Selbstverteidigung kann nur durch kollektive Ökonomie erreicht werden
Gülistan Murad, Sprecherin des Ökonomie-Komitees von Kongra-Star, erklärt die Bedeutung des Aufbaus einer autonomen-kommunalen Frauenökonomie.
Gülistan Murad, Sprecherin des Ökonomie-Komitees von Kongra-Star, erklärt die Bedeutung des Aufbaus einer autonomen-kommunalen Frauenökonomie.
Die Revolution von Rojava ist auch eine ökonomische Revolution. Auf der Grundlage von kommunal-demokratischer Bedürfniswirtschaft wird Schritt für Schritt ein neues, alternatives System zum Kapitalismus und Industrialismus aufgebaut. Dabei steht das Empowerment der Gesellschaft im Mittelpunkt. Eine besondere Rolle spielt dabei die Stärkung der autonomen Frauenökonomie. Im ANF-Interview sprach Gülistan Murad vom Ökonomiekomitee der Frauenbewegung Kongra-Star über die Bedeutung des Aufbaus der Frauenökonomie und die Entwicklung dieses Bereiches. Sie zeigte aber auch Probleme auf, mit denen der ökonomische Neuaufbau zu kämpfen hat.
Sie sprechen immer wieder von „ökonomischer Frauenselbstverteidigung. Was ist damit gemeint?
Es wäre nicht falsch, den Dritten Weltkrieg als einen Wirtschaftskrieg zu bezeichnen. Dieser Wirtschaftskrieg richtet sich direkt gegen die Ökonomie der Gesellschaft. Die Frauenökonomie wird in diesem Krieg am stärksten getroffen. Aus diesem Grund halten wir die ökonomische Selbstverteidigung für sehr wichtig. Die Frauen müssen eine starke Position in der Wirtschaft haben. Aus diesem Grund setzen wir uns dafür ein, dass Frauen wirtschaftliche Unabhängigkeit erlangen. Indem wir die ökonomische Selbstverteidigung sicherstellen, zeigt sich auch die Kraft der Frauen. In letzter Zeit häufen sich sogenannte Naturkatastrophen. Diese Katastrophen führen zu einem hohen ökonomischen und ökologischen Schaden. Es sind aber keine Naturkatastrophen mehr, sondern haben sich zu Kriegskatastrophen entwickelt, die direkt die Wirtschaft betreffen. Die Zerstörung der Wirtschaft führt zu einer sozialen Krise und zu Chaos. Mehr als die Hälfte der Frauen, die wir besucht haben, konnten bisher keine ökonomische Unabhängigkeit erreichen. Frauen, die sich nicht selbst verteidigen können, sind physischen und psychischen Angriffen in allen Lebensbereichen ausgesetzt. Die Emanzipation der Frauen ist direkt mit der wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Frauen verbunden. Natürlich wäre es nicht richtig zu sagen, dass Frauen, die die ökonomische Unabhängigkeit erreichen, vollständig befreit sind. Frauen können sich nur befreien, indem sie eine geistige Freiheit, die auf den richtigen Grundlagen beruht, erlangen. Aber die wirtschaftliche Unabhängigkeit ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Emanzipation.
Wenn Frauen sich nicht gegen ökonomische Gewalt verteidigen können, sind sie den Angriffen des Patriarchats ausgesetzt. An diesem Punkt wird die Bedeutung der Selbstverteidigung deutlich. Eine Frau, die sich wirtschaftlich selbst verteidigen kann, kann sich selbst organisieren, für sich selbst Entscheidungen treffen und diese umsetzen; sie hat das Recht, mitzubestimmen. Für die Selbstverteidigung ist ein starkes Selbstvertrauen und starke Willenskraft nötig. Wir können die Unterschiede zwischen Frauen, die ihre wirtschaftliche Selbstständigkeit erreicht haben, und solchen, die sie nicht erreicht haben, leicht erkennen. Eine Frau, die ihre Unabhängigkeit erreicht hat, gestaltet ihr Leben selbst. Einer Frau, die wirtschaftlich von einer Familie oder einem Einzelnen abhängig ist, wird das Mitspracherecht verweigert und die Alternativen werden ihr genommen.
