TJA: Zeit der Solidarität

Der türkische Staat will den Kurden, vor allem den Frauen, das Recht auf Organisation nehmen, erklärt die Bewegung Freier Frauen (TJA). Gesetzliche Rechte werden ignoriert und alle Schritte der Kurden auch in Zeiten von Corona kriminalisiert.

In einer Stellungnahme berichtet die Bewegung Freier Frauen (TJA) von ihrer aktuellen Situation und dem Umgang der türkischen Regierung, die gerade in Zeiten von Corona jegliche Selbstorganisierungskräfte der Gesellschaft einzuschränken versucht. So wurden beispielsweise am 23. März erneut acht Kommunalverwaltungen unter Zwangsverwaltung gestellt, die umfassende und vorbildliche Vorbereitungen zum Umgang mit Corona getroffen hatten. Die Bevölkerung in Kurdistan wird auch unter den Bedingungen von Corona weiterhin von der türkischen Regierung an der Wahrnehmung ihrer demokratischen und humanitären Rechte gehindert. Wie überall, wird die einfache Bevölkerung in Zeiten der Coronakrise alleingelassen, während die Regierungen ihre Sicherheitsapparate und die heilige Wirtschaft stärken. Doch gerade in Zeiten von Corona ist es wichtig, zusammenzustehen und solidarisch zu sein. Denn genau jetzt ist die Zeit der Solidarität, des gemeinsamen Kampfes und der Beendigung der Kriege.

Die Bewegung Freier Frauen erklärt hierzu: Während die autonome Selbstorganisation der Kommunalverwaltungen im 21. Jahrhundert erheblichen Wert erlangt hat, damit sich die Gesellschaften organisieren und Verantwortung für sich selbst übernehmen können, bleiben die Kommunalverwaltungen in der Türkei ohne die notwendige Initiative. Die zentrale Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) hat die Aufgaben und Verantwortlichkeiten von ihnen genommen, die gewählten Vertreterinnen und Vertreter wurden abgesetzt und durch Treuhänder der Regierung ersetzt. Diese Praktiken sind nur unter diktatorischen Regimes zu erwarten, doch haben sie sich in der Türkei normalisiert.

Während sich die gesamte Weltagenda derzeit auf die Covid-19-Pandemie konzentriert, versucht die Agenda der AKP-Regierung in der Türkei, ihre eigene Unvorsichtigkeit zu verschleiern, indem sie der kurdischen Bevölkerung der Türkei die Dienstleistungen abschneidet und sich darauf vorbereitet, der Bevölkerung die Schuld an den künftigen Folgen zuzuschieben. Dem Staat ist es nicht gelungen, Kurdistan mit Zwangsmigration, Krieg oder Exil zu entvölkern. Jetzt wird Kurdistan durch die Einsetzung von Treuhändern in demokratisch erkämpften Kommunen dem Tod überlassen. Der Staat, der der lokalen Organisation der Gesellschaft sehr feindselig gegenübersteht, führt Methoden ein, die die soziale Opposition und die lokalen Verwaltungen für die Zeit nach dem Virus unterdrücken.

Seit der Gründung der Republik Türkei hat der Staat die Kommunen in Kurdistan nie im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen im Blick gehabt. Er wollte nur die Vertreter und ihre Beziehungen in den Staat einbinden. Die Gemeinden stellten eine ideologische Frage für den Staat dar.

Deshalb ist die Ernennung von Treuhändern ein sehr geplanter, ideologischer Schritt vom Staat, um die Kommunalverwaltungen in Kurdistan vollständig dem Staat zu unterstellen. Während im Westen der Türkei im Falle einer Amtsenthebung eine Vertreterin oder ein Vertreter durch eine gewählte Vertreterin oder Vertreter ersetzt wird, werden in Kurdistan Treuhänder des Staates als Vertreter ernannt. Der Staat ignoriert sein eigenes Gleichheitsprinzip und wendet alle erdenklichen antidemokratischen Gesetze in Kurdistan an.

Der erste Treuhänder wurde 2007 in Kurdistan ernannt, nachdem die Entscheidung der „mehrsprachigen Kommunalverwaltung", die neben dem Türkischen auch die kurdische, assyrische und armenische Sprache in der Sur-Gemeinde umfasst, getroffen wurde. Folglich wurden der Rat und der Bürgermeister entlassen. Unmittelbar nach den Wahlen von 2009, bei denen Vertreterinnen und Vertreter der kurdischen Bewegung in 99 Gemeinden gewählt wurden, wurden Dutzende von gewählten Vertreter*innen und Ratsmitgliedern verhaftet und für lange Jahre inhaftiert.

Auf einer Kriegspolitik zur Lösung des Kurdenproblems beharrend, rief die AKP-Regierung am 20. Juli 2016 den Ausnahmezustand aus und setzte damit die Demokratie aus.

