Jiyans Lachen

Wir wurden bei einer Razzia im Morgengrauen festgenommen, es war noch nicht hell. In der Polizeiwache wurde ich gefragt: „Wo ist Esma?" Ich hatte den Namen Esma noch nie gehört, denn ich kannte sie nur als Jiyan.

Jeder Versuch, Jiyan mit ihrem Weg, ihrem Leben und ihrer Guerilla-Praxis zu beschreiben, ist unzureichend. Ich weiß immer noch nicht, ob ich es einigermaßen erklären kann, aber da ich glaube, dass ein solcher Artikel geschrieben werden sollte, werde ich es versuchen. Jiyan heißt Leben und Jiyan kannte das Leben. Sie wusste, wie man richtig lebt, und sie hatte ihr Leben mit dem Schicksal ihres Landes verbunden. Sie organisierte, wies die Richtung und vererbte ein großartiges Leben.

In der heutigen Realität Kurdistans ist es sinnlos zu sagen: „Wir leben halt, wir leben umsonst." In ganz Kurdistan, in Rojhilat, Başûr, Rojava und Bakur, fallen junge Körper zu Boden und hinterlassen ein Vermächtnis des Widerstands. Ich möchte Jiyan gedenken, die uns ein Leben voller Widerstände hinterlassen hat. Ich kannte sie. Wir haben zusammen gelernt, sind zusammen aufgewachsen, haben gemeinsam gegessen, sind zusammen gelaufen. Das Schreiben fällt mir schwer. Sie hat bis zum letzten Atemzug gekämpft und der Wunsch, an ihrer Seite gegen den Feind zu kämpfen, überwiegt das Leben. Sie hätte über mich schreiben sollen, nicht ich über sie, wenn sie es denn gewollt hätte. Das gleiche Gefühl empfinde ich für viele Weggefährt:innen. Bei Jiyan ist es besonders schwer. Ich kann damit nur umgehen, wenn ich das Vermächtnis des Widerstands, das sie hinterlassen hat, mit offenen Armen annehme.

Jiyan Amargî, Guerillakämpferin und Medienmitarbeiterin der YJA Star

Jiyan Amargî (Esma Avşar) wurde in Cizîr in einer Familie geboren, die dem Stamm der Didêrî angehörte und deren Wurzeln die Koçer (Nomaden) in Botan waren. Im Zuge der Völkermordattacken der türkischen Besatzungsmacht wanderte die Familie jedoch aus und ließ sich in Êlih (Batman) nieder. Dort wuchs Jiyan als Tochter eines Nomadenstamms aus Botan auf. In gewisser Weise hat sie das Leben in Êlih kennengelernt und einen Sinn darin gefunden. Jiyan ist mit dem Kampf in Êlih aufgewachsen, in einem patriotischen familiären Umfeld und in einer solchen Nachbarschaft. Ihre Familie gab ihr bei ihrer Geburt den Namen Jiyan, aber in jenen Jahren war die kurdische Sprache in der Republik Türkei verboten. So wurde als Name Esma im Bevölkerungsregister eingetragen. Trotzdem nannte ihre Familie sie immer Jiyan. Jiyan wurde nur manchmal bei offiziellen Anlässen und wenn die Lehrer:innen in der Schule sie riefen zu Esma.

Razzia im Morgengrauen

Wir wurden bei einer Razzia im Morgengrauen festgenommen, es war noch nicht hell. In der Polizeiwache wurde ich gefragt: „Wo ist Esma?" Ich hatte den Namen Esma noch nie gehört, denn ich kannte sie immer nur als Jiyan. Die Polizisten schrien und brüllten. Ich fragte mich, wer diese Esma war, denn der Feind hatte speziell nach ihr gefragt. Jiyan war damals bereits als Guerillakämpferin in den freien Bergen. Es stellte sich heraus, dass Esma in Wirklichkeit Jiyan war. Die Schläge, die wir erhielten, weil wir den Namen, den der Feind unserer Freundin gegeben hatte, nicht kannten, waren also umsonst. Ich kehrte neugierig zurück, und nachdem ich das Protokoll gelesen hatte, wurde mir klar, dass Esma Jiyan war.

Jiyan war eine der wenigen Frauen, die ich im Laufe meines Lebens kennen gelernt habe, die das System in Frage stellten und sich mit ihrem Kampf dagegen wehrten. Ihre Fähigkeit, Widersprüche zu erkennen, stand dabei im Vordergrund. Sie war in der Lage, die Situation, in der sich die Menschen befanden, nach ein paar Eindrücken zu verstehen und zu analysieren. Sie konnte ihr Leben vorhersehen und wusste, woher sie kam, wo sie gewesen war und wohin sie gehen würde. Sie lebte einfach. Jiyan liebte die Menschen und ihre Genossinnen und Genossen sehr.