Könnten Sie grundsätzlich etwas zum Konzept der ökonomischen Selbstverteidigung sagen?
Rêber Apo [Abdullah Öcalan] sagt: „Die stärkste Wirtschaft ist die Wirtschaft, die durch die Hände von Frauen geschaffen wurde.“ Die von Frauenhand geschaffene Wirtschaft wurde den Frauen gestohlen, und die Frauen wurden von dieser Wirtschaft entfremdet. Mit der Rojava-Revolution wurde eine neue Ebene des Kampfes für den Aufbau der Wirtschaft einer Region durch Frauen und der Garantie der Selbstverteidigung erreicht. Eine Wirtschaft, die auf Individualismus beruht, ist für die Gesellschaft und die Frauen nicht von Vorteil. Die Selbstverteidigung kann durch die Schaffung einer kollektiven Wirtschaft erreicht werden. So wird die Verteidigung der Ökonomie eines Landes praktiziert. Der Kampf für die Selbstverteidigung ist der Kampf für den Aufbau eines neuen Landes. Eine Frau, deren Land keine wirtschaftliche Unabhängigkeit erlangt hat, kann ihre wirtschaftliche Selbstverteidigung nicht verwirklichen. Der Kampf um die Selbstverteidigung ist ein Kampf um die Mentalität. Die Sozialisierung der Wirtschaft wird zur Stärkung der Selbstverteidigung führen.
Was sind die Gründe dafür, dass Frauen bisher nicht den gewünschten Grad an wirtschaftlicher Selbstverteidigung erreichen können?
Wir haben kein Wirtschaftssystem, das alle Frauen einbeziehen kann. Wir haben versucht, Frauen über die Kooperativen zu erreichen, aber wir sind hier auch auf Hindernisse gestoßen. Es gab auch Schwierigkeiten aufgrund des Selbstverständnisses der Frauen und der Art und Weise, wie die Gesellschaft mit der Wirtschaft umgeht. Frauen sehen die Wirtschaft oder die Arbeit nicht als ihre eigene an. In der Tat spüren wir ganz deutlich die Folgen der Schäden, die den Frauen durch die jahrhundertelange patriarchale soziale Prägung zugefügt wurden. Die Selbstverteidigung konnte nicht das gewünschte Niveau erreichen, weil die Frauen nicht in der Lage waren, sich aus den traditionellen Denkweisen zu befreien, sich weiterhin auf das Haus beschränkt sahen und diese Situation nicht überwinden konnten. Frauen, die nie wirtschaftliche Freiheit hatten, die nie ein Mitspracherecht hatten und deren Rechte durch das Baath-Regime jahrelang missachtet wurden, können sich nicht so leicht aus dieser Klaue befreien. Darüber hinaus ist es uns nicht gelungen, die patriarchale Mentalität, durch die Frauen in ihren Verantwortlichkeiten eingeschränkt werden und die es als Gefahr ansieht, wenn Frauen ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit erlangen, vollständig zu wandeln. Bis heute ist es uns nicht gelungen, der Gesellschaft klar zu machen, dass Selbstverteidigung nicht nur etwas militärisches ist. Es ist unsere grundlegende Pflicht und Verantwortung, den Frauen die Notwendigkeit der Selbstverteidigung zu vermitteln, vom Militär bis zur Politik, von der Politik bis zur Bildung, von der Bildung bis zur Wirtschaft und Diplomatie.
Die Kriege hatten auch negative Auswirkungen auf die Wirtschaft. Das Kriegsumfeld, das tiefe Schäden in der Gesellschaft verursachte, führte eher zur Zerstörung als zur Stärkung der Wirtschaft. Der Wirtschaft, die sich in der Atmosphäre des Krieges entwickeln sollte, wurden nur begrenzte Möglichkeiten geboten. Um einen wirtschaftlichen Aufschwung zu gewährleisten, müssen die Schäden beseitigt und die Voraussetzungen für die Schaffung von starken Alternativen geschaffen werden. Tatsächlich macht der permanente Krieg deutlich, wie wichtig die wirtschaftliche Selbstverteidigung ist. In einem Land, das einen wirtschaftlichen Zusammenbruch erlebt, sind Gesellschaft und die Frauen einem massiven Migrationsdruck ausgesetzt. Es gibt Menschen, die es sich nicht leisten können, an einem Ort zu leben, der keine Arbeitsmöglichkeiten bietet.
