Bayik: Niemand wird von einem Völkermord in Kurdistan profitieren

In Kurdistan wird ein großer Krieg geführt, der das Ende der AKP/MHP-Regierung herbeiführen wird. Wer gegen Faschismus kämpft, sollte diese Entwicklungen sehr ernst nehmen und als den eigenen Kampf betrachten, fordert Cemil Bayik (KCK).

Cemil Bayik hat sich als Ko-Vorsitzender der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) in einem ausführlichen Interview zu aktuellen Themen geäußert. Wir veröffentlichen einen Ausschnitt, in dem es um die Rolle Abdullah Öcalans, den Guerillakampf in Kurdistan und die Absprachen der Türkei mit der NATO und mit Russland geht.

Abdullah Öcalan befindet sich weiterhin in schwerer Isolation auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali. Trotzdem dreht sich die Tagesordnung in der Türkei um ihn. Wie bewerten Sie diese Situation?

Die Mahnwache in Straßburg für die körperliche Freiheit von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] geht weiter, ebenso wie die Kampagne, die von den Gewerkschaften in Großbritannien gestartet wurde. In letzter Zeit haben Hunderte von Intellektuellen und Schriftsteller:innen Erklärungen abgegeben. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um all diejenigen zu grüßen und ihnen meinen Respekt zu zollen, die sich gegen die auf einen Völkermord abzielende Politik des türkischen Staates stellen und für die körperliche Freiheit von Rêber Apo kämpfen. Sie führen einen sehr wichtigen Kampf. Denn Rêber Apo zu verteidigen bedeutet, Freiheit, Demokratie, die Völker der Welt und die menschlichen Werte zu verteidigen. Es gibt viele Gründe, warum die Isolation gegen Rêber Apo so stark geworden ist. Zunächst einmal besteht Angst vor Rêber Apo. Seine Stimme soll nicht zu den Völkern dringen, denn er hat Einfluss.

Nach europäischem Recht muss der türkische Staat die gegen Rêber Apo verhängte Strafe überdenken. Eigentlich müsste er aus dem Gefängnis entlassen werden, aber die Türkei will ihn bis zum Ende in Gefangenschaft halten und ihn vernichten. Egal was der türkische Staat tut, er kann die Verbindung von Rêber Apo mit dem kurdischen Volk, der PKK, den Völkern der Welt und der Menschheit nicht kappen. Das ist nicht möglich. Er hat einen Platz in den Herzen der Völker und insbesondere der Frauenbewegung. Es ist dem türkischen Staat nicht möglich, dies zu ändern. Damit macht er sich nur selbst etwas vor. Die Ideen und die Philosophie von Rêber Apo verbreiten sich von Tag zu Tag. Viele Menschen, die für Freiheit, Demokratie und Sozialismus kämpfen, machen sich seine Ideen zu eigen. Er selbst hat mal gesagt: „Ich bin dort, wo meine Verteidigungsschriften sind." Und seine Schriften sind jetzt überall. Wer Rêber Apo liest und versteht, umarmt ihn. Deshalb sollten die Kader dieser Bewegung mehr als alle anderen dafür sorgen, dass sich Rêber Apos Ideen noch weiter verbreiten. Rêber Apo zu unterstützen bedeutet, das kurdische Volk zu unterstützen und sich gegen den Faschismus und Völkermord der AKP-MHP zu stellen.

Die Angriffe der türkischen Armee auf die Gebiete Zap, Avaşîn und Metîna in Südkurdistan/Nordirak gehen weiter. Die Guerilla leistet einen epischen Widerstand dagegen. Nach Angaben der HPG [Volksverteidigungskräfte] hat die türkische Armee allein in diesem Jahr mehr als 1500 Chemiewaffeneinsätze in Südkurdistan durchgeführt. Trotzdem gelingt es ihm nicht, den Widerstand der Guerilla zu brechen. In welchem Stadium befinden sich der Guerillawiderstand und der Krieg jetzt?

Rêber Apo hat gesagt, dass die größte aller Technologien der Mensch selbst ist. Denn es ist der Mensch, der in der Lage ist, die Technik zu nutzen. Das können wir heute in Zap, Avaşîn und Metîna sehr deutlich sehen. Der türkische Staat setzt alle Arten von Waffen ein. Täglich überfliegen Aufklärungsflugzeuge dutzende Male die Gebiete. Die Armee setzt Panzer, Artillerie, Raketen, einfach alles ein, was sie hat. Die NATO unterstützt sie, die Barzanî-Familie hilft ihr in jeder Hinsicht, und es werden auch Banden [islamistische Stellvertreterkräfte] eingesetzt. Trotzdem hat der türkische Staat noch keine Ergebnisse erzielen können. Das zeigt, dass sich die Guerilla gegen alle feindlichen Techniken gewappnet hat. Deshalb fügt sie dem türkischen Staat schwere Schläge zu. Der Feind hatte sich zum Ziel gesetzt, diese Gebiete in wenigen Wochen zu besetzen und die Guerilla auszuschalten.