Während dieser Zeit wurden mit Dutzenden von „Gesetzesdekreten" Zehntausende von öffentlichen Angestellten entlassen. Über 5000 Vereine, Schulen, Gewerkschaften und Frauenverbände wurden geschlossen und ihr Eigentum beschlagnahmt. Diese wurden in Gewahrsam genommen oder verhaftet. Mit dem Gesetzesdekret Nr. 674 wurde der Präsident ermächtigt, Treuhänder für die Kommunen zu ernennen; die Provinzgouverneure waren befugt, das Eigentum der Kommunen zu konfiszieren und die Beschäftigten zu entlassen. Auf der Grundlage dieses Gesetzesdekrets wurden alle Kommunen beschlagnahmt, die zu den gewählten Vertretern der Demokratischen Volkspartei (HDP), Partei der Demokratischen Regionen (DBP), gehörten, und ab dem 11. September 2016 wurden Treuhänder ernannt, die diese ersetzen sollten.

Die Ernennung von Treuhändern erfolgte in insgesamt 95 Gemeinden, darunter drei Großstädte, zehn Städte, 63 Bezirke und 22 Gemeinden, in denen die DBP gewählt wurde. Der Staat ernannte seine eigenen Beamten in diesen Kommunen. Hunderte von gewählten Vertreter*innen, Stadtratsmitgliedern und städtischen Angestellten sowie HDP-Abgeordnete wurden verhaftet. Tausende von städtischen Angestellten wurden aus den Kommunen entlassen. Insgesamt wurden die ausgewählten Orte, die 6.366.566 Personen repräsentieren, zwangsweise beschlagnahmt und nun von staatlich bestimmten Treuhändern verwaltet.

Am 31. März 2019 fanden erneut Kommunalwahlen statt. Die HDP wurde in 65 Kommunen gewählt. An sechs Orten wurden die gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister vom Staat von Anfang an nicht zur Ausübung des Amtes zugelassen. Von den übrigen 59 Kommunen wurden bisher in 32 von ihnen Treuhänder ernannt. 21 der Vertreter dieser Gemeinden sind noch immer verhaftet. Während der Zeit der Covid-19-Pandemie wurden am 23. März 2020 die Kommunen Batman, Silvan, Lice, Eğil, Ergani, Güroymak, Iğdır-Halfeli, Siirt-Gökçebağ ebenfalls beschlagnahmt und Treuhänder ernannt.

Damit will der Staat den Kurden, vor allem den Frauen, das Recht auf Organisation nehmen ‒ gesetzliche Rechte werden ignoriert, alle Schritte der Kurden werden kriminalisiert, in den schwierigen Zeiten wird die Solidarität durch den Staat gekappt und die Bevölkerung dem Tod überlassen.

Gemeinsam mit den Treuhändern wurde eine spezielle Kriegsführungspolitik umgesetzt, das System der Doppelspitze der HDP wurde gezielt angegriffen, die Errungenschaften der Frauen sowie das auf Demokratie, Ökologie und Frauenfreiheit basierende Verständnis der lokalen Verwaltungen vereinnahmt und kulturelle und politische Assimilierungen eingeführt.

Die vom Volk gewählten Kommunalverwaltungen wurden in Polizeistationen, die Institutionen der Gesellschaften in Institutionen des Patriarchats umgewandelt. Das von der Frauenfreiheitsbewegung geschaffene System wurde verhindert, Frauenvereinigungen und Beratungszentren wurden geschlossen und durch Kaffeehäuser für Männer ersetzt. Männer wurden als Leiter von Frauenzentren ernannt, die inhaltliche Ausgestaltung der Zentren wurde in Einrichtungen der religiösen Erziehung für die Ehe umgewandelt. Eine Politik der Vernichtung der Errungenschaften von Frauen wurde aggressiv umgesetzt. Das Verhältnis zwischen dem Kampf der Frauen und den lokalen Verwaltungen soll zerstört werden, das Wissen um die vom Kampf der Frauen entwickelten Dienstleistungen wurde illegalisiert. Während der Arbeit der von der HDP geführten Kommunen im Rahmen der Gewaltbekämpfung nahm die Zahl der Gewalttaten gegen Frauen ab und es wurden Räume geschaffen, in denen Frauen sich ausdrücken konnten. Die Tatsache, dass 76 Prozent der verhafteten führenden Persönlichkeiten der HDP nach den Wahlen vom 31. März 2019 Frauen waren, zeigt deutlich, dass die Angriffe des Staates gegen die Frauenbewegung und die paritätische Vertretung gerichtet sind. In dieser Hinsicht wird die Solidarität der demokratischen Assoziationen und der Frauenfreiheitsbewegungen mit den kurdischen Frauen unseren gemeinsamen Kampf gegen patriarchale staatliche Institutionen stärken.

Das Treuhänderregime der AKP zeigt parallel zu der bisherigen Politik, dass der Wille und die Gesundheit der Menschen ihr nichts bedeuten, indem es die Treuhänder in einer Zeit ernennt, in der die Gesellschaft Dienstleistungen am meisten braucht. Der Staat bringt die Menschen dazu, auf die Straße zu gehen, sie unter ungesunden Bedingungen in Gewahrsam zu nehmen, die Menschen also sogar unter Bedingungen einer Pandemie anzugreifen.

