„Ankara ist am wenigsten an einem US-Rückzug interessiert“

Aziz Köylüoğlu, Journalist in der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien, erläutert die Hintergründe der Anschläge in den nordostsyrischen Städten Manbidsch und asch-Schaddadi und die Forderungen der Kurden an das syrische Regime.

In letzter Zeit haben die Angriffe auf Nord- und Ostsyrien zugenommen. Zum ersten Mal wurden weit abgelegen von der Front Kräfte der internationalen Anti-IS-Koalition angegriffen. Seit 2015 kämpft die internationale Koalition zusammen mit den Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) und den Selbstverteidigungseinheiten der YPG und YPJ gegen den Islamischen Staat (IS).

Die internationale Koalition gegen den IS ist in Minbic (Manbidsch) nun ähnlich wie die QSD zum Angriffsziel für den IS geworden. Bisher hatte der IS die Koalition in der Region nicht direkt zum Ziel gemacht. Dies hat sich nun anscheinend geändert. In letzter Zeit wurde immer wieder behauptet, diese Aktionen würden von lokalen Kräfte durchgeführt, die nicht wollten, dass die USA sich aus Syrien zurückziehen. Diese Einschätzung liegt jedoch fernab von der Realität. Denn diejenigen, die nicht wollen, dass die US-Soldaten aus Syrien abgezogen werden, sind die regionalen und internationalen Kräfte, die in die Politik Syriens verwickelt sind. Russland plant im Falle eines US-Rückzugs in Nord- und Ostsyrien russische Truppen und Kräfte des syrischen Regimes zu stationieren. Die Türkei als Besatzungsmacht beansprucht dasselbe Recht für sich. Die Türkei möchte nicht nur das durch den US-Rückzug verursachte Vakuum füllen, sondern auch militärische Unterstützung der USA für die Luftverteidigung.

In Wahrheit wollen weder der türkische Staat noch Russland einen zeitnahen Rückzug der USA. Beide Staaten möchten im Falle eines Rückzugs die Errungenschaften jeweils für sich beanspruchen, die in den letzten vier Jahren von den QSD und der internationalen Koalition erkämpft wurden.

Israel gegen einen Rückzug der USA aus Syrien

Israel hat sich eindeutig gegen einen Rückzug der USA ausgesprochen. Das Land betrachtet solch einen Rückzug als eine Gefahr für die eigene Sicherheit. Darüber hinaus sei in einer Phase, in der der Iran eine starke Position in Syrien einnehme, ein US-Rückzug nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig eine Gefahr. Denn der Iran definiert den israelischen Staat als seinen größten Feind. Bislang musste der Iran in den Kriegen im Irak und Syrien die höchsten Verluste hinnehmen.

Der Iran konnte sein Ziel eines schiitischen Halbmonds in den letzten Jahren Stück für Stück verwirklichen. Heute können iranische Soldaten ohne größere Schwierigkeiten von Teheran in den Libanon und damit bis zum Mittelmeer gelangen. Das ist ein Alptraum für Israel.

Möchte der Iran wirklich einen schnellen Abzug der USA?

Der Iran könnte am meisten an einem Rückzug der USA aus Syrien interessiert sein. Er stellt solch einen Rückzug als einen Erfolg für sich da. Doch es ist unklar, ob der Iran nach solch einem Rückzug seine Position in Syrien aufrechterhalten kann. In einem Syrien ohne die USA wird Russland Druck auf den Iran ausüben und dessen Bewegungsspielraum einschränken. Diese Situation ist für den Iran äußerst paradox. Es ist durchaus möglich, dass das Land seine Position bezüglich eines Rückzugs der USA aus der Region noch einmal überdacht hat. Ob das geschehen ist, bleibt unklar.

Russland hat im Falle Syriens gute Beziehungen zu den USA aufgebaut

Russland richtete bislang seine gesamte Syrien-Politik entsprechend der Position der dortigen US-Kräfte aus. Sowohl mit dem Iran und dem syrischen Regime als auch mit dem türkischen Staat baute die russische Seite ein Gegengewicht zu der US-Position in der Region auf. Zudem nahm Russland Beziehungen mit den Kurden in Nord- und Ostsyrien auf.

Auch wenn zwischen Russland und den USA an vielen Punkten Widersprüche bestehen, stehen sie bezüglich Syrien in einem regen Austausch miteinander. Russland möchte nicht, dass die durch die Präsenz der USA in Syrien geschaffenen Vorteile verloren gehen. Deshalb ist es für einen langsamen und mit Russland koordinierten Rückzug der USA.

