YPJ-International: Kapitalistisches Patriarchat gemeinsamer Feind
Wir haben mit Têkoşîn Zekî, der Sprecherin der YPJ-International, über die Aufgaben, Einbindung und Motivation der internationalen YPJ-Kämpferinnen gesprochen.
Wir haben mit Têkoşîn Zekî, der Sprecherin der YPJ-International, über die Aufgaben, Einbindung und Motivation der internationalen YPJ-Kämpferinnen gesprochen.
Die Sprecherin der Frauenverteidigungseinheiten YPJ-International, Têkoşîn Zekî, berichtet im ANF-Interview über die Motivation und den Hintergrund von YPJ-International. Sie erklärt: „YPJ-International ist die internationale Abteilung der Frauenverteidigungseinheiten in Rojava und Nord- und Ostsyrien. Weibliche und nicht-binäre Kämpfer*innen, die sich mit unseren Werten und Prinzipien identifizieren, schließen sich uns zur ideologischen, medizinischen und militärischen Bildung an und arbeiten danach in den verschiedenen Strukturen der YPJ.“
Könntet ihr Euch kurz vorstellen?
YPJ-International ist die internationale Abteilung der Frauenverteidigungseinheiten in Rojava und Nord- und Ostsyrien. Weibliche und nicht-binäre Kämpfer*innen, die sich mit unseren Werten und Prinzipien identifizieren, schließen sich uns zur ideologischen, medizinischen und militärischen Bildung an und arbeiten danach in den verschiedenen Strukturen der YPJ.
YPJ-International wurde während des Kampfes um Kobanê 2014 als autonome Frauenkraft gegründet.
Was ist Eure Motivation, aus welchem Hintergrund kommt Ihr?
Die Motive, wie auch der Hintergrund unserer Kämpferinnen, sind unterschiedlich. Aber wir kommen alle hierher aufgrund von starken menschlichen Werten und einem Bewusstsein über die Bedeutung des Frauenbefreiungskampfes. Wir sind bereit, alle dafür notwendigen Schritte zu gehen.
Manche haben sich angeschlossen, um gegen den IS zu kämpfen, sie begriffen die Angriffe des IS auf Frauen und die Menschheit als Angriffe auf sie selbst. Andere schlossen sich an, um ihre medizinischen oder militärischen Fähigkeiten einem sinn- und bedeutungsvollen Kampf zu widmen. Wieder andere kamen aus ideologischen Gründen, weil sie sich mit der Revolution in Rojava und ihren Grundpfeilern der Demokratie, Frauenbefreiung und ökologischer Ökonomie verbunden fühlen.
Manche waren vorher bereits in politischen Gruppen organisiert, andere kamen als interessierte und aufrichtige Individuen. Wir kommen aus verschiedenen Ländern, vor allem aus Europa und den USA.
Wie seit Ihr in die Strukturen der YPJ eingebunden?
YPJ-International ist ein autonomer Teil der YPJ. Das bedeutet, unsere Mitglieder sind auch Mitglieder der YPJ. Wir haben unsere eigene Akademie, die Şehîd-Ivana-Akademie, benannt nach Avaşîn Têkoşîn Güneş (Ivana Hoffmann). Ivana fiel bei einem Angriff des IS im Till Temir am 7. März 2015. Wir haben auch unsere eigene Presse und Öffentlichkeitsarbeit. Beides ist sowohl theoretisch als auch praktisch eng mit den YPJ verbunden. Bei Gefechten und anderen Aufgaben stehen unsere Kämpfer*innen unter dem Kommando der YPJ.
Als Teil der YPJ ist unser Verhältnis zu den YPG dasselbe. Männliche Genossen können keine Entscheidungen über unsere Struktur oder unsere Kämpferinnen treffen, sie dürfen nicht an unserer Akademie unterrichten, wir aber schon an ihrer. Natürlich gibt es gemeinsame Arbeiten und Aufgaben, bei denen wir eng zusammenarbeiten, zum Beispiel an den Frontabschnitten oder bei der Pressearbeit vor Ort.
