In Syrien und in Europa mehren sich die Zweifel, wie ernst der selbsternannte syrische Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa sein Versprechen eines inklusiven Übergangsprozesses nimmt. Die mangelnde Vertretung von Kurd:innen, Drus:innen und Ezid:innen sowie Angehörigen anderer religiöser und ethnischer Minderheiten bei der sogenannten Konferenz zum nationalen Dialog letzte Woche in Damaskus stieß dementsprechend auf viel Kritik.
Syrisches Forum für Nationalen Dialog
Mit dem Ziel, zu einem inklusiven und demokratischen Übergangsprozess beizutragen, fand deshalb in Raqqa das „Syrische Forum für Nationalen Dialog“ statt. Mehr als 250 Teilnehmende aus allen Regionen Syriens diskutierten miteinander und entwickelten Vorschläge, wie die verschiedenen Krisen Syriens gelöst werden können. Besonders hervorgehoben wurde die Notwendigkeit einer Dezentralisierung der Verwaltung des Landes, die gerechte Verteilung aller Ressourcen und ein Recht auf sichere Rückkehr für alle Binnenvertriebenen. Darüber hinaus hat das Forum zur Bildung regionaler Dialogforen aufgerufen, um den Übergangsprozess zu einem freien, pluralistischem und demokratischem Syrien zu stärken.
Diese Vorschläge wurden in Form einer Abschlusserklärung veröffentlicht, die nun von der Deutschland-Vertretung der Demokratischen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien (DAANES) veröffentlicht worden ist und nachfolgend dokumentiert wird:

Für ein freies, pluralistisches und demokratisches Syrien
Die Gemeinschaften in ganz Syrien stehen vor komplexen wirtschaftlichen, politischen und sicherheitspolitischen Herausforderungen. Das autoritäre Regime hat das Land in mehr als 60 Jahren trotz seines reichen historischen Erbes und seiner natürlichen Ressourcen in einen gescheiterten Staat verwandelt. Anstatt einen bürgerlichen Staat zu errichten, wie es die von diesem Regime geschaffene Verfassung vorsah, schuf es einen Parallelstaat, der die Freiheiten unterdrückte, Grundrechte verletzte und die Ressourcen des Landes nach den Gesetzen der Oligarchie stahl. Schließlich wurde dieses tyrannische System dank der Opfer und Anstrengungen Hunderter syrischer nationaler Kräfte aus allen Bevölkerungsgruppen und Regionen Syriens gestürzt.
In Syrien gibt es derzeit Anzeichen dafür, dass sich ein neues politisches und administratives System herausbildet. Verschiedene syrische Akteur:innen arbeiten an Vorschlägen für diese Übergangsphase, in der sich das Land befindet. Die neue Regierung in Damaskus hat Anzeichen von Offenheit für einen nationalen Dialog gezeigt, aber dennoch herrscht in den meisten syrischen Bevölkerungsgruppen noch ein Zustand des Misstrauens gegenüber dieser Phase vor. Die meisten Akteur:innen scheinen nicht in der Lage zu sein, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, da die Logik der Ausgrenzung noch immer ihren politischen Diskurs zu dominieren scheint.
Mit dem Ziel, die Standpunkte der politischen Entscheidungsträger Syriens einander anzunähern und zu verhindern, dass eine Logik der Ausgrenzung die Übergangsphase dominiert, und in der Überzeugung, dass es notwendig ist, den nationalen Dialog fortzusetzen und ein neues politisches System aufzubauen, in dem alle Syrerinnen und Syrer ihre Rechte wahrnehmen können, im Einklang mit den Grundsätzen der Gerechtigkeit und der nationalen Identität, haben wir uns an den Aktivitäten des Syrischen Forums für Nationalen Dialog unter dem Motto „Für ein freies, demokratisches und pluralistisches Syrien“ beteiligt.