Heute, also Monate nach Beginn der Angriffe in diesem Jahr, kann der Feind immer noch keinen Schritt vorwärts machen, er steckt fest und hat viele Probleme. Er bombardiert sogar die Leichen seiner eigenen Soldaten, damit niemand sie finden kann. Gleichzeitig verbreitet er alle Arten von Propaganda unter der Bevölkerung. Er sagt, dass er einen Schlag gegen die Guerilla ausführt und damit einen besonderen Krieg führt. Viele Soldaten sterben hier, aber in den meisten Fällen wird ihre Identität nicht veröffentlicht. Es werden nur einige von ihnen bekannt gegeben. Auf diese Weise will der türkische Staat den Glauben der Bevölkerung am Leben erhalten. Und er nutzt das, um seine eigene Politik zu verfolgen. Die Guerilla ist im Besitz der Leichen zahlreicher Soldaten und hat deren Namen veröffentlicht. Sie hat sogar die Erkennungsmarken der Soldaten bekannt gegeben und die Familien aufgefordert, die Leichen abzuholen. Der Grund, warum der türkische Staat so viele verbotene Waffen einsetzt, ist also, dass er gegen die Guerilla verliert.

Ich gratuliere den Kämpferinnen und Kämpfern der HPG und YJA Star. Sie verteidigen die Ehre des kurdischen Volkes und der Menschheit. Dafür opfern sie ihr Leben. Sie sind Rêber Apo, der Guerilla und den Gefallenen innig verbunden. Sie stützen sich auf die Philosophie und Ideologie von Rêber Apo, sie lieben das Volk, die Freiheit, die Demokratie und ihr Land. Sie leisten einen heldenhaften Widerstand. Deshalb sind sie nicht nur Heldinnen und Helden des kurdischen Volkes, sondern auch der Menschheit. Sie kämpfen gegen Faschismus und Völkermord und geben dafür ihr Leben. Deshalb sollten sich alle an der Guerilla orientieren und ihre Proteste verstärken. Die ganze Last sollte nicht auf den Schultern der Guerilla liegen, die bereits ihre Pflichten erfüllt. Alle sollten überall mit dem gleichen Geist wie die Guerilla kämpfen. In letzter Zeit hat es einige Proteste gegeben, aber das ist nicht genug. Es muss mehr Proteste geben.

Unsere Freundinnen und Freunde in Zap, Avaşîn und Metîna kämpfen unter großen Schwierigkeiten. Vielleicht haben sie tagelang nichts zu essen, vielleicht können sie monatelang nicht baden, sie haben eine Waffe in der Hand und leisten Tag und Nacht Widerstand gegen die Technik des Feindes. Sie fügen dem türkischen Staat große Schläge zu. Das müssen alle sehen.

Die Taktik, die die Guerilla anwendet, ist eine neue Taktik. Deshalb fügt sie dem türkischen Staat schwere Schläge zu. Das sagen nicht nur wir, sondern auch diejenigen, die früher zu den Spezialeinheiten des türkischen Staates gehörten. Sie geben zu, dass die Guerilla sich erneuert hat, dass sie sehr stark geworden ist. Und sie geben zu, dass sie nicht in der Lage sind, gegen die Guerilla etwas zu erreichen. Vielleicht halten manche das, was wir sagen, für übertrieben, aber der Feind selbst gibt zu, dass dies der Fall ist. Es handelt sich also nicht um Übertreibung, wir sagen einfach die Wahrheit. Alle müssen das sehen und ihren Teil dazu beitragen. Die Guerilla vollbringt große Heldentaten und daraus schöpfen wir alle Kraft.

Die Guerilla setzt derzeit die Taktik des Widerstands in Tunnelanlagen und des Kampfes in kleinen mobilen Einheiten ein. Da diese sich gegenseitig ergänzen, erhält der türkische Staat schwere Schläge und erzielt trotz seiner modernen Technologie keine Ergebnisse. Deshalb sitzt er in der Klemme. Er weiß nicht, wie er aus seiner derzeitigen Lage herauskommen sollen. Deshalb will er den Krieg an einigen Stellen eskalieren lassen. Aber auch damit kann er keine Ergebnisse erzielen. Es wird ein großer Krieg geführt, der das Ende der AKP/MHP-Regierung herbeiführen wird. Alle Kräfte, die gegen den Faschismus kämpfen, müssen diese Entwicklungen sehr ernst nehmen. Sie müssen den Kampf der Guerilla als ihren eigenen Kampf betrachten und ihre Aufgabe erfüllen.

