Bilanz Iran und Rojhilat: Wie entwickelten sich die Proteste?

In Rojhilat (Ostkurdistan) und Iran wird seit einer Woche gegen Armut, Arbeitslosigkeit und gegen die repressive Politik der islamischen Regierung protestiert.

Vor genau einer Woche begangen in Iran und Rojhilat (Ostkurdistan) Proteste gegen Armut, Arbeitslosigkeit und gegen die repressive Politik der islamischen Regierung. Nachdem am 28. Dezember in der eher konservativen Stadt Maschhad auf dem Şuheda-Platz Proteste gegen das Kreditsystem ausbrachen und Regimekräfte die Menschenmenge angriff, weiteten sich die Demonstrationen auf das ganze Land aus.

Anfängliche Parole: „Nein zur Armut“

In Maschhad, der Geburtsstadt des obersten Religionsführers Ali Khamenei, in der in den letzten 40 Jahren selten Demonstrationen wahrgenommen wurden, begann der Protest der Bevölkerung unter der anfänglichen Parole „Nein zur Armut“. Nachdem Teilnehmer*innen des zunächst friedlichen Protests von Regimekräften angegriffen wurden und die Menschen „Tod der Diktatur“ zu skandierten, gab es erste Anzeichen der Radikalisierung. Allmählich richtete sich der Protest gegen das System des Regimes und die Aktionen weiteten sich bald auf andere Provinzen des Landes aus.

Ausweitung der Protestwelle

In 28 von 31 Provinzen des Landes wurden in mehreren hundert Städten Aktionen organisiert. Bis zum jetzigen Zeitpunkt fanden in folgenden Provinzen Proteste statt:

Teheran, Ghom, Qazvin, Ardebil, Zandschan, Täbris, Ûrmiye, Sînê, Hamadan, Kirmaşan, Îlam, Loristan, Chuzestan, Tschahar Mahal und Bachtiyari, Kohgiluye und Boyer Ahmad, Buschehr, Fars, Hormozgan, Sistan und Belutschistan, Markazi, Yazd, Isfahan, Mazandaran, Golestan, Nord-Chorasan, Razavi-Chorasan und Alborz. Auch wenn es keine Berichte zu großen Protesten in den Provinzen Süd-Chorasan, Semnan und Kerman zu verzeichnen gab, fanden dennoch kleinere Demonstrationen in verschiedenen Gebieten der Provinzen statt.   

Proteste beginnen in symbolisch wichtigen Zentren

Als es 2009 zu Protesten gegen das amtlich bekannt gegebene Ergebnis der iranischen Präsidentschaftswahlen kam – nachdem die Kandidaten Mir Hossein Mussawi und Mehdi Karroubi den Vorwurf der Wahlfälschung äußerten –, lag das Zentrum der Protestwelle in der Hauptstadt Teheran. Im Fokus der aktuellen Ereignisse stehen diesmal Maschhad und Ghom, die Provinzen, die eine eher konservative Identität symbolisieren. Diese Tatsache scheint das Regime ebenfalls überrascht zu haben. Bemerkenswert ist zudem, dass die Proteste in Esfahan, der reichsten Provinz des Iran, seit Tagen nicht nachgelassen haben.

Widerstand der Völker entlang der Gebirgskette Zagros

Den Aktionen, die sich rasant auf die Städte und Siedlungen, die entlang der Gebirgskette des Zagros vom Norden von Rojhilat bis hin zur Provinz Loristan im Süden des Iran verbreiteten, folgten Proteste in der größtenteils von Belutsch*innen bewohnten Provinz Belutschistan, in Ahvaz (Provinz Chuzestan), wo schiitische Araber*innen die Bevölkerungsmehrheit stellen, in Bandar Abbas in der Provinz Hormozgan, in Mazandaran, wo die älteste unter den lebenden iranischen Sprachen – Mazandaranisch – gesprochen wird sowie in Täbris, Zandschan und Ardebil.

Proteste verbreiten sich rasend schnell

Ohne Unterscheidung zwischen arm und reich, konservativ oder reformistisch entwickelte sich der landesweite Protest der vergangenen sechs Tage wie folgt:

Tag 1: Maschhad, Kashmir und Nischapur in der Provinz Razavi-Chorasan.