Unsere Beziehung zu YPJ und YPG ist in einer gemeinsamen Ideologie begründet, tiefgehend inspiriert von Abdullah Öcalan, einem der größten Philosophen unserer Zeit, der durch den faschistischen türkischen Staat seit 1999 gefangen gehalten wird. Die Stärke dieser Beziehung wird vorstellbar, wenn man uns gemeinsam gegen denselben Feind, für dasselbe Ziel und der Verteidigung derselben Menschen und desselben Landes kämpfen sieht.
Warum organisiert Ihr Euch autonom als internationale Frauen innerhalb der YPJ?
Als YPJ-International sind wir Teil der YPJ. Die Gründe warum wir uns in diesem Rahmen autonom organisieren, sind einfach. Als Frauen und nicht-binäre Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt gibt es eine sprachliche Barriere und unterschiedliche kulturelle Hintergründe.
Deshalb haben wir unsere eigene Akademie, um zu lernen und langsam in Kontakt zu kommen. Später schließen wir uns den Einheiten der YPJ an, es gibt bisher kein autonomes Bataillon der YPJ-International.
Außerdem gibt es für internationale Kämpferinnen andere Bedürfnisse. Wenn wir unsere Arbeit als Presse und Öffentlichkeitsarbeit betrachten, dann geht es darum, Perspektiven von internationalen Frauen und nicht-binären Menschen, die an der Seite der YPJ kämpfen, zu vermitteln. Als Menschen, die nicht aus der Region und meistens sogar aus den Ländern kommen, die vom Krieg im Mittleren Osten profitieren und in den Dritten Weltkrieg, der im Mittleren Osten ausgetragen wird, involviert sind, die einen kolonialistischen Hintergrund haben, ist es wichtig, diesen Hintergrund auch in unseren Erklärungen deutlich zu machen. Deshalb haben wir unsere eigene Pressearbeit aufgebaut.
Wie sind die Reaktionen der Menschen hier auf Euch?
Eine weit verbreitete Reaktion der Menschen ist nach unseren Eltern und Familien zu fragen, im Bewusstsein, was Krieg und der Verlust geliebter Menschen bedeutet. Insbesondere in dieser Region und im Kontext einer kurdischen Identität geht der Kampf um Selbstbestimmung weiter und hat eine unglaubliche Anzahl Gefallener. Menschen bemerken sehr schnell, wo man herkommt, und sind meistens interessiert und beginnen politische Diskussionen. Jeder versorgt uns, das ist eine kulturelle Tradition, so miteinander umzugehen.
Die Reaktionen der Freundinnen und Freunde ist ähnlich. Sie sind froh über die internationalistische Verbindung. Sie beginnen meist sofort zu fragen und über Kultur, Geschichte, Internationalismus, die politische Situation und Ideologie zu diskutieren. Die Werte und Prinzipien sind uns gemeinsam und die Basis bilden Kritik und Selbstkritik, in diesem Sinne sind wir gleich.
Der Feind in dieser Region zeigt keine besondere Reaktion uns gegenüber. Ob IS oder der türkische Faschismus, sie behandeln niemanden menschlich. Aber wir haben uns mit dem Feind in unseren Herkunftsländern zu beschäftigen, die Nationalstaaten und ihre Verfolgungsorgane. Im Moment gibt verschiedene Fälle von Ermittlungen und Verfahren in europäischen Ländern.
Wie viele Aktivistinnen aus welchen Ländern seid Ihr?
Die Anzahl der Kämpferinnen von YPJ-International steigt kontinuierlich. Bisher kommen die meisten aus Europa und Nordamerika.
Was könnte Eurer Meinung nach die Rolle von Rojava im internationalen Kampf um Demokratie und Emanzipation sein?
Der revolutionäre Kampf in Rojava wird von den Völkern von Rojava geführt. Wir teilen ihre Ideologie, lernen über die Geschichte und die aktuelle Situation im Mittleren Osten. Unsere Teilnahme an der Revolution folgt der Tradition des Internationalismus und dem Bewusstsein über die Notwendigkeit einer weltweiten Revolution gegen einen weltweiten Feind, die kapitalistische Moderne.