Jiyans Stimme

In Mesopotamien wurden noch nie dagewesene Heldentaten vollbracht. Während sie diese Heldentaten zum Ausdruck bringen, sind einige Dengbêj so inbrünstig, als ob sie die Pflicht hätten, diese Epen zu den Völkern und in die Geschichte zu tragen. [Der Dengbêj-Gesang ist der wichtigste Teil der traditionellen kurdischen Musikkultur. Mit diesem Namen werden Sänger:innen benannt, die Gedichte, Epen und historische Ereignisse der oralen kurdischen Literatur in Form von Liedern wiedergeben. Das Wort leitet sich aus deng (Stimme) und bêj (sagen, sprechen) her. Für das kurdische Volk gilt die orale Literatur als Autobiografie der Gesellschaft, daher werden Dengbêj auch als Historiker:innen betrachtet.] Diese Dengbêj wissen, dass die Weiterführung dieser Heldentaten in die Zukunft von ihren wirkungsvollen Worten und der Einprägsamkeit ihrer Stimmen abhängt. Aus diesem Grund singen sie, als ob sie ihr ganzes Herzblut in die Sache steckt. Auch die Stimme von Jiyan ist mir im Gedächtnis geblieben. Sie liebte es zu singen. Ihre Stimme klang in einem Ton, der Schmerz und Kummer in das Herz eingraviert. Ihre Stimme ließ einen traurig werden, aber noch öfter wollte man aufstehen und losgehen.

Resistente Persönlichkeit

Jiyan hatte eine resistente Persönlichkeit. Sie war sich ihrer kurdischen und weiblichen Identität bewusst und kämpfte gegen Verleugnung und Unterdrückung, wo immer sie auch war. Innerhalb der organisierten Jugendarbeit an unserer Universität nahm sie eine führende Rolle ein. In den Jahren 2013 und 2014 waren viele von uns faschistischen Angriffen ausgesetzt, die Angreifer wurden von der Polizei unterstützt. Jiyan akzeptierte das nicht und war eine derjenigen, die den Widerstand organisierten. Aus diesem Grund wurde sie vom Feind verfolgt und ständig beobachtet. Hunderte von Polizisten stürmten die Universität und begannen, patriotische kurdische Studierende festzunehmen. Zusammen mit 50 männlichen Freunden wurde Jiyan tagelang unter Folter festgehalten. In der Haft war sie diejenige, die den anderen Moral gab und sagte, dass der Widerstand vor dem Feind weitergehen müsse. Nach den Verhören wurden alle wieder freigelassen, Jiyan war die letzte. Sie leistete Widerstand gegen die speziellen Methoden der psychologischen Kriegsführung des Feindes.

Letzte Umarmung

Es war ein kühler Abend im März 2014. Die Sterne begannen gerade am Himmel zu erscheinen. Die Luft wurde mit Einbruch der Dunkelheit immer kälter. Wir trafen uns in einem Haus, in dem sich die Genossinnen und Genossen versammelten. Ich bemerkte die Traurigkeit in einigen Gesichtern, als ich eintrat. Wenn es einen Anlass für Trauer gegeben hätte, wäre Jiyan die Traurigste gewesen, aber an diesem Abend war sie am fröhlichsten. Ich merkte bald, dass ich einen interessanten Moment erlebte: Jiyan war sehr aufgeregt, gut gelaunt und gab ihren Freund:innen ständig Kraft. Sie teilte einige ihrer Erinnerungen mit uns. Bald wurde mir klar, dass wir eine Nacht der Trennung erlebten: Jiyan verließ uns und ging in die Freiheit. Wir sahen sie an, versuchten, die Freiheit in ihrem Blick einzufangen, beobachteten ihre lächelnden Augen bei ihren Gesprächen. Es war Zeit zu gehen. Jiyan wollte die Stadt mit dem Zug verlassen. Wir haben uns ein letztes Mal umarmt. Man wollte sie nicht loslassen, man wollte ihr folgen.

Als Jiyan mit ihrer Freundin auf dem Weg zum Bahnhof war, ging sie mit selbstsicheren Schritten und wedelte selbstbewusst mit ihrem Haar, als ob alle Sterne in dieser Nacht für sie den Himmel geschmückt hätten. Nachdem der Zug abgefahren war, steckte sie den Kopf aus dem Fenster, machte ein Siegeszeichen und war auf dem Weg in die freien Berge. Als sie weg war, war ich sehr glücklich. An diesem Tag versprach ich, ihr eines Tages zu folgen.

