„Solange Abdullah Öcalan hinter Gittern sitzt, fühle auch ich mich nicht frei“

Die Hamburger Ethnologin Anja Flach verbrachte in den 90ern mehr als zwei Jahre bei der kurdischen Frauenguerilla. Zuvor lernte sie Abdullah Öcalan in Syrien kennen. Anlässlich des Jahrestags seiner erzwungenen Ausreise blickt sie zurück in diese Zeit.

Die deutsche Ethnologin, Frauenrechtsaktivistin und Buchautorin Anja Flach verbrachte mehr als zwei Jahre – von 1995 bis 1997 – als Internationalistin in den Bergen Kurdistans. Sie lernte das Leben der kurdischen Guerilla kennen und teilen und wurde inmitten des Krieges gegen die zweitgrößte NATO-Armee Augenzeugin und Teilnehmerin des Versuchs, ein anderes Leben aufzubauen. Vor ihrer Zeit in den Bergen hielt sich Flach für einige Monate in der zentralen Parteischule der PKK in der syrischen Hauptstadt Damaskus auf. Dort traf sie auch auf Abdullah Öcalan, den Vordenker der kurdischen Befreiungsbewegung. Nûçe Ciwan hat mit der Hamburgerin anlässlich des 24. Jahrestages der erzwungenen Ausreise des PKK-Begründers aus Syrien – dem Beginn des „internationalen Komplotts“ am 9. Oktober 1998 – über ihre Zeit bei Öcalan gesprochen.

Kannst du dich kurz vorstellen?

Mein Name ist Anja. Seit 1993 habe ich eine enge Verbindung zur kurdischen Frauenbewegung. 1995 war ich drei Monate in der Parteischule der PKK in Damaskus und konnte dort auch Abdullah Öcalan kennenlernen. Im selben Jahr bin ich als Guerilla der YAJK (Yekîtiya Azadiya Jinên Kurdistan) in die Berge gegangen und blieb dort bis Ende 1997. Bei meiner Rückkehr konnte ich den Vorsitzenden erneut sehen, wenn auch nur kurz.

Wie war das für dich als Internationalistin, Abdullah Öcalan kennenzulernen?

Zunächst, muss ich zugeben, hatte ich keinen wirklichen Zugang zu Abdullah Öcalan. Aus der deutschen Linken kommend, war ich mit den üblichen Vorurteilen belastet. Ich konnte seine Arbeit und seinen Beitrag zur Revolution in Kurdistan nicht wirklich verstehen und würdigen. Er ist keine Person, die einer deutschen Linken der 1990er Jahre auf Anhieb sympathisch war. Die Hetze in den deutschen – auch linken – Medien hatte offensichtlich auch auf mich eine Wirkung.

Mit der Zeit habe ich jedoch besser verstanden. Er führte öffentliche Dialoge mit Freund:innen in der Akademie, er nahm sich die Zeit mit jeder einzelnen Person zu sprechen, zu verstehen, mit welchen Fragen und welcher Persönlichkeit er oder sie gekommen war, ob ein ehrlicher Wunsch besteht, Teil der Revolution zu sein und einen Beitrag dazu zu leisten. Er hat die Fähigkeit, das tiefste Innerstes der Menschen zu erkennen, zu sehen, wie sie sich selbst belügen und sich etwas vormachen. Er glaubt daran, dass sie sich ändern können, dass sie wirklich zu Menschen werden können, die die Welt verändern, dass die Welt verändert werden kann. Insbesondere hier in Europa ist dieser Glaube, die Kraft dieser Zuversicht schwach, es gibt es viele Zweifel und Fatalismus.

Wir waren nicht die ersten Deutschen, die in der Parteischule waren. Er hatte schon bei anderen Genoss:innen festgestellt, dass sie stark vom Individualismus geprägt, ohne wirklich Teil revolutionärer Organisationen zu sein, gekommen waren. Daher hatte er schon ein Verständnis davon, welche Problematiken uns im Weg stehen, wenn wir uns beteiligen wollen. Ich habe erst in Damaskus begonnen, meine Sozialisation in der deutschen Gesellschaft und der deutschen Linken zu hinterfragen. Vorher war ich nie wirklich organisiert und musste schnell feststellen, dass ich auch keine Analyse der Weltlage, der Lage in Deutschland, in Europa, der Frauenbewegung hatte. Auch war ich nie Teil eines wirklichen Kollektivs gewesen. Darin liegt vielleicht unser größtes Problem als deutsche Linke, dass wir sehr stark vom Individualismus geprägt sind und nicht wie viele Kurd:innen in einer Gemeinschaft sozialisiert wurden. Ich verstand, dass die kurdischen Frauen mir, obwohl damals viele von ihnen keine klassische Schulbildung hatten, was politische Bildung betraf, sehr viel voraushatten, viel mehr wussten als ich, einen Begriff von der eigenen Lage und dem Weg daraus hatten.

