Fast ein halbes Jahrhundert ist vergangen seit dem Massaker von Kızıldere. Nach dem Militärputsch im Jahr 1971 wollte die neue Regierung die Revolutionäre Deniz Gezmiş, Yusuf Aslan und Hüseyin Inan als Mitglieder der Volksbefreiungsarmee der Türkei (THKO) hinrichten. Am 30. März 1972 wurden zehn Mitglieder der THKO und der THKP-C (Volksbefreiungspartei-Front der Türkei), die es sich zum Ziel gesetzt hatten, die Hinrichtungen zu verhindern, in Kızıldere in der Provinz Tokat von Sicherheitskräften ermordet. Unter ihnen war auch Mahir Çayan, Mitbegründer der THKP-C.
Çayan nahm am 27. März 1972 zusammen mit Ertuğrul Kürkçü, Cihan Alptekin, Nihat Yılmaz, Erttan Saruhan und Ahmet Atasoy zwei englische und einen kanadischen Radartechniker der NATO-Basis in Ünye gefangen. Die Sicherheitskräfte durchkämmten das Gebiet bis auf den letzten Quadratmeter und umstellten am 30. März das Haus, in dem sich die Revolutionäre aufhielten.
Obwohl das gesamte Dorf umstellt war, fassten Çayan und seine Mitstreiter den Entschluss, sich nicht zu ergeben. Ertuğrul Kürkçü versteckte sich in einer Scheune und überlebte als einziger. Mehrere Quellen berichten, dass Verwundete im Anschluss an das Gefecht vor Ort exekutiert wurden. Kürkçüs Gefangennahme kam nur deshalb ans Licht, weil sein Vater ihn nicht unter den Leichnamen identifizieren konnte.
„Diese Gruppe sollte einen Funken entfachen“
Am 31. Mai 1971, ein knappes Jahr vor dem Massaker von Kızıldere, überlebte das THKO-Mitglied Mustafa Yalçıner ein Gefecht mit der Militärpolizei (Jandarma) und wurde verletzt gefangengenommen. Wir haben ihn gefragt, was sich heute im Gegensatz zur Zeit um 1968 geändert hat. An der Notwendigkeit des Sozialismus hat sich laut Yalçıner nichts geändert, aber die Herangehensweise an politische Aktionen sei anders:
„Seit Kızıldere sind 49 Jahre vergangen, fast ein halbes Jahrhundert. Seitdem haben sich natürlich sowohl in der Türkei als auch im Rest der Welt und in Bezug auf die revolutionären Kräfte einige Dinge verändert. Aber am Fundament hat sich nichts geändert, denn der Kapitalismus ist immer noch der gleiche wie damals. Es ist noch immer notwendig, ihn durch den Sozialismus zu ersetzen, und dafür muss eine Revolution stattfinden. Was die Grundlagen angeht, hat sich also nichts verändert.
Seit damals hat sich vor allem die Herangehensweise an Aktionen geändert. Früher haben wir in der THKO oder THKP-C, also die Menschen um Deniz und Mahir, gedacht, dass es einfach sein würde, eine Revolution in die Tat umzusetzen. Wir dachten, diese Revolution ließe sich durchführen, wenn eine kleine Gruppe von Menschen zur Waffe greift. Natürlich dachten wir nicht, dass mit so einer kleinen Gruppe dann alles getan sei. Diese Gruppe würde einen Funken entfachen. Wir waren keine Maoisten, aber unsere Ideen ähnelten dem, was Mao über den Funken, der einen Steppenbrand entfacht, gesagt hatte. Man könnte auch sagen: Der Funke würde sich selbst vermehren und dieses Feuer wäre dann die Revolution. Die revolutionären Kräfte sollten den Anfang machen und dann würden die Landbevölkerung und alle Teile der Arbeiterschaft sich der Revolution anschließen und sie zum Sieg führen. Ich denke, dass es schwer war, unser Ziel zu erreichen, weil eine wirkliche Beteiligung und Einmischung der Massen nicht gegeben war.
