Leyla Şaylemez – ein Leben im Widerstand
Leyla Şaylemez war 25 Jahre alt, als sie ermordet wurde. Ihr kurzes Leben war vom Widerstand geprägt. Ihre Familie sagt: „Sie war unbeugsam und entschlossen. Sie akzeptierte kein Unrecht.“
Leyla Şaylemez war 25 Jahre alt, als sie ermordet wurde. Ihr kurzes Leben war vom Widerstand geprägt. Ihre Familie sagt: „Sie war unbeugsam und entschlossen. Sie akzeptierte kein Unrecht.“
Leyla Şaylemez (Ronahî) war 25 Jahre alt, als sie gemeinsam mit Fidan Doğan und Sakine Cansız aus dem Führungskader der PKK am 9. Januar 2013 in Paris ermordet wurde. Von Leyla blieb, wie ihre Familie immer wieder betont, ein „Erbe des Kampfes“, das Stolz erweckt, und ein I-Pod auf dem das Lied „Ağlama Bebeğim“ („Weine nicht mein Baby“) von Ahmet Kaya die Playliste anführte.
Es ist so, als ob sie sich in dem Lied selbst wiederfand; sie hat in Deutschland gelebt, sich mit all den Widersprüchen auseinandergesetzt und entschieden, sich der Freiheitsbewegung anzuschließen. Sie versuchte zweimal in die Berge Kurdistans zu gehen, aber es gab Probleme und sie konnte die Region nicht erreichen. Aber wie ihre Mutter Şifa Şaylemez sagt: „Sie machte die Dinge, die sie sich in den Kopf setzte, auf jeden Fall und hat Misserfolge nie hingenommen.“ So war es auch damals und im Jahr 2008 schickte sie ihrem Vater diese Nachricht: „Ich habe mein größtes Ziel, in die Berge der Freiheit zu gehen, erreicht.“
Als sie diesen entfernten Ort erreichte, gab sie sich den Namen der deutschen Revolutionärin Andrea Wolf – Ronahî. Andrea Wolf ist am 23. Oktober 1998 in Şax (Çatak) bei Wan gemeinsam mit weiteren Freund*innen von türkischen Soldaten ermordet worden. Sie war wie Leyla aus Deutschland in die Berge gegangen.
Migration aus Kurdistan
Cumali Şaylemez, Leylas Vater, erzählt: „Leyla hatte große Träume, aber Freiheit war für sie das wichtigste. Was sie in die Berge der Freiheit brachte, waren sowohl ihre eigene Lebenserfahrung als auch die Lage ihres Volkes.“ Er erzählt, wie die Familie aus Licê in der Provinz Amed nach Mersin und schließlich nach Halle ins Exil gehen musste: „Ihre Mutter und ich sind in Licê geboren. Licê ist ein Ort, der niemals seinen Frieden mit dem Staat gemacht hat. Seit dem Şex-Said-Aufstand in den 40ern bis heute sind die meisten Dörfer niedergebrannt worden. Sowohl aufgrund der Repression des Staates als auch wegen eines Streits um Land im Dorf waren wir 1978 gezwungen, nach Mersin zu gehen. Als wir umzogen, gab es dort nur sehr wenige Kurden. Mersin war für uns wie ein fremdes Land. Uns war bewusst, dass wir Kurden sind, deswegen versuchten wir mit den anderen Kurden zusammenzukommen und eine Community zu bilden. Mit dem Beginn des bewaffneten Kampfes der PKK im Jahr 1984 kamen tausende Kurden, deren Dörfer zerstört wurden, nach Mersin. Zu Beginn der 90er Jahre hatten sich kurdische Viertel gebildet und auf Hochzeiten wurde die Fahne der ERNK ausgerollt.“
Ankunft in Europa
Nach zwei Brüdern kam Leyla 1987 als drittes Kind der Familie zur Welt und wuchs in einem ziemlich politisierten Viertel auf. Ihr Vater Cumali Şaylemez war Mitglied der DEP und wurde immer wieder festgenommen und gefoltert. Deswegen floh er 1994 nach Deutschland. Mutter Şaylemez sagt: „Leyla war auch schon zu dieser Zeit sehr stark, verantwortungsbewusst und kämpferisch. Sie akzeptierte zum Beispiel manche Verbote für Mädchen nicht und tat alles, was die Jungs auch machten. Sie kritisierte den Vorzug der Männer bei der Erziehung.“ Leyla kam in Mersin in die Schule und als sie 1997 in der dritten Klasse war, zog die Familie zu ihrem Vater nach Halle.