Wie war Abdullah Öcalans Annäherung an dich, als Internationalistin? Wie hat er sich verhalten?

In den 1990er Jahren gab es den Aufruf Abdullah Öcalans an alle Revolutionär:innen und revolutionäre Organisationen weltweit, in die kurdischen Berge zu kommen und sich mit den Vorschlägen der PKK für eine weltweite internationalistische Bewegung auseinanderzusetzen. Dementsprechend war es der Partei und Öcalan sehr wichtig, dass wir verstehen, was die Bewegung ausmacht. Wir hatten die Möglichkeit an allen Diskussionen teilzunehmen, mit allen Genoss:innen zu sprechen, kein Vorhang blieb uns verschlossen, alles wurde für uns übersetzt. Das war sehr aufwendig für die Freund:innen damals. Obwohl wir eine so diffuse kleine Gruppe waren, hat Abdullah Öcalan dafür gesorgt, dass wir so viel wie möglich über die Bewegung lernen. Innerhalb von drei Monaten konnten wir also viel lernen und verstehen. Das hat mir später in den Bergen sehr geholfen und war sehr wertvoll.

Er schlug sogar vor, dass ich noch eine weitere Ausbildungseinheit in der Akademie bleiben soll. Leider habe ich dieses Angebot nicht angenommen, was ich später sehr bereut habe. In den Bergen, in einem sehr heißen Krieg, gab es wenig Möglichkeiten zur politischen Bildung. Er hat mich besser verstanden als ich mich selbst. Er hat meine Defizite genau gesehen. Das ist eine seiner Eigenschaften, dass er eine sehr gute Menschenkenntnis hat und den Menschen, die er trifft, im Grunde ins Herz und in die Seele blicken kann.

Habt ihr persönliche Unterhaltungen geführt? Kannst du dich noch daran erinnern, um was es dabei ging?

Als ich 1995 dort war, hat er offensichtlich schnell verstanden, dass ich keine Antworten auf die Fragen habe, die gestellt werden müssen, auch um eine revolutionäre Bewegung in Deutschland voranzubringen. Wir hatten zunächst die Aufgabe eine Broschüre über die kurdische Bewegung zu schreiben, was wir auch getan haben.

1997, nachdem ich zwei Jahre in den Bergen war, wollte er vor allem von mir wissen, ob ich eine freie Frau werden möchte. Nicht in dem Sinne wie Frauenbefreiung hier im Westen verstanden wird, sondern im Sinne einer revolutionären Frau, die die Gesellschaft, die Frauen insgesamt voranbringt. Er hat mir vorgeschlagen, über die Bewegung zu schreiben, was ich seither auch immer wieder versuche. Damals hat er mir auch angeboten, noch länger in Syrien zu bleiben. Das wäre sehr gut für mich gewesen, die kurdische Gesellschaft auch noch jenseits der militärischen Kräfte kennenzulernen, aber ich wollte nicht zuhören und bin individualistisch und blauäugig an meine Zukunftsplanung herangegangen.

Was hat dich am meisten beeindruckt an Abdullah Öcalan?

Ich konnte ihn als eine Person kennenlernen, die seine ganze Zeit und sein ganzes Leben für die Revolution einsetzt. Eine Person, die sehr groß denkt. 1993 hatte er den Frauen vorgeschlagen, eine eigene Armee zu gründen. Ich habe die kurdische Gesellschaft ein wenig kennengelernt und damals war das ein unerhörter Vorschlag. Viele Frauen fühlten sich nicht in der Lage, eine solche Aufgabe zu übernehmen. Und viele Männer glaubten, Frauen gehörten überhaupt nicht in die Armee. Öcalan hat weit voraus gedacht. Heute ist eine ganze Generation kurdischer Frauen mit der Selbstverständlichkeit einer Frauenarmee groß geworden, aber damals war das ein ungeheurer Schritt. Die PKK-Bewegung hätte nie so groß werden können, ohne dass jemand die Vorausicht gehabt hätte, Ideen zu denken, die vielleicht ein Jahrzehnt oder länger brauchen, um sie zu entwickeln und umzusetzen. Öcalan hat schon in den 1990er Jahren zu uns gesagt, dass Ökologie in Europa die entscheidende Frage sein wird, auch dass wir die Europäer:innen, also den Eurozentrismus, in uns töten müssen. Er ist seiner Zeit immer weit voraus, seine Analyse zeigt wirkliche Lösungen für die Probleme der Menschheit auf. Erst später, als ich seine Bücher gelesen habe, konnte ich das ansatzweise verstehen.

Wie war das dann für dich, als Abdullah Öcalan Syrien verließ und sich auf eine Odyssee quer durch Europa begab?