Tag 2: Razavi-Chorasan, Mazandaran, Gilan, Qazvin, Ghom, Isfahan, Hamadan, Chuzestan, Loristan, Kirmaşan und Ûrmiye.

Tag 3: Razavi-Chorasan, Teheran, Mazdaran, Gilan, Qazvin, Ghom, Isfahan, Hamadan, Chuzestan, Loristan, Kirmaşan, Ûrmiye, Hormozgan, Golestan, Semnan, Fars, Buschehr, Tschahar Mahal, Markazi, Zandschan und Ardebil.

Tag 4: Razavi-Chorasan, Teheran, Mazdaran, Gilan, Qazvin, Ghom, Isfahan, Hamadan, Chuzestan, Loristan, Kirmaşan, Ûrmiye, Hormozgan, Golestan, Semnan, Fars, Buschehr, Tschahar Mahal, Markazi, Zandschan, Ardebil, Sînê und Täbris.

Tag 5: Razavi-Chorasan, Teheran, Mazdaran, Gilan, Qazvin, Ghom, Isfahan, Hamadan, Chuzestan, Loristan, Kirmaşan, Ûrmiye, Hormozgan, Golestan, Semnan, Fars, Buschehr, Tschahar Mahal, Markazi, Zandschan, Ardebil, Sînê, Täbris, Alborz und Îlam.

Tag 6: Razavi-Chorasan, Teheran, Mazdaran, Gilan, Qazvin, Ghom, Isfahan, Hamadan, Chuzestan, Loristan, Kirmaşan, Ûrmiye, Hormozgan, Golestan, Semnan, Fars, Buschehr, Tschahar Mahal, Markazi, Zandschan, Ardebil, Sînê, Täbris, Alborz, Îlam, Nord-Chorasan und Süd-Chorasan.

Forderungen ändern sich mit Ausdehnung der Proteste

Nachdem im Zuge der Proteste in den ersten Tagen dagegen protestiert wurde, dass soziale Leistungen für die Bevölkerung gekürzt und Gelder in den Krieg im Mittleren Osten fließen, änderten sich die Forderungen der gesellschaftlichen Strömungen aller Bevölkerungsgruppen im Land. Als Beispiel dafür kann genannt werden, dass die Proteste in Maschhad unter dem Motto „Nein zur Armut“ begangen. Als die Demonstrationen Kirmaşan erreichten, skandierte die Menge „Freiheit für die politischen Gefangenen“. In Sînê riefen die Menschen „Es lebe die Guerilla“ und in Schiraz hörte man Parolen wie „Verzeih uns Schah Reza“.

Laut Behörden 23 Tote

Im Zuge der Ausweitungen der Proteste und Zunahme von politischen Forderungen verschärfte das iranische Regime die Angriffe auf die Demonstrationen. Laut Behörden kamen 23 Menschen in den ersten sechs Tagen ums Leben.

Tiwîsirkan (Twiserkan) in der Provinz Hamadan: 3 Tote

Najafabad in der Provinz Isfahan: 3 Tote

Qehterîcan: 6 Tote

Shahin Shahr: 3 Tote

Izeh in der Provinz Chuzestan: 2 Tote

Dirûd (Dorud) in der Provinz Loristan: 2 Tote

In Kleinstädten der Provinz Loristan wurden drei weitere Todesopfer gemeldet. Außerdem kam in Qehterîcan ein Polizist ums Leben.

Zahl der Festgenommenen nicht bekannt

Bei den Protesten in Rojhilat und Iran wurden bis zum jetzigen Zeitpunkt mehr als tausend Personen in Polizeigewahrsam genommen, wobei die genaue Anzahl der Festgenommenen nicht ermittelt werden konnte. Das Polizeipräsidium von Teheran gab bekannt, dass allein in der Hauptstadt 450 Personen festgenommen worden sind. Internetseiten oppositioneller Gruppen berichten von weit mehr Festnahmen. Die meisten in Gewahrsam genommenen Personen sollen sich in den Büros des iranischen Geheimdienstes Itlaat befinden.