Anstatt die Gesundheitsprobleme der Gesellschaft zu lösen, versucht die AKP-Regierung, die demokratischen Rechte anzugreifen, um ihre faschistische Verwaltung aufrechtzuerhalten. Während alle betonen, wie wichtig es ist, drinnen zu bleiben, dringen Dutzende von Polizisten in die Häuser der Menschen ein, holen sie aus ihren Häusern heraus und zerren sie auf die Straße.

Zur Bekämpfung der Pandemie haben die HDP-Kommunen Koordinationsteams eingerichtet und Informationen mit Gesundheits- und zivilgesellschaftlichen Verbänden ausgetauscht. Öffentliche Verkehrsmittel werden regelmäßig desinfiziert, Notfall-Hotlines eingerichtet, mehrsprachige Broschüren vorbereitet, soziale Projekte zur Verteilung von Gesundheits- und Lebensmittelpaketen gestartet und zehntausende hilfebedürftige Familien für die Versorgung mit Lebensmitteln und Gesundheitspaketen ermittelt. Grundbedürfnisse wie Wasser wurden kostenfrei zugänglich gemacht.

Der Staat plant, die Gesellschaft durch die Unterbindung zivilgesellschaftlicher Vereinigungen und die stärkere Abhängigkeit der Bevölkerung vom Staat dem Tod zu überlassen. In Kurdistan werden keine ausreichenden Vorsichtsmaßnahmen getroffen, es wurde nur ein Fallaufklärungszentrum für ganz Kurdistan eingerichtet. Die meisten Menschen, die ins Krankenhaus kommen, werden wieder nach Hause geschickt. Die diskriminierenden Diskurse gegen ältere Menschen nähren die sexistische, rassistische und religiöse Mentalität.

Die Coronavirus-Pandemie nimmt von Tag zu Tag ernsthaft zu und einer der riskantesten Orte sind die Gefängnisse. Die Kapazitätsraten der Gefängnisse in der Türkei liegen bei 121 Prozent, mit dem neuen Paket, das der Innenminister vorbereitet hat, werden politische Gefangene, Studierende, Feministinnen, Politiker*innen und Journalist*innen bei der Bekämpfung von Covid-19 von jeglicher Politik bezüglich der Gefängnisse ausgeschlossen. Menschen, die Sexualverbrechen, Morde, Drogenhandel und Diebstahl begangen haben, sollen aus den Gefängnissen entlassen werden. Wenn fünfzigtausend Menschen entlassen werden sollen, bleiben die restlichen zweihunderttausend zum Sterben zurück. Tausende von Menschen, die nur aufgrund der fehlenden Meinungsfreiheit verhaftet werden, werden in den Gefängnissen bleiben, wo es keine Rückzugsräume und keine hygienischen Bedingungen gibt und sich das Virus leicht verbreiten kann. Unter den Gefangenen befinden sich 1333 Kranke, darunter 457 Schwerkranke, außerdem Menschen mit besonderen Bedürfnissen, ältere Menschen und Kinder. Menschen, die wegen ihrer politischen Überzeugungen verurteilt wurden, werden als Mitglieder von Terrororganisationen dargestellt.

Auf der Grundlage internationaler Standards und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sollte die Definition des Terrorismus in der Türkei geändert werden. Alle Gefangenen, die aufgrund ihrer frei geäußerten Meinung inhaftiert wurden, sollten von den Terrorismusvorwürfen befreit und die Ungleichheit der Strafverfolgung für Tausende von Menschen sollte beendet werden.

Abdullah Öcalan, der über 70 Jahre alt ist, hat bis heute unter schwierigen Bedingungen im Gefängnis auf der Insel Imrali gelebt, wo wirklich schwere klimatische Bedingungen herrschen. Da die dort arbeitenden Beamten auf die Insel pendeln, tragen sie ein potentielles Risiko von Covid-19.

Alle politischen Gefangenen müssen daher freigelassen werden. Wir wissen, dass alle in ihren Ländern mit der Covid-19-Pandemie zu tun haben. Wir können globale Probleme nur mit globaler Solidarität lösen. Wir brauchen dringend eine globale Solidarität gegen die Verletzung des Rechts auf Leben, gegen Militarismus, Faschismus, Unterdrückung und Profitmacherei durch globale Dynamiken von Institutionen wie den Vereinten Nationen (UN), dem Komitee zur Verhütung von Folter (CPT), dem Europäischen Parlament, dem Europäischen Rat, UNICEF sowie den Menschenrechts-, Frauen- und ökologischen Vereinigungen.

Jetzt ist die Zeit der Solidarität, des gemeinsamen Kampfes und der Beendigung der Kriege. Wir wollen unsere freie Welt und wollen gemeinsam dafür kämpfen. Bleiben wir gesund, bleiben wir solidarisch!