Nicht Kurdin sein können!
Nachdem Leyla in Mersin als Kurdin viele Schwierigkeiten hatte, kam sie nach Halle, wo es wenig Migranten, aber sehr viele Rassisten gab. Leyla, die zuvor als Kurdin diskriminiert worden war, wurde in Halle als „Ausländerin“ und vor allem als „türkische Ausländerin“ betrachtet. Selbst wenn sie rassistisch behandelt wurde, wurde sie nicht als Kurdin, sondern als Türkin angegriffen. Auch in Deutschland wurde die kurdische Identität nicht akzeptiert und weil Leyla aus der Türkei kam, galt sie als Türkin.
In Halle ist Leyla ist zusammen mit ihrem Bruder Mikail eine der wenigen nichtdeutschen Kinder an der Schule. Sie wird jeden Tag beleidigt. Ihre Mitschüler greifen sie verbal und manchmal auch körperlich an.
Als sich ihr Bruder Mikail gegen einen rassistischen Angriff verteidigt, wird er von der Schule geworfen. Aber Leyla ist entschlossen zu lernen. Sie lernt in kurzer Zeit Deutsch und wird eine der erfolgreichsten Schülerinnen der Klasse. Ihre meisten Freundinnen sind ebenfalls nicht-deutsch – sie kommen aus Vietnam, Indien oder Korea.
Ihre Mutter erzählt von dieser Zeit: „Wenn es eine deutsche Freundin gab, dann ging die Beziehung kaputt, denn Leyla brachte sie nach Hause mit, wir machten essen, sie haben sich sehr gefreut, aber weil wir auf dem Boden gegessen haben, sagten sie dann später in der Schule ‚die sind schmutzig, die essen vom Boden.‘ Leyla schimpfte dann mit ihnen und die Freundschaft ging kaputt.“
Die Mutter erinnert sich, dass Leylas Fragen zur Bedeutung der kurdischen Identität zu dieser Zeit zunahmen: „Wenn wir zum Beispiel auf ein Amt gingen und sagten, wir sind Kurden, dann wurde das nicht akzeptiert. Uns wurde gesagt: ‚Nein, ihr seid Türken.‘ Das war sehr schwer für Leyla hinzunehmen. Sie fragte immer: ‚Wer sind wir, warum akzeptieren sie uns nicht?‘“
Leyla war meine Hand und mein Fuß
Şifa Şaylemez sagt: „Für mich waren diese Zeiten wie ein Gefängnisaufenthalt. Andauernd war ich zu Hause. Ich ging nur einmal in der Woche zum Einkaufen aus dem Haus. Leyla war meine Hand und mein Fuß. Sie hat ihre Geschwister und auch meine Enkel aufgezogen. Sie hat nicht einmal geklagt oder gesagt, ich kann das nicht machen. Ich weiß nicht, wie ich ohne sie leben, wie ich es hätte aushalten können. Sie war nicht nur meine Tochter, sie war meine Freundin, meine Genossin, mein alles.“
Sie beschreibt ihre Tochter mit den Worten: „Leyla war sehr fleißig, sie kam sehr gut mit den Menschen um sie herum zurecht und brach nicht einfach mit Menschen. Aber gegenüber Unrecht war sie unnachgiebig, sie würde bis zum letzten kämpfen. Sie machte ihre Aufgaben sehr ordentlich, akzeptierte keinen Misserfolg und hätte alles erreicht, was sie sich vorgenommen hat. Sie bereitete sich auf die Universität vor, wenn sie gewollt hätte, hätte sie studiert und Karriere gemacht, aber sie entschied sich, für ihr Volk zu kämpfen.“
Entschlossen und fleißig
Ihre Mutter hebt Leylas Fleiß und ihre Entschlossenheit hervor: „Wenn sie in der Schule eine schlechte Note bekam, bemühte sie sich so lange, bis sie sich verbesserte, und sie schaffte es immer. Einmal hatte Leyla ziemlich zugenommen. Sie hat sich daran gestört und gesagt, sie werde jetzt abnehmen. Also lief sie jeden Tag, wenn sie von der Schule kam, bis sie nicht mehr laufen konnte die Treppe rauf und runter. Danach lernte sie auch noch. So nahm sie in kurzer Zeit ziemlich ab.“
