt.
Ismail Küpeli sieht in dieser kriegs- und blutdürstigen Politik der AKP-Regierung und der Gefolgschaft des großteils der türkischen Zivilgesellschaft eine Parallele zu dem Genozid an den Armeniern und stellt fest: ‚Die Ideologie, die für die Taten damals verantwortlich war, ist nicht verschwunden. Sie wirkt auch heute und ebnet wieder den Weg für Tod und Vernichtung.‘
Ausblick
Ich möchte zum Schluss im Gegensatz dazu einen positiven Ausblick geben: Im Informationszeitalter, wo uns Bilder und Berichte über Kriegsverbrechen in Efrîn innerhalb weniger Minuten erreichen, und der Globalisierung von politischen Prozessen, wo neben der Türkei auch viele andere Mächte in Syrien aktiv sind und ihre Interessen verfolgen, wird es der AKP-Türkei nicht einfach möglich sein, vor allen Augen ähnliche Verbrechen wie die Jungtürken, die Grauen Wölfe oder die Kemalisten zu begehen. Schon gar nicht, wenn sie vorhat, solche Verbrechen außerhalb der Türkei im Norden Syriens und gegen den sehr gut organisierten und willensstarken kurdischen Widerstand begehen will. So meine Spekulation und Hoffnung. Was aber realistischer ist, ist die Entvölkerung und Annektierung Efrîns durch die Türkei. Erdoğan hat mehrmals öffentlich ausgesagt, dass Efrîn ‚seinen eigentlichen Besitzern zurückgegeben werden soll‘. Damit ist gemeint, dass dort Erdoğan und Türkei konforme islamistische Kämpfer und ihre Familien angesiedelt werden sollen. Eine solche gefährliche Biopolitik, die die Region in einen jahrzehntelangen Krieg treiben würde, dürfen wir nicht zulassen!
Der Widerstand Efrîns braucht unsere Solidarität und eine klare Haltung gegenüber der Staatspolitik der Regierenden, die nur im Interesse der Großkonzerne und der Geostrategie handeln. Wir hier müssen die Ziele und das Wesen der heutigen Türkei demaskieren, ihre Unterstützung durch die EU, insbesondere der BRD, trotz des Völkerrechtsbruchs und der islamistischen Entwicklung der Türkei anprangern, um so eine Wiederholung der maßgeblichen Rolle Deutschlands im Zusammenhang der türkisch-nationalistisch getriebenen massenhaften Tötung und Vertreibung andersartiger Gruppen zu verhindern und um die wahrliche Demokratisierung der Türkei mittels der gerechten Lösung der kurdischen Frage zu ermöglichen.“
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Sozialwissenschaftler Ramazan Mendanlioglu, der für ANF und Civaka Azad zuvor aus familiären Gründen unter den Pseudonymen „Ramo Menda“, „Ronî Tarî“ und „Welat Parêz“ geschrieben hat, forscht seit einigen Jahren zum Kurdenkonflikt, der kurdischen Bewegung und der Revolution Rojava an der Universität Hamburg. „In Zeiten wie diesen muss Gesicht gezeigt werden, wenn auch die Einreise in die Türkei und der Besuch der Familie für die nächsten Jahre nicht mehr möglich sein werden“, so Mendanlioglu.