Wenn wir auf die vergangenen 50 Jahre zurückblicken, ist einer der Hauptunterschiede zur heutigen Zeit, dass der Kampf ein Kampf der Massen geworden ist und dass die Arbeiterklasse im Zentrum dieses Kampfes steht und voranschreitet. Damit möchte ich nicht sagen, dass die Werktätigen und die Menschen in den Dörfern früher keinen Platz in der revolutionären Bewegung gehabt hätten. Weder die Leute um Deniz noch die um Mahir haben das so gesehen. Aber zu jener Zeit war die Idee, dass sich Arbeiter und Landbevölkerung dem Kampf von Menschen wie Deniz und Mahir anschließen und ihn so voranbringen würden. Ich denke, dass wir jetzt an einem Punkt sind, an dem Arbeiterinnen und Arbeiter sowie die Landbevölkerung ihren Kampf selbst aufnehmen werden. Wir werden nur ein Werkzeug in diesem Kampf sein. Ja, vielleicht wird es eine Partei geben, die diesen Kampf anführt. Im Gegensatz dazu ginge es früher vor allem darum, anerkannt zu werden als die, die an der Spitze der Avantgarde stehen. Jetzt werden die Menschen selbst in ihrem eigenen Kampf zeigen, dass sie ein Subjekt sind.“
Fehlende Organisation
Nicht nur der Blick auf Aktionen hat sich laut Yalçıner geändert. Auch habe die Hoffnung vieler unter den Niederlagen des Sozialismus gelitten. Aber das werde nicht so bleiben:
„Früher schöpften Millionen von Menschen Hoffnung aus den Sowjets. Aber die Türkei und die Welt hat sich geändert, so etwas gibt es nicht mehr. Auch in Frankreich oder Italien gibt es keine unabhängige Arbeiterpartei mehr. In der Türkei zum Beispiel gingen am 1. Mai 1979 eine Million Menschen auf die Straße, nachdem DEV-YOL und die THKO-Nachfolgeorganisation Halkın Kurtuluşu (Volksbefreiung) gemeinsam dazu aufgerufen hatten. An fast 80 verschiedenen Orten gab es Aktionen.
Eine weitere Sache hat sich heute im Gegensatz zu '68 verändert: In eine Reihe von Niederlagen, die der Sozialismus weltweit erlitten hat, reiht sich auch der Militärputsch vom 12. September 1980 ein, der die sozialistischen Kräfte in der Türkei wie eine Dampfwalze überrollt hat. Natürlich ist Widerstand geblieben, aber es gibt keine organisierten Kräfte mehr, die die Arbeiter derart in Bewegung versetzen könnten wir damals. Früher hat der Gewerkschaftsverband DISK wirkliche Streiks organisiert. Heute können seine Funktionäre kaum noch eine Demonstration auf die Beine stellen. Der Grund dafür ist nicht, dass die Türkei reaktionärer und religiöser geworden ist, sondern dass die Arbeiterinnen und Arbeiter sich den Reaktionären angeschlossen haben. AKP und MHP dominieren die Organisationen der Arbeiterklasse. Zum Beispiel waren viele derer, die an den als „Metallsturm“ bekannt gewordenen Aktionen [tr. „metal fırtına“, Streiks ohne Gewerkschaftsunterstützung im Metallsektor in den Jahren seit 2015] teilgenommen haben, AKP- oder MHP-Unterstützer. Aber sie werden ihre Position ändern, jetzt wo sie gegen die Gewerkschaftsbürokratie und die Regierung aufgestanden sind.“
„Streikende Arbeiter haben die Diktatur beendet“
Derartigen Streiks schreibt Yalçıner auch in Zukunft eine wichtige Rolle zu: „Ich denke nicht, dass wir gerade das gleiche Maß an Repression erleben wie 1980. Die AKP konnte diese Zustände noch nicht herstellen. Natürlich wird sie jede Gelegenheit dafür ergreifen, aber es ist ihr noch nicht gelungen. Damals wurden mindestens 50 Menschen hingerichtet, auch wenn einige von ihnen Rechte waren. Streiks waren komplett verboten. Heute werden per Dekret vorübergehende Verbote verhängt, aber die Werktätigen können trotzdem Streiks durchsetzen, wenn sie die faktische Stärke dazu haben.
Auch aus der am 12. September 1980 geschaffenen Situation sind wir so herausgekommen. Die Streiks beim Telekommunikationskonzern NETAŞ im Jahr 1986 haben ohne Erlaubnis der Militärjunta stattgefunden. Sie haben diese faschistische Diktatur zerstört. Das geschah in einem Prozess, der sich bis hin zu den Aktionen, Streiks und Fabrikbesetzungen in Zonguldak in den 1990ern erstreckt. Sie sind es, die Turgut Özals Macht untergraben haben. Diese Aktionen haben die Demokratisierung des Landes ermöglicht. Dass das einmal passiert ist, heißt nicht, dass es nicht wieder passieren kann. Auch wenn die Geschichte mehr ist als eine Aneinanderreihung von Wiederholungen wird sich das Leben entsprechend der Klassendynamiken ändern, wenn diese an Kraft zunehmen. Ja, manchmal unterwerfen die Menschen sich, aber manchmal kämpfen sie sich auch frei aus dem Getriebe der Unterdrückung, wie sie es nach dem 12. September getan haben. Wir werden das erneut erleben und weder wird das Regime die Kraft haben, das zu verhindern, noch wird das Betäubungsmittel namens ‚bürgerliche Opposition‘ ein wirksames Gegenmittel sein.“