Die Türkei hat sich seit langem von der NATO entfernt und nach Eurasien orientiert. Nach dem Zusammenbruch ihrer Pläne durch die Abwahl von Donald Trump und der Belastung der engen Beziehungen zu Russland nach den Entwicklungen im Mittelmeer und in Armenien will sich die Türkei nun wieder Europa anbiedern. Noch vor wenigen Wochen hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan zum Frankreich-Boykott geblasen und Dschihadisten gegen Europa aufgestachelt. In Reaktion auf dieses Vorgehen kam ein Verbot der Grauen Wölfe in Frankreich auf die Tagesordnung. Yasin Sunca von der Universität Gent in Belgien analysiert diese Entwicklungen im ANF-Interview.
Die türkische Regierung hat in verschiedenen Erklärungen eine Hinwendung zur EU und den USA signalisiert. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Nicht nur die Türkei, die ganze Welt befindet sich im Moment an einem Punkt, an dem man nicht sagen kann, wohin sie sich entwickelt. Wenn wir einen kurzen Blick über den Mittleren Osten hinaus werfen, dann sehen wir beispielsweise China. Dort herrscht ein autoritäres Regime und in der Bevölkerung gibt es ein ernstzunehmendes Aufstandspotential. Wegen des autoritären Systems ist das nach außen nicht so sichtbar, aber die Proteste in Hongkong dauern seit Jahren an. In Indien treibt Premierminister Narendra Modi den Hindu-Nationalismus auf die Spitze und sorgt so für massive Probleme. Der Mittlere Osten erstickt ohnehin in Problemen. Für Russland gilt das gleiche. Wenn wir uns dieses Themenspektrum ansehen, können wir sagen, dass es tatsächlich eine ernste Krise und Chaos auf der Welt gibt. Von der Türkei aus betrachtet werfen sich im Zusammenhang mit der Krise gewisse Probleme auf.
Was für Probleme?
Man tut so, als wäre mit der Wahl von Joe Biden in den USA alles gelöst, so als ob Trump das ganze Problem gewesen wäre. Es gibt jedoch Gründe, die Trump in den USA oder Modi in Indien an die Macht gebracht haben und diese Gründe bleiben weiter existent. Diese Leute sind aufgrund struktureller Probleme an die Regierung gekommen. Biden oder auch Kamala Harris sind Vertreter des systemischen Musters, das die aktuellen Probleme hervorgebracht hat.
Gibt es in der Türkei also einen falschen Eindruck von den USA?
Ja. Es wird im Ernst daran geglaubt, dass die USA Erdoğan auf einmal für seine Menschenrechtsverletzungen bestrafen werden. Insbesondere in liberalen Kreisen in der Türkei gibt es solche hochproblematischen Ansichten. Die Menschen glauben, die etablierte US-amerikanische Ordnung sei zurückgekehrt. Diese Ordnung stellte aber die Wurzel von Trumps Macht dar. Erdoğan und Biden kennen sich sehr gut. Erdoğan ist jemand, der auch systemische Transformationsprozesse sehr gut in seine Perspektive einbeziehen kann. Es wird also vermutlich nicht dazu kommen, dass es für ihn sehr eng wird und keine Lösung gefunden werden kann. Vielleicht wird es kurzfristig Streit geben; aber es ist sehr wahrscheinlich, dass es dort weitergeht, wo Trump aufgehört hat. Denn Erdoğan und seine Ratgeber kennen dieses System sehr gut. Man darf auch nicht vergessen, dass die MHP Erdoğans Partner ist. Dabei handelt es sich um den sichtbaren Teil einer tief in den Staat reichenden inneren Koalition. Es geht dabei um die Überschneidung zwischen türkischem Rassismus und Islamismus. Diese Struktur hat seit den 80ern die NATO und die USA unterstützt. Es darf auch nicht vergessen werden, dass Alparslan Türkeş selbst der erste von der NATO ausgebildete Konterguerilla war. Wenn man sich an diesen historischen Kontext erinnert, dann dürften die Illusionen in die neue US-Regierung schnell geerdet werden.
Wie bewerten Sie Erdoğans neuerliche Zuwendung nach Europa?