Sie erreichte ihren Traum
2004 schreibt sich Leyla im kurdischen Verein von Halle für einen Folklore-Kurs ein. Die Folkloregruppe ist eigentlich nur für Erwachsene, aber Leyla besteht darauf und wird Teil des Teams. Sie wird in kurzer Zeit zur entschlossensten und ausdauerndsten Schülerin der Gruppe. Sie lernt schnell alle Tänze und tritt häufig mit der Gruppe auf. Gleichzeitig fängt sie auch mit der Jugendarbeit an und wird zur Jugendverantwortlichen von Halle. Leyla hilft einerseits zu Hause, passt auf ihre Neffen und kleinen Geschwister auf, geht zu Schule, macht bei der Folklore-Gruppe mit und leitet die Jugendarbeit. Im Jahr 2008 entschließt sich Leyla, einen noch größeren Schwerpunkt auf ihre politische Arbeit zu legen und wird Sprecherin der Frauenkommission. Als erfolgreiche Schülerin bereitet sie sich auf die Universität vor, liest und diskutiert viel und so intensiviert sich die Wahrnehmung der Widersprüche, in denen sie seit Jahren lebt. Und schließlich erfüllt sich ihr „größtes Ziel“ und sie geht in die kurdischen Berge.
Alles mit anderen geteilt
Leyla war glücklich, sie hatte ihr Ziel erreicht, aber aufgrund von gesundheitlichen Problemen konnte sie nicht bleiben. Sie musste kurze Zeit in medizinische Behandlung und kehrte im Jahr 2010 nach Deutschland zurück. Ihre Mutter hatte nicht erwartet, sie nochmal zu sehen. Ihre erste Begegnung nach zwei Jahren schildert sie folgendermaßen: „An einem Tag war unsere Wohnung wieder einmal voll und ich war in der Küche. Plötzlich stand mir Leyla gegenüber. Ich hatte es nicht erwartet. Ich hatte wunderbare Dinge im Kopf. Ich wollte sie umarmen, aber ich dachte… Leyla verstand die Sorge in meinem Gesicht sofort und sagte: ‚Mutter, ich schwöre auf die Gefallenen, die Freunde haben mich geschickt. Ich bleibe nur ein paar Tage, dann gehe ich‘. Dann umarmte ich sie inniglich.“
Nach ihrer Ankunft in Deutschland wird Leyla medizinisch behandelt, kümmert sich aber auch um die Jugendarbeit. Zuerst geht sie nach Zürich. Nach einem Jahr in Zürich geht sie nach Frankfurt und eine Weile später nach Hannover. Ihre Mutter erinnert sich an Leyla aus dieser Zeit: „Als Leyla zum ersten Mal kam, blieb sie ein paar Tage bei uns und reiste dann weiter. Wir gingen zum Bahnhof, um uns von ihr zu verabschieden. Als sie ihr Ticket kaufte, sagte sie, obwohl sie Geld dabei hatte, dass das Ticket so teuer sei und sie es nicht vom Geld der Organisation kaufen wolle. Wir bezahlten es.“
Mutter Şifa berichtet, dass Leylas genossenschaftliche Beziehungen sehr tief waren: „Wir bereiteten auf den Festivals eine Menge Essen zu, Leyla nahm das Essen und verteilte es an ihre Freundinnen und Freunde.“
Sie ging wegen der Repression nach Paris
Ihr Vater berichtet, dass Leyla, nachdem sie in Hannover gewesen war, wo der türkische Geheimdienst sehr aktiv ist, zum Ziel von Observationen durch die deutsche Polizei geworden sei. Ihre Aufenthaltsorte wurden beobachtet, die Wohnungen wurden durchsucht und deshalb sei sie nach Paris gegangen. Im November 2012 war Leyla in Münster operiert worden und dann zehn Tage nach Hause gekommen. Er erzählt: „Meine Mutter hatte einen Herzinfarkt, deswegen war ich zu ihr nach Mersin gereist. Leyla rief mich an und sagte, meiner Mutter werde es bald besser gehen, sie gab mir Kraft. Als meine Mutter die