Zunächst war das sehr aufregend. Es hätte viele Chancen geboten, eine wirkliche Diskussion über die Lösung der kurdischen Frage hier in Europa zu führen. Im Nachhinein wurde allerdings klar, dass die Vorbereitungen und Einschätzungen der Freund:innen, die das hier vorbereitet hatten, nicht ausreichend waren, dass sie auf falsche Freunde gesetzt hatten, nicht gesehen haben, dass die NATO alles tun würde, um Öcalan zu vernichten. Das war dann eine sehr nervenaufreibende Zeit zwischen Hoffen und Bangen.

Was machte es mit dir zu erfahren, dass er in Kenia gefangen genommen und in die Türkei verschleppt wurde?

Ich kann sagen, das war wirklich einer der schlimmsten Tage in meinem Leben. Mit dem Kennenlernen der kurdischen Bewegung hatte ich so viel Hoffnung für das Entstehen einer neuen internationalistischen, revolutionären Bewegung verbunden. Am 15. Februar 1999 allerdings schien dann alles in Frage zu stehen. Abdullah Öcalan wurde in den türkischen Medien entwürdigend präsentiert, die Todesstrafe wurde ausgesprochen und es schien, als sei damit das Ende der PKK-Bewegung gekommen. Dutzende Freund:innen weltweit verbrannten sich öffentlich, darunter auch Menschen, die ich kannte. In Hamburg hatten die Genoss:innen das SPD-Büro besetzt, es gab zahllose Verhaftungen, in Berlin wurden vier junge Kurd:innen vor der israelischen Botschaft erschossen. Große Teile der Linken in Deutschland, auch der türkischen Linken, zeigten keinerlei Solidarität, sondern verbreiteten Defätismus. Die kurdische Bewegung in Europa reagierte teilweise kopflos. Das war auch das, was dieses NATO-Komplott erreichen wollte: der Bewegung den Kopf zu nehmen. Gleichzeitig hat der entschlossene Widerstand, vor allem der kurdischen Jugend, die Hinrichtung Öcalans verhindert. Und das ist ein Sieg, der trotz Allem errungen wurde. Viele haben nicht gezögert, ihre Wut und Entschlossenheit willensstark zum Ausdruck zu bringen. Damals konnte man das noch nicht sehen, aber letztlich ist die Bewegung aus dieser Niederlage gestärkt hervorgegangen, auch wenn es einige Jahre gedauert hat, bis sie sich konsolidiert hat.

Seit seiner Verschleppung befindet sich Abdullah Öcalan in politischer Geiselhaft des türkischen Regimes und wird unter schweren Isolationshaftbedingungen im Hochsicherheitsgefängnis auf der Insel Imrali festgehalten. Dort leistet er großen Widerstand. Der türkische Faschismus ist nicht gewillt, ihn freizulassen, ein letztes Lebenszeichen gab es im März 2021. Was bedeutet das für dich?

Wir müssen die europäische Brille ablegen, um Öcalans Botschaft zu verstehen. Zu verstehen, wo wir stehen und wo unser Feind steht. Die Tatsache, dass Abdullah Öcalan dieser Isolation ausgesetzt ist, bedeutet, dass wir alle davon abgehalten werden sollen, uns mit seinen Vorschlägen auseinanderzusetzen. Er hat uns einen Ausweg aus der tiefen Krise des kapitalistischen Patriarchats aufgezeigt. Wir alle sehen, dass wir unsere Mutter Erde zugrunde richten. Es braucht dringend eine Alternative zu diesem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das nur Zerstörung, Leid und Elend bringt - Klimakatastrophe, Kriege, Epidemien, Genozide, Femizide. Öcalan hat uns mit dem Demokratischen Konföderalismus, wie er in Rojava umgesetzt wird, eine Alternative aufgezeigt. Immer mehr Menschen, unter anderem in Afghanistan oder dem Iran kämpfen unter dem von Abdullah Öcalan und der kurdischen Frauenbewegung geprägten Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“  für diese Alternative. Es geht nicht um die oberflächliche individuelle Freiheit, sondern um eine Umwälzung des gesamten patriarchalen Systems hin zu einer basisdemokratischen, vielfältigen, geschlechterbefreiten und ökologischen Gesellschaft. Öcalan hat trotz der extremen Bedingungen auf Imrali alle Kraft aufgewandt, eine Anleitung zu geben, wie wir die Welt verändern können. Wenn wir uns wirklich einig wären, hätten wir die Macht, ihn aus dem Kerker zu holen. Ich glaube nicht, dass es einen Sinn macht, an die herrschenden Staaten und ihren nicht vorhandenen Humanismus zu appellieren. Vielmehr müssen wir als linke, feministische Kräfte die Gesellschaft dafür gewinnen, den Druck auf die Staaten zu erhöhen, damit wir den Vorsitzenden frei bekommen. So ist es auch gelungen Nelson Mandela zu befreien. Solange Abdullah Öcalan hinter Gittern sitzt, fühle auch ich mich nicht frei.