Die EU ist eine im Grunde liberale Struktur und verfolgt eine liberale Wirtschaftspolitik. Sie betrachtet Fragen wie die Menschenrechte als einen Mechanismus zur Legitimierung der liberalen Wirtschaftspolitik, aus der sie durch die Fortsetzung von Abkommen wie der Zollunion mit der Türkei große Vorteile zieht. Die Europäische Union sendet folgende Botschaft an Tayyip Erdoğan: „Biden kommt, Trump ist weg und deine Ära ist vorbei. Wenn du mit dem rassistischen Getrommel aufhörst, dann sehen wir weiter.“ Dabei muss man dazu sagen, dass die EU-Staaten kein Problem mit Rassismus haben, schließlich ist die staatliche Struktur auch in Frankreich und Deutschland rassistisch. In diesem Sinne geht es nicht darum, ob man wie die MHP rassistisch auftritt, als NATO-Anhänger oder als nach Eurasien orientierte Regierung. Es geht vielmehr darum, dass der Staat und seine Regierung vernünftig handeln. Das ist es, was die EU will. Ein Ergebnis dieser Deals ist das Verbot der Grauen Wölfe in Frankreich. Dabei greift diese Organisation seit Jahren Armenier und Kurden an. Die Türkei hat den faschistischen und rassistischen Trend auf der Welt genutzt und auf dieser Grundlage Migranten in Europa organisiert. Das betrifft insbesondere Vereinigungen in Frankreich.
Hat Erdoğan vor seiner erneuten Hinwendung Richtung Europa mit seinen verbalen Ausfällen gegen Frankreich ähnlich wie im „Arabischen Frühling“ versucht, sich an die Spitze der Muslime zu stellen? Und ist im das Ihrer Meinung nach gelungen?
Das ist sicher eine der Strategien, von denen Erdoğan träumt. Aber wenn wir uns die Ausgangsposition in Europa und die Muslime in Europa ansehen, so ist das nicht sehr wahrscheinlich. In Europa gibt es eine islamfeindliche Realität und einen steigenden Rassismus. Darüber hinaus bestehen auch in Europa, Frankreich und England sehr ernste strukturelle Probleme unabhängig von der momentanen Politik. Beispielsweise bekommt eine Person mit einem islamischen Namen in Deutschland keinen Lehrstuhl an einer Universität. Ähnliche strukturelle Probleme existieren auch in Frankreich. Daher bestand eigentlich die Möglichkeit, dass so etwas geschehen könnte. Diese Möglichkeit entstand mit der Machtergreifung durch die Muslimbrüder in Ägypten und verschwand mit dem Putsch gegen sie wieder. So ist auch der „moderate Islam“, den Erdoğan damals vertrat, von der Tagesordnung verschwunden und es hat eine Radikalisierung stattgefunden. Im arabischen Frühling trugen Menschen zum Beispiel in Tunesien Bilder von Erdoğan. Aber diese Zeit ist vorbei. Mit den Anschlägen des IS in Europa seit Beginn des Syrien-Kriegs ist hier ein Bild der Verbindung des Islam mit Terrorismus sehr weit verbreitet. Das beunruhigt Muslime außerhalb salafistischer, dschihadistischer Strukturen. Denn es berührt ihr Leben persönlich. Recep Tayyip Erdoğan erlebt nicht Tag für Tag Rassismus, aber ein Marokkaner, der in Belgien lebt, egal welcher Generation, erlebt es den ganzen Tag lang. Letztendlich gibt es keine gesellschaftliche oder politische Basis, die Erdoğan kontrollieren kann.
Wie sehen Sie die aktuelle Krise in der Türkei und was sind deren Folgen?
Generell kann man sagen, die Türkei macht eine aggressive Außenpolitik, um sich im Inland zu konsolidieren. So wird im allgemeinen auch ihre Haltung in Libyen, Rojava und Armenien erklärt. Aber wenn die Türkei außenpolitisch so weitermachen will, dann braucht sie eine stabile Lage im Inland. Man kann es auch umgekehrt betrachten. Die weltweite Krise macht es notwendig, dass die Türkei auch im Ausland agiert. Die Regierungskoalition aus Islamismus und rassistischem Nationalismus erfordert ähnliche Allianzen im Ausland. Das hängt auch mit der kurdischen und der armenischen Frage zusammen. Weder im 20. noch im 21. Jahrhundert wurde die kurdische Frage als regionale Angelegenheit behandelt. Wenn man das von der Warte dieses Staatsverständnisses aus betrachtet, dann schwebt die Lösung dieser Frage einem wie eine Akkumulation von innenpolitischen wie auch außenpolitischen Problemen vor Augen. Der ganze Ergenekon-Block, der NATO-Block, der eurasische Block und der nationalistische Block haben vor diesem Hintergrund Angst um ihre Existenz. Das ist meiner Meinung nach auch nicht unbegründet. Und der islamistische Block, vertreten durch den anderen Flügel, den von Tayyip Erdogan, der versucht, an der Macht zu bleiben, hat ebenfalls ein historisches Gedächtnis.
