„Jineolojî-Camp Leyla Agirî“ im Wendland
Im Wendland hat am Wochenende das Jineolojî-Camp 2021 mit 50 Teilnehmerinnen stattgefunden. Das Camp war der Revolutionärin Leyla Agirî gewidmet.
Im Wendland hat am Wochenende das Jineolojî-Camp 2021 mit 50 Teilnehmerinnen stattgefunden. Das Camp war der Revolutionärin Leyla Agirî gewidmet.
Im Wendland sind am Wochenende 50 FLINTA (FrauenLesbenInterNonbinaryTransAgender) zum diesjährigen Sommercamp zusammengekommen. Es handelte sich um das dritte Jineolojî-Camp in Deutschland und reiht sich ein in den Aufbau der Arbeit, die in den letzten sieben Jahren auch in Europa begonnen wurde.
„Wir haben uns getroffen, um gemeinsam zu lernen, zu diskutieren, Wissen fließen zu lassen, sich zu stärken und zu vernetzen“, sagte eine Sprecherin des Jineolojî-Komitees. „Warum gerade im Wendland? Widerständige FLINTA brauchen widerständige Orte. Seit den 70er Jahren wird hier gegen Atomkraft und für die Verteidigung der Erde gekämpft. Diese Kämpfe waren schon immer starken Repressionen von staatlicher Seite ausgesetzt. Es ist ein Ort, an dem Menschen begonnen haben, gemeinschaftlich zusammenzuleben und für eine andere Gesellschaft einzustehen.“
Gewidmet war das Camp der Revolutionärin Leyla Agirî (Filiz Aslan), die dem Exekutivrat der Gemeinschaft der Frauen Kurdistans (KJK) angehörte und im Juni 2020 durch eine türkische Killerdrohne getötet wurde. Das Jineolojî-Komitee beschreibt sie als „eine widerständige Frau und Kämpferin“, die für ebendiese Werte in der kurdischen Frauenguerilla lebte. „Wir lernten von ihr, dass in den Anfängen der Jineolojî die kurdischen Frauen sehr viel über ihre eigene Identität diskutiert haben, um sich selbst zu werden, und nach ihren Maßstäben kollektiv zusammenzuleben, um darüber politisch zu wirken und Veränderung auf alle Genoss:innen und die Gesellschaft zu erzielen.“
Der Hauptgrund der aktuellen Krise und Ausweglosigkeit, in der die Menschheit heute lebt, ist die krisenhafte Identität der Frau, welche das patriarchale System geschaffen hat. – Leyla Agirî
Eine grundlegende Aufgabe des Camps war die Vermittlung und Vertiefung des Wissens über die Jineolojî. Dabei geht es um die Auseinandersetzung mit der Theorie, um diese in die Praxis einzubringen – ausgehend von Kurdistan auch in anderen Regionen der Welt. Jineolojî bedeutet „Wissenschaft der Frau und des Lebens“. Eine wesentliche Idee ist, das Wissen über die widerständige Geschichte von Kommunalität und Freiheit aus dem Staub der patriarchalen Aneignungsgeschichte herauszufiltern, um dann die eigene Geschichte zu schreiben und daraus auch eine Umsetzung im Leben zu finden. „Dafür lernten wir am Anfang viel zu der Geschichte der kurdischen Freiheitsbewegung, der Entstehung der autonomen Frauenguerilla, der selbstverwalteten Frauenakademien und den gefangenen Revolutionärinnen in den Knästen der Türkei, über die die Jineolojî als revolutionäre Wissenschaft entwickelt wurde.“
Für viele der Teilnehmerinnen war das Camp eine Lebenserfahrung, nämlich wie autonom-feministische Organisierung und der Austausch über persönliche Erfahrungen heilend sein kann, um daraus wiederum Kraft zu schöpfen für den ganzheitlichen politischen Kampf. Durch die Vorträge und Workshops zu einigen der verschiedenen Bereiche der Jineolojî – Gesundheit, Bildung und Pädagogik, Kunst und Kultur, Geschichte und Widerstand, Forschung – und Methoden der Jineolojî sind die Werte dieser Wissenschaft auch praktisch gelebt und in Bezug auf das patriarchal-kapitalistisch geprägte Leben der Teilnehmenden analysiert worden. Konkret bedeutete das an diesen Tagen neben den Vorträgen auch Kräuterwanderung, Theater und Diskussionen. Zusätzlich wurde der Alltag kollektiv in Kommunen organisiert. Dazu gehörten tägliche Tekmîl (Kritik/Selbstkritik) und ein abschließender Moral-Abend: ein Abend der Hevaltî (Freundschaftlichkeit) zum Teilen von Gedichten, Liedern, Spielen und Tanzen am Feuer.
Ausgehend von der Geschichte des Patriarchats wurden die drei Geschlechterbrüche skizziert, die die Verschlechterung des Status der FLINTA-Personen zur Folge hatten. Die historischen Bezüge erschienen nicht theoretisch und abstrakt, sondern wurden emotional durch die Verwebung mit eigenen Sozialisationserfahrungen und der eigenen Familiengeschichte greifbar und durch den gemeinschaftlichen Austausch zu etwas Kollektivem.
„Nach der Jineolojî befinden wir uns derzeit im dritten Geschlechterbruch. Dieser eröffnet die Möglichkeit zur tiefgreifenden Veränderung unserer unterdrückten Position durch gemeinsame Kämpfe – im Denken und Fühlen wie im Handeln. Was gibt uns Kraft und Mut, um den dritten Bruch zu vollziehen? Es ist die kollektive Organisierung und die Verbindung zu vergangenen feministischen Kämpfen, den aktuellen in Kurdistan und Chiapas, sowie auf der ganzen Welt“, fasste das Jineolojî-Komitee abschließend zusammen. Es sei auch die eigene Persönlichkeitsentwicklung verbunden mit der Suche nach der Antwort, wie Menschen als FLINTA in dieser „unterdrückenden patriarchalen Gesellschaft“ ihrer Selbst bewusst werden können. „Wir haben viele verschiedene Antworten darauf gefunden, vor allem sehen wir in jeder von uns die Veränderung – wir sind die Veränderung.“
Solidarisch mit verschwundenen RJAK-Aktivistinnen
„Zuletzt wollen wir darauf hinweisen, dass nicht alle kämpfenden Frauen bei uns sein konnten. Jeden Tag sind organisierte FLINTA weltweit von staatlichen Repressionen betroffen. Wir als Camp zeigen uns explizit solidarisch mit den drei verschwundenen Freundinnen Xewla Mihemed Hesen, Ciwana Abdulbaqî und Seyran Ehmed in Südkurdistan. Jin, jiyan, azadî!“
Xewla Mihemed Hesen, Ciwana Abdulbaqî und Seyran Ehmed sind führende Mitglieder der südkurdischen Frauenbewegung RJAK (Rêxistina Jinên Azad a Kurdistanê) und wurden am 4. August in der Gemeinde Kelek nahe Hewlêr (Erbil) von der Geheimpolizei der PDK (Asayîş) festgenommen. Zuvor hatten sie sich in Şengal aufgehalten, wo sie mit weiteren Aktivistinnen an einer Gedenkveranstaltung anlässlich des siebten Jahrestags des IS-Überfalls auf das ezidische Hauptsiedlungsgebiet teilgenommen haben. Seitdem fehlt jede Spur von ihnen. Alle Versuche der Angehörigen, etwas über das Schicksal der Frauen zu erfahren, blieben erfolglos.