Breite gesellschaftliche Teilnahme an Konferenz
Dabei haben wir ein breites Spektrum von Intellektuellen, Akademiker:innen, Religionsvertreter:innen, Frauen, Künstler:innen und allen Teilen der Gesellschaft aus allen Regionen Syriens versammelt. Wir haben unsere Ansichten über die politische Lage in Syrien ausgetauscht, die wichtigsten Herausforderungen für den nationalen Dialog diskutiert und mögliche Lösungen für die verschiedenen Krisen vorgeschlagen.
Zum Abschluss dieses Forums legen wir sowohl der Öffentlichkeit als auch den Entscheidungsträger:innen in Damaskus und in den Gebieten der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien folgende Ideen und Vorschlägen vor:
1. Ohne die Berücksichtigung demokratischer Prinzipien und klarer nationaler Grundlagen, auf die sich alle Syrerinnen und Syrer geeinigt haben, kann der Prozess des nationalen Dialogs nicht erfolgreich sein und die Krise des Landes nicht beendet werden.
2. Wir lehnen es ab, dass der Prozess des nationalen Dialogs in Syrien von externen Akteur:innen bestimmt wird, um eine Bevölkerungsgruppe auszuschließen und Ressentiments unter den Syrerinnen und Syrern zu verbreiten.

3. Die Stärke Syriens liegt in der Vielfalt seiner Bevölkerung. Diese Vielfalt kann nur durch eine Dezentralisierung der Verwaltung des Landes berücksichtigt werden. Dezentralisierung ist die Garantie für inneren Frieden, der eine wichtige Voraussetzung für die Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien und die wirtschaftliche Erholung des Landes ist.
4. Eine umfassende nationale Identität darf nicht im Widerspruch zu lokalen und regionalen Identitäten stehen. Jede Bevölkerungsgruppe hat eine einflussreiche Rolle in der Geschichte Syriens gespielt. Diese Tatsache muss offiziell anerkannt werden und alle Bevölkerungsgruppen müssen aktiv in den Wiederaufbau des Regierungssystems und in die Ausarbeitung der Verfassung des neuen Syriens einbezogen werden.
5. Wir setzen uns für die Implementierung einer Übergangsjustiz ein. Damit wollen wir die Ungerechtigkeiten beseitigen, die den Syrerinnen und Syrern seit der Gründung des syrischen Staates widerfahren sind und die Rechte der Opfer wiederherstellen.
6. Alle Vertriebenen und Flüchtlinge sollen freiwillig und sicher in ihre Heimatregionen zurückkehren können. Sie sollen die nötige Unterstützung bekommen, um dort sicher leben zu können.
7. Die Ungerechtigkeit, unter der die Mehrheit der syrischen Bevölkerung leidet, und die kulturelle und ethnische Vielfalt, die Syrien kennzeichnet, machen einen Gesellschaftsvertrag erforderlich, an dessen Ausarbeitung alle politischen Akteur:innen und Bevölkerungsgruppen beteiligt sein müssen, ohne jemanden auszuschließen. Dieser Gesellschaftsvertrag kann als Grundlage für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung dienen.

8. Frauen hatten einen großen Anteil an der syrischen Revolution und spielten eine einflussreiche Rolle beim Schutz lokaler Gemeinschaften. Sie lehnen jede Verletzung ihrer Rechte oder den Ausschluss aus offiziellen und zivilen Institutionen ab.
9. Die Region Nord- und Ostsyrien hat eine historische, politische, soziale und kulturelle Besonderheit und lehnt den Ausschluss ihrer Institutionen aus dem Prozess des Aufbaus des politischen, administrativen, wirtschaftlichen und kulturellen Systems im neuen Syrien ab.
10. Der nationale Reichtum gehört allen Syrerinnen und Syrern, und alle müssen sich an der Verwaltung dieses Reichtums beteiligen, und zwar nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und in einer Weise, die dem Entwicklungsprozess und dem Wohlergehen aller Bürgerinnen und Bürger in den verschiedenen Regionen Syriens dient.
11. Wir betonen die Notwendigkeit des Rückzugs der Besatzungstruppen von syrischem Territorium.
12. Wir rufen dazu auf, eine nationale demokratische Front zu bilden, die alle Syrerinnen und Syrer zusammenführt.
13. Wir rufen dazu auf, Foren und Dialogseminare in verschiedenen syrischen Regionen zu organisieren, um über unsere gemeinsame Zukunft zu diskutieren.
14. Wir betonen die Rolle der Organisationen der Zivilgesellschaft sowie der Jugend- und Frauenbewegungen.
Fotos © DAANES/Handout