Was meinen Sie mit historischem Gedächtnis?
Er will nicht, dass sich wieder der politische Islam und der türkische Nationalismus oder der Laizismus als Feinde einander gegenüberstehen. Sie wollen sich nicht gegen die Laizisten stellen und so in Gefahr geraten, selbst den von ihnen geschaffenen Vollmachten des Staates zum Opfer zu fallen. Der politische Islam will sich nicht noch einmal mit dem türkischen Nationalismus oder dem Laizismus konfrontieren. Das ist das politische Gedächtnis des Islam. Innerhalb der AKP gibt es auch Fraktionen. Manche haben Wurzeln in der Saadet-Partei oder in religiösen Orden. Und dieses Problem betrifft sie alle.
All das wird durch Erdoğans populistische Konsolidierung verursacht und so entsteht eine Koexistenz des politischen Islams und der Staatsmentalität. Aber die Entwicklungen im Hintergrund zeigen etwas ganz anderes und das, was wir als Deal bezeichnen, kommt hier zum Tragen. Es gibt im Hintergrund einen Bruch zwischen den NATO-Unterstützern und den nach Eurasien Orientierten, wie auch zwischen den Pragmatikern wie Erdoğan und denjenigen, welche auf das gesellschaftliche Gedächtnis des politischen Islam hinweisen. Alle Widersprüche, in denen sich die Türkei befindet, drehen sich ein Stück weit um den Weg, den die Türkei einschlagen soll. Auch der Widerspruch zwischen Berat Albayrak und Süleyman Soylu kann in diesem Rahmen als Widerspruch zwischen Pelikan und Ergenekon verstanden werden.
Hier musste Erdoğan Opfer bringen. In der Tat kann der Rücktritt Albayraks als ein weiteres Zugeständnis des politischen Islam an den türkischen Nationalismus verstanden werden. Wenn wir uns das ganze chronologisch anschauen, dann arbeitet die MHP daran, die AKP zu schwächen und durch sie den politischen Islam unter Kontrolle zu bekommen. Im Moment ist die AKP absolut nicht mehr so manövrierfähig wie zwischen 2007 und 2013. Sie hat keinen Raum mehr, denn der Raum ist größtenteils von den Nationalisten besetzt. Erdoğan hat sich jahrelang über das Regime der Bevormundung beschwert, aber dieses Regime ist jetzt von der AKP selbst geschaffen worden.
Was bedeuten diese Krisen und die Strategie der Türkei für die Kurden?
Die im Jahr 2010 weltweit beginnenden Proteste und Aufstände haben den Kurden ein weites Feld geöffnet. Gekrönt wurde diese Entwicklung mit der Revolution von Rojava. Wie ich bereits sagte, wird die kurdische Frage heute wie nie zuvor als ein regionales Problems diskutiert. Darüber hinaus wird nicht nur über Rojava, Nord- oder Südkurdistan im Einzelnen diskutiert, sondern auch über die Kurden als Ganzes. Einst hat der britische Imperialismus die Kurden bei ihrer Unabhängigkeit unterstützt und dann fallengelassen. Bis heute gab es dazu keine Parallele. Aber jetzt existiert diese Parallele. Wenn der Imperialismus in der Region weiterexistieren möchte, muss er etwas zur kurdischen Frage tun, auch wenn es nur etwas kosmetisches ist. Damit meine ich natürlich die kurdische Bewegung, in deren Zentrum die PKK steht, einschließlich Rojava und bestimmten Strukturen in Şengal, oder auch in Ostkurdistan. Diese Phase bietet viele Möglichkeiten, aber einer der entscheidenden Faktoren für die Kurden sind die Widersprüche untereinander. Dabei geht es nicht nur um Barzanî, es geht auch um die Sorgen anderer Kreise in Südkurdistan. Die Sorge ist, dass Trump vor seinem Ausscheiden einen überraschenden Schritt unternehmen wird.
Welchen denn?
So etwas wie die Soldaten aus dem Irak und Syrien abzuziehen. Biden würde diese Entscheidung zurücknehmen, aber eine Woche oder gar ein Tag mit so einer Entscheidung würde ein Massaker bedeuten. Insbesondere für Rojava. Heute stehen sich die PKK und die von der Türkei unterstützten PDK-Peschmerga in Şengal gegenüber. Auch das resultiert aus dieser unklaren Übergangslage. Denn die Strategie des türkischen Imperialismus ist es, sich an einem Ort festzusetzen und ihn dann nicht mehr zu verlassen.