Natürlich sind wir mit unseren eigenen orientalistischen Ansätzen konfrontiert und ihre Überwindung ist eine große Option. Sich den YPJ-International anzuschließen bedeutet, dass man das Leben im Mittleren Osten nicht als billiger als das eigene Leben ansehen kann, das ist ein Schritt zur Überwindung dieser Haltung. Die Philosophie dieser Revolution ist inspiriert von verschiedenen revolutionären Bewegungen weltweit, deswegen sehen wir unsere Anwesenheit und unsere Diskussion ebenso als Teil der Entwicklung.
Die Rolle von Rojava im weltweiten Kampf für Demokratie und Emanzipation ist und wird inspirierend sein. Die Methoden und die Harmonie zwischen Theorie und Praxis haben bereits jetzt ein großes Erwachen in verschiedenen Ländern, insbesondere innerhalb linker Gruppen, Parteien und Bewegungen, ausgelöst. Entsprechend der Bedeutung von internationalistischer Einheit sind alle eingeladen nach Rojava zu kommen, die ein ehrliches Interesse und eine Offenheit der Revolution gegenüber zeigen. Die Revolution von Rojava ist auf der einen Seite ein Beispiel und auf der anderen ein zentraler Punkt des Zusammenkommens. Der einzigartige Aspekt ist die führende Rolle der Frauen. Das macht die Revolution dauerhaft und durchsetzungsfähig, etwas, das bei mehreren historischen Erfahrungen nicht gelungen ist. Als erste unterdrückte Kolonie der Menschheit werden Frauen eine echte Alternative schaffen und andere Wege finden. Und gerade weil Frauen überall auf der Welt präsent sind, bewegt diese starke Bewegung, diese Idee, den ganzen Planeten.
Macht es Sinn für Aktivistinnen nach Rojava zu kommen und sich Euch anzuschließen?
Auf jeden Fall. Es macht großen Sinn für alle Frauen nach Rojava zu kommen und sich den Selbstverteidigungseinheiten anzuschließen. Es bedeutet, das eigene Geschlecht und die Menschheit zu verteidigen, sich selbst zu befreien und Solidarität ohne Einschränkung zu zeigen. Es bedeutet auch zu begreifen, dass das kapitalistische Patriarchat unser gemeinsamer Feind ist und so Augen und Herz für die Suche nach Wahrheit zu öffnen.
Unsere Aufgaben sind so bunt wie diese Revolution. Bei YPJ-International zu sein bedeutet, sich all den verschiedenen Strukturen der YPJ anschließen zu können. Im Moment sind unsere Kämpferinnen Teil des Bataillons der YPJ für Nahkampfwaffen (wie Kalaschnikow), im YPJ-Bataillon für schwere Waffen (wie DSchK), in der Abteilung für Presse und Öffentlichkeitsarbeit, in der Einrichtung für schwer verwundete Freundinnen und in unserer Akademie. Sie arbeiten in der Evakuierung von Zivilist*innen, auch der IS-Familien aus al-Bagouz. Sie nehmen Teil an Bodenoperationen, Säuberungen und Patrouillen. Sie kämpfen an der Front in Deir ez-Zor und sind tätig in der Dokumentation und Berichterstattung. Sie leben und arbeiten in der Einrichtung für schwer verwundete Genoss*innen und geben Physiotherapie. Sie organisieren das Leben in der Akademie und geben Seminare. Sie erfahren ideologische, medizinische und militärische Bildung. In Zukunft wollen wir auch eine Kooperation mit dem freien Frauendorf Jinwar zum Aufbau der Verteidigungsstruktur und der Ausbildung der anderen Frauen dort aufbauen.
Was siehst Du in der Revolution von Rojava, und welche Perspektiven habt Ihr als YPJ-International?
Wir betrachten die Revolution von Rojava als echten Versuch, wahre Demokratie in einer Weise aufzubauen, die zu den vielen verschiedenen Menschen passt. Eine Demokratie – die eben nicht nur eine sogenannte Demokratie ist – die hart daran arbeitet, alle zu motivieren und einzubinden und die verschiedenen Identitäten für ihre Selbstbestimmung zu stärken. Wir kennen den Preis von all dem und wir sehen das Risiko, das ökonomische Interessen und faschistische Ideen von außen mit sich bringen.