Lebensgefahr überstanden hatte, reiste ich am 9. Januar wegen bürokratischer Angelegenheiten nach Deutschland. Ich kam gegen zehn Uhr in Deutschland an. Mein Sohn und mein Enkel holten mich ab. Sie sagen mir nichts. Als ich nach Hause kam, sah ich eine große Menschenmenge. Ich verstand immer noch nicht. Ich glaubte, meine Mutter sei verstorben. Die Freunde sagten, wir sollten nach Paris kommen. Sie sagten, sie hätten Tickets und wir sollten von Berlin nach Paris fliegen. Ich versuchte immer noch die Situation zu begreifen, da richteten sich meine Augen auf einen Fernseher, bei dem der Ton ausgeschaltet war, als ich da das Foto von Leyla sah, verstand ich. Dass es so kam, war für mich als Vater und für uns alle emotional schwer, aber wir als Familie kennen die Konsequenzen des Kampfes. Ich sagte dann in Paris: ‚Das sind nicht unsere ersten Gefallenen, aber ich hoffe, es sind die letzten.“
Ehre ist nicht der Körper einer Frau
Leylas Onkel Hamdulla Şaylemez hat Leyla zuletzt im Alter von 17 gesehen. Er erinnert sich: „Zuletzt war Leyla mit ein paar Leuten zu mir zu Besuch gekommen. Ich schimpfte, weil sie meiner Ehefrau half. Da fing Leyla an, mit mir zu diskutieren. ‚Onkel, warum machst du das so? Das kannst auch du machen. So geht das nicht. Die Frauen werden immer zurückgelassen und verachtet. Das ist falsch.‘ Sie war sehr entschlossen und beharrlich in der Verteidigung der Dinge, an die sie glaubte.“
Leylas einzige Sehnsucht sei Kurdistan gewesen, sagt ihr Onkel: „Das hat sie sich in diesem Alter in den Kopf gesetzt. Sie hat ihren Weg gezeichnet. Sie sagte ‚Warum sind wir so spät dran?‘ Sie diskutierte mit mir vor allem über politische Themen. Am meisten störte sie die Unterdrückung von Frauen. Sie sprach über die Ungleichheit zwischen Mann und Frau und sagte: ‚Ehre ist nicht der Körper einer Frau. Die Heimat ist die Ehre.‘ Wir diskutierten einige Stunden über diese Themen. Das war unsere letzte Begegnung.“
Nachricht von ihrem Tod im Gefängnis erhalten
Leylas Onkel Ahmet Şaylemez, der zu ihren Kindheitsfreunden zählt, ist mit Leyla in einer Wohnung zusammen mit zehn Kindern aufgewachsen: „Sie unterwarf sich nicht gerne. Sie war von Anfang an kämpferisch. Sie war unnachgiebig und pflegte zu sagen, sie tue, was sie wolle. Wir stritten und kämpften viel. Zuletzt sah ich sie im Alter von 17 Jahren. Sie war gewachsen. Sie war nun größer als wir. Von ihrem Tod erfuhr ich über die Nachrichten im Gefängnis. Die Welt brach für mich zusammen. Die Klagen ihrer Mutter werden nie aus meiner Erinnerung verschwinden.“
„Ihre größte Sehnsucht war Amed“
Leylas Tante Nursel Şaylemez erinnert sich: „Sie war ein sehr lebendiges Kind. Sie saß nie still.“ Sie erinnert sich, Leylas größte Sehnsucht sei es gewesen, an der Newroz-Feier in Amed teilzunehmen. „Sie hat ihre Mutter immer wieder nach den Gefallenen gefragt. Warum sie gefallen sind“, sagt Nursel. Der Schmerz sei unbeschreiblich gewesen, als sie Leylas Leiche in Empfang nahmen: „Der Tod passte nicht zu den dreien.“ Sie erzählt, Leyla habe die Rolle, die das patriarchale System Frauen beimisst, nicht hingenommen: „Sie sagte immer: ‚Lasst euch nicht unterdrücken, schützt euch. Sonst unterscheidet ihr euch nicht von den Männern.‘ Leylas Tante fordert, dass der Mord aufgeklärt wird und die Täter die schwerste Strafe erhalten.
Fehmi Katar, Yeni Özgür Politika