Wie eine Guerillakämpferin Zwangsheirat und dem IS entkam

Zîlan Ciwanro stammt aus einer feudalen ostkurdischen Familie, in der patriarchalische Strukturen vorherrschend sind. Ihr Vater wollte sie zwangsverheiraten, ein Onkel zum IS schicken. Ein prägendes Erlebnis führte sie aus der Gewaltspirale zur Guerilla.

Das „bürgerliche“ Leben der Guerillakämpferin Zîlan Ciwanro war geprägt von patriarchaler Beherrschung und Entwürdigung. Geboren wurde sie in Ciwanro (Dschawanrud), einer Stadt mit etwa 60.000 Einwohnern in der ostkurdischen Provinz Kirmaşan (Kermanschah). Als Tochter einer feudalen Familie, in der patriarchalische Strukturen vorherrschend sind und das traditionelle Rollenverständnis Frauen so gut wie gar keine Rechte und Privilegien zuschreibt, erfuhr sie Gewalt, wurde unterdrückt und diskriminiert.

Als Zîlan Ciwanro und zwei ihrer Cousinen gegen ihren Willen verheiratet werden sollten, fasste sie den Entschluss, der Gewaltspirale zu entkommen. Einen ersten Ausweg aus dem Schatten der streng hierarchischen Familienordnung bot ihnen die Flucht zu Verwandten. Sie erinnert sich: „Die Frauen in unserer Familie hatten kein Mitspracherecht. Wir wurden verachtet, galten als unterwürfig. Es herrschte eine Ordnung der Männerherrschaft. Diese Situation hatte zunehmend negative Auswirkungen für mich, meine Mutter und Schwestern. Die Lage meiner Cousinen war ähnlich aussichtslos. Als wir drei dann gegen unseren Willen verheiratet werden sollten, mussten wir weg.“

Ein Onkel von Zîlan Ciwanro mütterlicherseits, der den hilfesuchenden Frauen Zuflucht bieten sollte, nutzte ihre Lage aus. „Aus purem Eigennutz“, wie sie sagt. Er überredete sie, zum „Islamischen Staat“ (IS) zu gehen. „Für Geld“, wie später bekannt wurde. „Wir hatten keine Ahnung, um was es sich beim IS handelt, welche Ideologie er vertrat und was er tat. Wir wussten vom IS nur aus den Erzählungen meines Onkels, der uns die Miliz als eine Art Befreiungsbewegung unterjubelte. Ich war sogar froh, weil ich dachte, mein Onkel hilft mir um unseres Volkes willen. Schließlich wollte ich mich ja befreien, weg von der familiären Unterdrückung, den Prügeln und der Art und Weise, wie wir Frauen behandelt wurden. Deshalb akzeptierte ich den Vorschlag meines Onkels. In dem Moment war mir nicht klar, dass mein eigener Onkel Pläne schmiedete, seine eigene Nichte ins Verderben zu schicken. Viele junge Menschen aus unserer Verwandtschaft hatte man damals zum IS gelockt. Ich hatte aber Glück, im richtigen Moment der kurdischen Befreiungsbewegung zu begegnen“, erzählt Zîlan Ciwanro. Auch wenn es sich dabei um ein unerfreuliches Ereignis handelte.

Zentrum des Salafismus im Iran: Ciwanro

Der Dschihadismus, aber insbesondere der Salafismus, ist im Iran vorwiegend in einigen sunnitisch geprägten kurdischen Regionen verbreitet. Am aktivsten sind die Anhänger der ultrakonservativen Strömung des Islam in Ciwanro. Die ersten Spuren vom Salafismus im Iran führen in die Zeit vor der Revolution 1979 zurück. Mit dem Aufkommen des IS im Nachbarland Irak gewann die Strömung jedoch an Popularität und zählt heute neben einigen Regionen in Ostkurdistan vor allem in der iranischen Provinz Sistan und Belutschistan sowie in schiitisch dominierten Großstädten wie Teheran und Isfahan aktive Anhänger.

Ciwanro liegt in der Nähe der irakisch-iranischen Grenze. Dorthin waren bei der US-Invasion im Jahr 2003 Überlebende der Angriffe US-amerikanischer Truppen gegen die kurdisch-islamistische Gruppierung Ansar al-Islam geflohen. In Ciwanro gründeten sie zusammen mit Dschihadisten aus Ostkurdistan die Gruppe Kataib Qaid, welche ursprünglich zum Ziel hatte, die südkurdische Autonomieregierung in Hewlêr (Erbil) zu bekämpfen. Teheran unterhält eine selektive Politik gegenüber den kurdisch-islamistischen Gruppierungen. Das Regime unterstützte sogar die Rekrutierung junger Kurden, die nach Afghanistan oder in den Irak geschickt wurden. Mitglieder von Kataib Qaid, die ihre Aktivitäten gegen die iranische Führung richten, werden allerdings unterdrückt, eingesperrt und sogar exekutiert.