Wenn jemand eine romantische Idee von der Revolution hat, dann können wir sagen – das trifft zu. Aber es ist nur ein Teil des Bildes. Es hat wirklich etwas romantisches und schönes zu sehen, wie viele verschiedene Strukturen entwickelt, verbessert und wenn nötig verändert werden; wie Frauen sich selbst befreien, Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen als Frauen entwickeln, das Leben mit Menschen zu teilen, die allen möglichen Problemen ausgesetzt sind, aber nicht davor zurückschrecken, neue Wege zu gehen.
Gleichzeitig ist die Region so stabil aufgrund der hohen militärischen Präsenz verschiedener Verteidigungseinheiten. Jeden Tag sterben Menschen aufgrund von Angriffen des Feindes, und die Bevölkerung leider massiv darunter. Wegen des Kriegs und dem Embargo ist der Prozess des Aufbaus ökonomischer und ökologischer Strukturen massiv erschwert worden. Beide Seiten zusammen ergeben das ganze Bild der Revolution von Rojava, das wir sehen. Alles passiert ziemlich schnell, aber Schritt für Schritt. Es gibt eine unglaubliche Simultanität. Als YPJ-International ist es unsere Perspektive weiterzuwachsen und die Strukturen für internationale Frauen, die an dieser Revolution teilnehmen wollen, weiterzuentwickeln. Wir sehen darin eine wichtige Handlung für einen verbundenen globalen Kampf gegen den patriarchalen Kapitalismus.
Wo seid Ihr aktiv? Wie ist die Situation in Deir ez-Zor?
Im Moment sind wir im Kanton Cizîrê, im Kanton Hesekê und in der Region Deir ez-Zor aktiv. Die abschließenden Operationen gegen das IS-Kalifat gehen erfolgreich weiter, wurden jedoch verlangsamt und sogar für die Evakuierung der Zivilbevölkerung gestoppt. Es ist nur noch ein Gebiet von einem halben Quadratkilometer übrig. Das wird nicht mehr lange dauern. Mittlerweile kann man sagen, dass die Mehrheit der Personen, die al-Bagouz verlassen, überzeugte IS-Familien und IS-Dschihadisten sind, die sich ergeben. Aber auch 24 Freunde, die vom IS seit Monaten als Geiseln festgehalten wurden, konnten befreit werden.
Die Luftschläge der internationalen Koalition gehen weiter und der IS ist vollständig von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) eingekreist. Wir werden kein Datum für die Befreiung festlegen, wir können nur sagen, dass es sehr wahrscheinlich in den nächsten Tagen geschehen wird. Am 1. März 2019 begann die abschließende Operation. 15.000 Kämpferinnen und Kämpfer sind beteiligt und es finden schwere Luftangriffe statt.
Die humanitäre Situation in al-Bagouz verschlechtert sich zusehend. Alles Notwendige fehlt. Wir hören von Menschen, die die Region verlassen haben, dass dort Babys an Hunger sterben und dass es weder genug Essen noch genug Wasser gibt, keine Medizin, keine Heizung, K rankheiten breiten sich aus. Manche sagen, die Kommandanten hätten immer noch alles, was sie brauchen. Das zeigt einmal mehr die Unmenschlichkeit des IS. In al-Bagouz werden die Menschen mit unglaublichen Horrorgeschichten über die kurdischen Kräfte eingeschüchtert.
Unter den Zivilist*innen mit IS-Mentalität kommen auch Ezid*innen aus dem Gebiet. Es sind meistens Frauen und Kinder, denen es gelungen ist, der Versklavung durch den IS durch die Befreiung durch die QSD und YPJ zu entgehen; fünf Jahre nach dem Feminizid und Genozid in Şengal. In diesem Sinne wird es eine Befreiung von Gebieten geben, aber ein wirklicher Sieg ist es nur, wenn alle Ezid*innen aus der Sklaverei freikommen.
Insgesamt haben über 45.000 Menschen das kleiner werdende Gebiet des IS verlassen. Dies bedeutet für die QSD und YPJ einen unglaublichen Aufwand, aber die Ressourcen sind begrenzt. Deswegen haben die QSD die internationale Gemeinschaft um Unterstützung angerufen.