53 Studierende schließen sich der Guerilla an

Kurz nachdem Jiyan abgereist war, verbreiteten die Medien die Nachricht, dass sich 53 Studierende der Guerilla angeschlossen haben. Wir liefen sofort los, um zu sehen, wer da war und wer nicht. Damals war als Reaktion auf die Sabotage der Verhandlungen mit Abdullah Öcalan durch die Erdogan-Regierung eine organisierte Situation an der Universität entstanden. Im Zuge dieser Entwicklung schloss sich auch Jiyan an. In den Nachrichten wurde eine Erklärung verlesen. Jiyan stand in Guerillakleidung mit aufrechtem Kopf ganz vorne. Sie sah entschlossen aus, als wollte sie den Menschen Kraft geben. In diesem Moment löste sie unbeschreibliche Gefühle in uns aus. Die Freundinnen und Freunde, mit denen wir vor ein paar Nächten noch zusammen waren, traten nun als Guerilla vor die Weltöffentlichkeit.

Jiyans Lachen

Lachen wird manchmal als revolutionäre Aktion bezeichnet, manchmal als ideologisches Phänomen, manchmal als politische Antwort. Obwohl alle es aus eigener Perspektive und Gefühlswelt betrachten, ist es eine Tatsache, dass das Lachen der Guerilla am besten steht. Wenn die Guerilla lacht, ist es, als würden sich Natur und Leben begegnen. Auch in Jiyans Lächeln kann man Leben finden. Sie lacht so, ihre Gesichtszüge nehmen eine solche Form an, dass sie das Leben auf ihr Gesicht malt.

Jiyans Gefühle

Für Jiyan kam es nicht in Frage, als Frau so zu leben, wie es von der türkischen Besatzungsmacht gewollt war. Sie wollte nicht in einer vom Kolonialismus geprägten Gesellschaft leben und sie konnte ihre Augen nicht davor verschließen, dass ihr Land besetzt war. Die Sehnsucht nach Freiheit war für sie bestimmend. Sie war maßvoll im Leben und wusste, was sie wollte und zu sagen hatte. Sie war prägnant, einfach und aufrichtig. Ihr Bewusstseinsstand war höher als bei den meisten in ihrem Umfeld. Sie recherchierte, las, filterte die Informationen in ihrer eigenen Gefühlswelt, kam auf dieser Grundlage zu einer Schlussfolgerung und versuchte, diese zu leben und zu verteidigen. Dabei war sie nie grob oder verletzend, sondern bemüht, zu erklären und zu verstehen. Mit ihrer furchtlosen, festen und mutigen Haltung trat sie dafür ein, dass die Freiheit in den Bergen zu finden ist, in der Guerilla.

Auf dem Weg nach Botan

Ich glaube, ich kannte Jiyan ein bisschen. Ich hatte das Gefühl, dass sie eines Tages nach Bakur gehen würde, und ihre Abreise hat mich nicht überrascht. Mit ihrer zielstrebigen und entschlossenen Haltung überwand sie ein Hindernis nach dem anderen in der Guerilla und gelangte so aus eigener Kraft nach Botan. Jiyan war mit ihrem Land verbunden. Diese Hingabe ist auf einen bewussten Sinn für die Liebe zum Land zurückzuführen. Nach Jahren der Praxis in Garê, Avaşîn, Zap und schließlich Heftanîn war ihr Weggang eine nachvollziehbare Konsequenz. Jiyan stammte aus Botan und hatte irgendwo in den Tiefen ihres Herzens den Entschluss gefasst, dorthin zu gehen. In ihrem Leben verfolgte sie ihre Ziele mit Entschlossenheit und Mut und hatte nie das Gefühl, eines Tages aufzugeben. Botan war für Jiyan der Beginn und die Ewigkeit.

Letzte Worte an Jiyan

Ich habe mich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass Jiyan gefallen ist. Ich lebe weiter mit ihr. Jiyan war als Guerillakämpferin und als Medienmitarbeiterin in den Bergen in vielen Bereichen tätig. Sie erzählte vor der Kamera von den Geschehnissen und ihren Erlebnissen. Manchmal lacht sie, und ohne es zu merken, lachst du mit ihr. Dann siehst du ihre Fotos an; sie geben uns das Gefühl, einen Ort des Feuers zu sehen. So wie sie uns mit ihrem Leben gezeigt hat, wie man mutig, entschlossen und widerstandsfähig sein kann, möchte sie nun, dass wir in ihre Fußstapfen treten und an ihrer Seite stehen. Jiyan hat uns Jiyan hinterlassen, wir kennen Jiyan.