Leyla Güven: Brief an meine Mutter

Ich erinnere mich, wie sich unser Vater über unsere politischen Einstellungen geärgert hat. „Deine Kinder sind Kommunisten geworden“, sagte er. Du hast ihn gefragt, ob er überhaupt weiß, was Kommunismus ist.

Aus dem Gefängnis hat die HDP-Abgeordnete Leyla Güven einen Brief an ihre verstorbene Mutter geschrieben. An der Trauerfeier konnte die kurdische Politikerin nicht teilnehmen, weil sie seit 61 Tagen im Hungerstreik gegen die Isolation Abdullah Öcalans ist. Ihre Mutter Cevriye Güven verstarb vergangene Woche im Alter von 94 Jahren in Konya.

In dem Brief von Leyla Güven an ihre Mutter heißt es:

„In dieser schweren Zeit, als es Dir sehr schlecht ging, konnte ich nicht bei Dir sein. Ich konnte Deine Hand nicht halten und nicht neben Dir sitzen, um Deine Stimme ein letztes Mal zu hören. Solche Abschiede sind sehr schwer. Es ist die letzte Aufgabe, die eine Tochter für ihre Mutter erfüllen sollte, aber mir war es nicht vergönnt. Auch vom Tod meines Vaters habe ich im Gefängnis von Amed erfahren, auch bei seinen letzten Atemzügen konnte ich nicht bei ihm sein. Ich erinnere mich daran, wie traurig Du darüber warst. Du hast mir immer das Gefühl gegeben, etwas Besonderes für Dich zu sein. Vielleicht lag es daran, dass ich Dein letztes Kind war. Oder daran, dass ich Dir so ähnlich bin. Du hast Unrecht nie hingenommen. Du warst widerspenstig. Du hast immer ausgesprochen, was Du richtig fandst. Bereits damals ist es Dir gelungen, die Tabus zu brechen, die Frauen auferlegt wurden. Es gab viele Menschen, die mir von Dir erzählt haben. Einmal sagte ein alter Mann zu mir: „Meine Tochter, ich habe vor Jahren eure Schafe gehütet. So einem Menschen wie deiner Mutter bin ich nie wieder begegnet.“ Alle haben immer von Deiner Menschlichkeit gesprochen. Du hast die Menschen spüren lassen, dass Du niemanden herabsetzt und alle als Menschen wertvoll waren.

Du hattest eine rebellische und weise Haltung. Wenn ich gefragt würde, was Hoffnung, Selbstlosigkeit, Toleranz, Weisheit und Fleiß bedeuten, würde ich sagen: „Meine Mutter“. Ich erinnere mich, wie sich unser Vater über unsere politischen Einstellungen geärgert hat. „Deine Kinder sind Kommunisten geworden“, sagte er. Und als Du gefragt hast, ob er überhaupt weiß, was Kommunismus ist, ärgerte er sich noch mehr und ging weg. Du hast stundenlang auf unseren Vater eingeredet, um ihm klar zu machen, dass wir Recht haben. „Was meine Kinder tun, ist richtig“, sagtest Du. Du hast uns beigebracht, Mensch zu sein. Das, wofür wir heute kämpfen, sind die Werte, die ich von Dir gelernt habe.

Mutter, ein ganzes Volk wird als nichtig erachtet. „Zieht die Kleidung an, die wir für euch vorgesehen haben, oder lauft nackt herum“, wird uns gesagt. Und dagegen kämpft das kurdische Volk seit Jahren an. Das weißt Du natürlich, wir haben oft und lange darüber gesprochen. Trotzdem warst Du als Mutter besorgt. Du hattest Recht mit Deinen Sorgen, denn wir haben uns für den Kampf entschieden. Deshalb sind wir auf die Zielscheibe geraten und zu Tausenden verhaftet worden. Viele haben mit dem Tod dafür bezahlen müssen. Wir sind gelyncht worden, wir wurden hinter Panzern her geschleift und es hat unschuldige Kinder gegeben, die im Schlaf getötet worden sind. Was den Kurden zugesprochen wird, ist der Tod. Nicht das Leben.

Wir leben in Zeiten, in denen Menschen täglich ihr Leben für die Freiheit Abdullah Öcalans einsetzen, den Millionen zu ihrem Repräsentanten erklärt haben. Ich bin im Hungerstreik, damit die Isolation Öcalans aufgehoben wird und Frieden und Freiheit im Land einkehren. Ich glaube, das ist Dir gar nicht gesagt worden, aber ich weiß, dass Du mit mir gefühlt hast. Hätte ich die Zeit und die Gelegenheit gehabt, es Dir zu erzählen, hättest Du mir von Herzen Recht gegeben. Das weiß ich. Isolation ist ein Verbrechen an der Menschlichkeit. Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Ich kämpfe, damit es aufhört. Gegen Unrecht aufzubegehren, habe ich von Dir gelernt. Du hast mir beigebracht, mich nicht zu beugen, mutig zu sein, die Wahrheit zu sagen und das Richtige zu tun. Alles, was Du mir beigebracht hast, ist sehr wertvoll, das solltest Du wissen, Mutter. Wie alle kurdischen Mütter musstest Du viel Leid erfahren, aber Du hast nie gejammert. Von Euch Müttern haben wir gelernt, dass Mutterschaft etwas Heiliges ist.

Meine geliebte Mutter, ich werde weiter kämpfen, um Dir und allen anderen Müttern gerecht zu werden. Mögest Du in Frieden ruhen.“