90 Prozent Frauen und Personen unter 25 Jahren

Verblüffend für das Regime ist auch die Tatsache, dass die Aktionen von Frauen und sehr jungen Menschen angeführt werden. Laut der letzten Volkszählung im vergangenen Jahr leben im Iran fast 80 Millionen Menschen. Nach Angaben des iranischen Vize-Innenministers Hossein Solfagari sind 90 Prozent der wegen der Teilnahme an den Protesten festgenommenen Personen unter 25 Jahren.

„Revolution der Armen“ und „Junge Wut“

Die Wut gegenüber der repressiven Politik des Regimes ist aus den Parolen der Frauen und Jungen Menschen auf den Massenprotesten in Iran und Rojhilat nicht zu überhören.

Mit Beginn der Demonstrationen wurden Parolen gegen Armut und Arbeitslosigkeit skandiert. Im Zuge dessen bezeichnete ein Großteil der Bevölkerung die Protestwelle als „Inkilabi gorisnegeran” (Die Revolution der Armen). Den aufsteigenden Forderungen nach Freiheit mit Parolen wie „Nieder mit dem islamischen Regime” oder „Nieder mit dem Despotismus” und die glühende Verteidigung dieser Forderungen folgte die Bezeichnung „Junge Wut gegen das System”.

Reformisten und Konservative schoben Kritik beiseite

Auch wenn die iranische Regierung in den ersten Tagen der Proteste keinen harten Kurs einschlug, versuchte sie mit Argumenten wie „äußere Kräfte sind am Werk” oder „Handlungen von den USA und Israel” die Protestwelle zu hemmen. Die Reformisten unter Federführung des Präsidenten Hassan Ruhani und das religiöse Oberhaupt des Landes Ali Khamenei kritisierten sich zu Beginn der Aktionen gegenseitig, doch mit veränderten Dimensionen der Proteste halten sie die Kritik zurück.

Kommentare von Ruhani und Khamenei

Am 1. Januar sagte Ruhani hinsichtlich der Proteste: „Ich werde mich zu einem späteren Zeitpunkt äußern“. Am Folgetag gab Khamenei an, dass er „zu den Ereignissen im Iran einiges erläutern möchte und seine Gedanken zu gegebener Zeit mit dem werten iranischen Volk teilen werde“.

Situation iranischer Presse

Nachdem die Presse im Land in den ersten Tagen der Aktionen versuchte, die Proteste zu ignorieren, begannen sie, Argumente wie „äußere Kräfte sind am Werk“ zu verwenden. Reformtreue Medien titelten zwar, dass „Recht auf Kritik“ bestehe, doch folgten diesen Kommentaren immer wieder ein „aber“. Die konservative Presse fordert weiterhin Angriffe auf die Proteste.

Organisierung über soziale Netzwerke

Am fünften Tag der wachsenden Protestbewegung beschränkte das Regime den Internetzugang und sperrte soziale Netzwerke wie Telegram und Instagram, über die ein Großteil Demonstrationen organisiert wurden. Die Aktivist*innen überwinden diese Einschränkungen allerdings mit sehr kreativen Methoden.

Gegenseitige Radikalisierung

Das iranische Regime erhöht von Tag zu Tag die Drohungen gegen Aktivist*innen. Dagegen radikalisiert sich die Stimme der protestierenden Bevölkerung und der regimekritischen Klang der Stimme gewinnt an Zunahme. Der Vorsitzende des Revolutionsgerichtes von Teheran, Moussa Ghasanfarabadi, gab gestern in einer Erklärung an, dass gegen Teilnehmer der Proteste ab dem 3. Tag wegen „Krieg gegen Gott” ermittelt wird und im Fall einer Verurteilung die Todesstrafe droht.

Parolen werden immer radikaler

Am selben Tag bildeten sich in Teheran aus den skandierten Parolen wie „Tod der Diktatur“, „Tod für Ruhani“, „Tod für Khamenei“ und „Nieder mit der Islamischen Republik“ die Parolen „Eure Herrschaft ist nichtig“ und „Die Zeit der Reformisten und Konservativen ist vorbei!”.