Der türkische Staat möchte unter dem Schutz der USA in Syrien bleiben

Am stärksten spricht sich der türkische Staat gegen einen Abzug der USA aus Syrien aus. Mit den bislang zu dem Thema verkündeten türkischen Erklärungen, in denen sich für einen Rückzug ausgesprochen wird, soll nur getäuscht werden. Der türkische Staat weiß, dass er seine Position in Syrien im Falle eines Rückzugs der USA aus der Region nicht aufrecht erhalten kann.

Nicht nur die Angriffspläne auf Nord- und Ostsyrien, selbst die türkisch besetzten nordsyrischen Regionen Efrîn und Dscharablus werden nicht länger zu halten sein. Die gesamte Strategie des türkischen Staates basiert auf der US-Präsenz in der Region. Deshalb fordert die Türkei neben einem koordinierten Abzug auch, dass die USA die Luftverteidigung in der Region und militärische Unterstützung für die Türkei gewährleisten soll. Diese Forderungen sind ein Beweis dafür, dass der türkische Staat keinen US-Rückzug will und seine Besatzung vielmehr durch die USA abgesichert wissen möchte.

Was möchten die Kurden?

Die Kurden reagierten auf die US-Ankündigungen, indem sie die Besatzung des türkischen Staates in Syrien klar ablehnten und betonten, nicht hilflos dazustehen, sollten die US-Kräfte sich aus der Region zurückziehen. Darüber hinaus erklärten sie, die Verhandlungen mit dem syrischen Regime und Russland im Rahmen der Strategie zur Einheit Syriens fortzuführen. In Richtung USA und internationale Koalition unterstrichen die kurdischen Kräfte, der IS sei nicht vollständig besiegt, und forderten, die Zusammenarbeit an diesem Punkt auf den politischen Bereich auszuweiten

Diese Forderungen sind nicht gleichbedeutend mit der Behauptung, ohne die USA oder die internationale Koalition stünden die nordsyrischen Kräfte schutzlos da. Aus ihren Forderungen wird vielmehr ersichtlich, dass die Kurden kein Vertrauen in die regionale Politik der USA haben und diese als äußerst instabil betrachten. Die kurdische Seite unterstrich in ihren jüngsten Erklärungen, sie habe mit ihrer Politik stets ehrlich gegenüber ihren Verbündeten agiert und erwarte dies auch von ihnen. In diesem Rahmen erklärten die Kurden gegenüber Russland sinngemäß: ‚Wenn ihr die territoriale Einheit Syriens möchtet, dann stellt euch gegen die Besatzung des türkischen Staates und entschuldigt euch bei unserer Gesellschaft für Efrîn.‘

Die Kurden haben vor Kurzem klar aufgelistet, was sie vom syrischen Regime fordern:

  1. Die territoriale Einheit Syriens
  2. Die demokratische Republik als zukünftiges System Syriens und die autonome Verwaltung als ein Teil des republikanischen Syriens
  3. Die Partizipation der Vertreter der autonomen Verwaltung im Parlament in Damaskus
  4. Die Anerkennung der Fahne der autonomen Selbstverwaltungen neben der Fahne Syriens
  5. Diplomatische Arbeit der autonomen Verwaltungsregionen im verfassungsrechtlichen Rahmen zugunsten der Interessen der Völker Syriens
  6. Die Einbeziehung der Demokratischen Kräfte Syriens, die für die Grenzsicherung Syriens verantwortlich sind, in die syrische Armee
  7. Innere Sicherheitskräfte in den autonomen Selbstverwaltungsregionen im Rahmen der syrischen Verfassung
  8. Die Muttersprache in den autonomen Selbstverwaltungsregionen als Unterrichtssprache. Arabisch als offizielle Sprache Syriens.
  9. Bildung in den Fakultäten der autonomen Selbstverwaltungsregionen zur Geschichte, Kultur, Sprache, Literatur etc. in der jeweiligen Sprache der Region.
  10. Die gerechte Aufteilung der natürlichen Ressourcen Syriens.

Fast niemand ist derzeit an einem Rückzug der US-Kräfte aus Syrien interessiert, am wenigsten der türkische Staat. Die jüngsten Angriffe in Manbidsch und asch-Schaddadi sind das Ergebnis eines neuen Bündnisses zwischen dem türkischen Staat, Hayat Tahrir al-Sham und dem IS. Entsprechende Beweise werden sicherlich bald zutage treten.

Im Original erschien der Artikel am 23. Januar unter dem Titel „Kürtlerin ne istedikleri belli ya diğerleri?” in der Zeitung Yeni Özgür Politika.