Können Sie uns etwas über das Wirtschaftsmodell erzählen, das Sie mit der Rojava-Revolution geschaffen haben, und über Ihre Maßnahmen zur Stärkung der Frauenökonomie?
Mit der Rojava-Revolution wollen wir eine kommunale Wirtschaft aufbauen. Eine Wirtschaft, die im Dienste der Gesellschaft produziert. Wir bemühen uns, ein Modell zu schaffen, das eine Produktion in einem kollektiven Geist ermöglicht. Der Grundstein für die kommunale Wirtschaft wurde mit den Kooperativen gelegt. Das Kooperativsystem war ein Novum in Rojava. Unter dem Baath-Regime hatten wir kein System der Selbstverwaltung, das die Wirtschaft der Frauen integriert und sie in die Gesellschaft einbindet. Das Wirtschaftssystem lag in den Händen des Staates und die Gesellschaft war wie ein Befehlsempfänger des Staates. Die Gesellschaft hatte kein Mitspracherecht bei der Entwicklung ihrer Wirtschaft. Die Kooperativen schufen Arbeitsplätze für Frauen und boten ihnen große Chancen, ihre Wirtschaft zu stärken und sich selbst zu verwalten. In der Tat wurde soziale Gerechtigkeit erreicht. Durch die Schaffung eines Systems der sozialen Gerechtigkeit wurde die Gemeinschaft gefördert. Viele Frauen konnten keine Arbeitsmöglichkeiten finden. Mit den Kooperativen erhielten die Frauen Beschäftigungsmöglichkeiten und einen Raum, in dem sie sich selbst verwirklichen konnten. 80 Prozent der Kooperativen sind in der Landwirtschaft tätig. Die landwirtschaftlichen Kooperativen, die in den sieben Kantonen gegründet wurden, um jeder Frau eine Arbeitsmöglichkeit und damit wirtschaftliche Unabhängigkeit zu bieten, tragen auch zur Stärkung der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes bei.
Wie wirkt sich die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen auf ihre Beziehungen innerhalb der Familie und der Gesellschaft sowie auf die Bemühungen um die Gleichstellung der Geschlechter aus?
Die wirtschaftliche Stärkung von Frauen fördert die Gleichberechtigung und Chancengleichheit von Frauen und Männern. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen stärkt ihr Selbstvertrauen und befähigt sie, eigene Entscheidungen zu treffen. Dies stärkt ihr Selbstvertrauen und das Selbstwertgefühl. Das ermöglicht eine ausgewogenere Machtverteilung in den familiären Beziehungen und eine effektivere Rolle in Entscheidungsprozessen und unterstützt die Bildung gesünderer und gleichberechtigterer Beziehungen innerhalb der Familie. Frauen werden so ermutigt, sich stärker in der ökonomischen Sphäre und in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu engagieren. Dies führt zu einer stärkeren sozialen Teilhabe und ermöglicht es den Frauen, im sozialen Bereich aktiver zu sein. Das trägt dazu bei, die Armut zu verringern und den sozialen Wohlstand zu erhöhen. Dies wiederum führt zu einer stärkeren und nachhaltigeren Gesellschaft im Allgemeinen. Aus diesen Gründen sind Maßnahmen und Programme zur Förderung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit von Frauen ein wichtiger Schritt zur Schaffung einer gerechteren, ausgewogeneren und nachhaltigeren Gesellschaftsstruktur.
Was sind Ihre Pläne und Projekte für die kommende Zeit?
Unser Hauptziel ist zunächst die Verbreitung des Verständnisses des kommunalen Wirtschaftsmodells. Wir haben beschlossen, uns in nächster Zeit auf die Bildung zu konzentrieren, weshalb eine Wirtschaftsakademie eröffnet werden soll. Es sollen kooperative Projekte, die der Gesellschaft und den Frauen dienen, entwickelt werden. Unsere Diskussionen darüber sind noch nicht abgeschlossen. Unser Hauptziel ist es, ein autarkes Wirtschaftssystem zu aufzubauen.