Innerhalb der Familie von Zîlan Ciwanro gibt es sowohl eine Vielzahl von Anschlüssen an die kurdische Befreiungsbewegung, als auch zum sogenannten IS und anderen radikal-islamistischen oder salafistischen Milizen. „Dieses Phänomen lässt sich in nahezu jeder Familie der Stadt beobachten. Als Pilotstadt erfüllt Ciwanro aus Sicht des Regimes ideale Bedingungen, in Kurdistan einen Ethnozid zu vollziehen. Die Gegend ist religiös geprägt, aber ideologisch breit gefächert. Zwar dominieren fundamentalistische Salafisten, es gibt aber auch eine Vielzahl von Dschihadisten. Sie rechtfertigen Gewalt mit dem Islam – ein Widerspruch zu islamischen Normen. Zwei Cousins von mir zum Beispiel gingen zum IS und sprengten sich in Kobanê in die Luft. Sie taten das, als Kobanê für seine Freiheit kämpfte. Im Islam ist es heilig, einen Befreiungskampf zu führen, ja. Aber die Selbstmordattentate meiner Cousins richteten sich eben gegen den Kampf um Freiheit. Der IS ist unislamisch. Mit dem wahren Islam hat er nichts zu tun. Aber diese jungen Männer wurden ganz offensichtlich einer Gehirnwäsche unterzogen und denkunfähig gemacht. Viele Familien aus Ciwanro waren sich dieser Lage gar nicht bewusst. Sie dachten, ihre Kinder seien bei der Guerilla, dabei wurden sie beim IS zu Selbstmordattentätern ausgebildet“, sagt Zîlan Ciwanro.

Schlüsselerlebnis: Der Tod einer YRK-Kämpferin

Im August 2015 führten iranische Regimetruppen im Umland von Ciwanro gemeinsam mit paramilitärischen Revolutionsgarden (Pasdaran) und Milizionären von Kataib Qaid eine luftunterstützte Operation gegen eine vierköpfige gemischte Einheit der ostkurdischen Guerillaorganisation YRK (Yekîneyên Parastina Rojhilata Kurdistan) und der autonomen Frauenguerilla HPJ (Hêzên Parastina Jinan ên Rojhilatê Kurdistanê) durch. Bei den viertägigen Auseinandersetzungen kam die aus Serdeşt stammende Guerillakämpferin Zîlan Gabar (auch Zîlan Serdeşt) ums Leben.

„Zîlan Gabar wurde von Söldnern getötet, die ihre Seele verkauft hatten. Im Verlauf der Operation hatte sie mehrere Pasdaran getötet, darunter einen ihrer Kommandanten. Sie war selbstlos, leistete großen Widerstand gegen den Verrat und wurde schwer verletzt. Kurze Zeit später starb sie. Die Nachricht von ihrem Tod verbreitete sich in Ciwanro wie ein Lauffeuer. Wir waren tief beeindruckt davon, was Zîlan in diesen Tagen geleistet hatte – als Frau, die im Zuge der Gefechte von ihrer Gruppe getrennt wurde. Das gab uns den Antrieb, ebenfalls zu kämpfen. Erst meine beiden Cousinen und ich und später noch weitere junge Frauen und Männer aus meiner Familie entschlossen wir uns nach dem Tod von Zîlan Gabar, zur YRK zu gehen. Wir hatten uns Zîlan und dem Weg, den sie gegangen war, sofort verbunden gefühlt“, erinnert sich Ciwanro.

Mit den Ideen Abdullah Öcalans und der kurdischen Befreiungsbewegung konnte die YRK-Kämpferin zu dem Zeitpunkt nicht wirklich etwas anfangen. „Wir wussten quasi überhaupt nichts von ihm. Im Nachhinein glaube ich, dass es eine systematische Vorgehensweise innerhalb der von patriarchaler Gewalt geprägten Familien in Ciwanro war. Sie wollten offenbar um jeden Preis verhindern, dass wir irgendetwas über die Freiheitsbewegung erfahren. Fernsehen zum Beispiel war uns strikt verboten. Erst als wir zur Guerilla kamen, erfuhren wir von der Person Öcalan, warum er auf Imrali inhaftiert ist und wofür diese Bewegung eigentlich kämpft. Im Grunde wussten wir noch nicht mal, was für eine Freiheit das Ziel dieses Widerstands ist.“

Kommt in die Berge

Bei der Guerilla lernte Zîlan Ciwanro schließlich die Gedanken Abdullah Öcalans kennen. Sie setzte sich mit der Idee, ein freies Leben aufzubauen, auseinander und entwickelte ein Verständnis für die Geisteshaltung der kurdischen Befreiungsbewegung. „Doch meine Hauptintention war und ist nach wie vor, den Tod von Zîlan Gabar zu rächen. Er soll nicht ungesühnt bleiben. Denn es waren Söldner unseres Stammes, die verantwortlich für ihren Tod sind“, sagt Ciwanro.

Nach wie vor dominieren im Stadtbild von Ciwanro religiös-fundamentalistische Gruppen. Da der Staat der Jugend keine Perspektiven bietet, flüchten sich viele junge Menschen in die Drogenabhängigkeit. Den Konsum zu finanzieren heißt, dass zahlreiche Einwohner in ständiger Sorge um ihre persönliche Sicherheit leben müssen. „Kriminelle Aktivitäten wie Raubüberfälle stehen an der Tagesordnung“, erklärt die junge Guerillakämpferin.

Zum Ende unseres Gesprächs richtet Zîlan Ciwanro einen Appell an die Menschen in ihrer Geburtsstadt: „Wen das Regime nicht auf diesem Weg ins soziale Abseits drängt, der gelangt durch Spitzelanwerbung oder Rekrutierung in die Hilfspolizei Basidsch-e Mostaz’afin an den Rand seiner kulturellen Identität. Ich appelliere an die Jugend von Rojhilat: Lasst euch von dieser heimtückischen Politik nicht täuschen und schweigt nicht zur Unterdrückung unseres Volkes. Erkennt die Instrumentalisierung zum Spielball des Regimes, besonders in Ciwanro. Kommt hierher und lebt das freundschaftliche und gemeinsame, gerechte und unteilbare Leben in den Bergen.“