Nach dem NATO-Gipfel im Juni in Madrid fand ein Treffen zwischen Erdogan und Putin statt. Unmittelbar danach haben die Angriffe auf Kurdistan zugenommen. Wie bewerten Sie diese Treffen und die Pläne und Politik der Hegemonialmächte?

Auf dem NATO-Gipfel in Spanien wurden neue Mitglieder aufgenommen. Um diese Mitglieder aufnehmen zu können, mussten sie Forderungen des türkischen Staates erfüllen. Was sind die Forderungen des türkischen Staates? Er sagt, dass die NATO der Türkei helfen soll, dass sie den Krieg gegen die PKK unterstützen und nicht ablehnen soll und dass sie Waffen liefern soll. Mit anderen Worten: Der türkische Staat verlangt, dass sich niemand gegen ihn stellt, egal was er tut. Er hat selbst nicht die Macht, gegen die PKK zu kämpfen und einen Völkermord zu begehen. Diese Politik des Völkermords wurde in Lausanne entwickelt, und der türkische Staat führt diese Politik aus. Die NATO steht hinter dem Beharren des türkischen Staates auf der Politik des Völkermordes und der Vernichtung. Daher fordere ich die NATO auf, sich nicht zum Partner der türkischen Völkermordpolitik zu machen. Sie sollte keine Politik mit der Türkei gegen die Kurdinnen und Kurden machen. Das kurdische Volk ist nicht mehr das, was es einmal war, es hat sich für die Freiheit entschieden und dafür einen Preis bezahlt. Daher wird niemand von einem Völkermord an den Kurdinnen und Kurden profitieren können.

Nach dem NATO-Gipfel fand ein Treffen in Teheran statt. Dort forderte die Türkei sowohl Russland als auch Iran auf, ihre Forderungen zu akzeptieren. Was sind die Forderungen der Türkei? Die Liquidierung der PKK, der Genozid am kurdischen Volk und insbesondere die Besetzung neuer Gebiete in Rojava. Sie will den Status von Rojava vollständig beseitigen. Das hat das AKP/MHP-Regime in Teheran gefordert, aber seine Forderungen wurden nicht akzeptiert. Das heißt aber nicht, dass bei diesem Treffen nichts angenommen wurde. Tatsächlich wurden einige Entscheidungen getroffen, die die Wiederaufnahme der Beziehungen zwischen der Türkei und Syrien, die Machtübernahme des syrischen Regimes in Rojava und den Austausch von Geheimdienstinformationen betreffen. Aber das sind nicht die Forderungen von Erdogan. Deshalb ist er kurz darauf nach Sotschi gereist und hat sich dort noch einmal mit Putin getroffen, um mehr zu fordern. Bei seiner Rückkehr in die Türkei sagte Erdoğan: „Wir werden uns mit Putin auf Nord- und Ostsyrien konzentrieren, wir werden zusammenarbeiten." Diese Aussage zeigt alles.

In Sotschi hat Russland offensichtlich einige Versprechungen gemacht. Es wurde zugesagt, den Luftraum über Nordsyrien nicht zu schließen. Das kann man in der Praxis deutlich sehen, denn es erfolgt keine Reaktion auf die Luftangriffe des türkischen Staates. Es gibt auch einen Austausch von Geheimdienstinformationen. Deshalb hat der türkische Staat seine Angriffe auf Nord- und Ostsyrien nach dem Treffen in Sotschi verstärkt. Die Besatzung dauert an und die Angriffe auf die Region werden ununterbrochen fortgesetzt. Hätte Russland nicht den Weg für diese Angriffe geebnet, wäre der türkische Staat nicht in der Lage gewesen, sie durchzuführen. Der türkische Staat massakriert jeden Tag Kinder, Frauen und alte Menschen.

Sowohl die USA als auch Russland sind für diese Massaker verantwortlich. Das sagen auch die Menschen in Rojava, die angesichts der Angriffe nicht zurückweichen. Sie sagen: „Egal, was es kostet, wir werden unser Land nicht aufgeben, wir werden bis zum Ende Widerstand leisten." Das ist der richtige Weg. Für unser Volk gibt es keinen anderen Weg als Widerstand. Die Menschen können nur leben, wenn sie Widerstand leisten. Die Großmächte haben unserem Volk nichts außer Massakern, Vertreibung, Migration und demografischem Wandel gegeben. Solange die von diesen Mächten in Lausanne entwickelte Politik des Völkermords nicht geändert wird, werden die Massaker in Kurdistan weitergehen. Das muss unserem Volk klar sein. Zuallererst muss unser Volk an sich selbst glauben. Wir dürfen von niemandem etwas erwarten.