In der Türkei haben die Aktivitäten zum internationalen Kampftag gegen Gewalt an Frauen am 25. November begonnen. In Istanbul kündigte das Bündnis „25. November“ an, an diesem Tag wie in jedem Jahr am zentralen Taksim-Platz gegen Gewalt und für das Selbstbestimmungsrecht von Frauen zu demonstrieren. Am Freitag kamen Aktivistinnen vor der Süreyya-Oper im asiatischen Stadtteil Kadiköy zusammen, um gegen die frauenfeindliche Politik der AKP/MHP-Regierung zu protestieren. Belagert von einem großen Polizeiaufgebot brachten die Frauen ihre Wut über das von der Erdogan-Regierung propagierte Frauenbild zum Ausdruck und erklärten: „Unser Leben gehört uns!“.
An der Kundgebung nahm auch die Istanbuler HDP-Vorsitzende Ilknur Birol teil. Die Teilnehmerinnen skandierten „Jin jiyan azadî", „Nieder mit eurer Familie" und „Wir schweigen nicht, wir haben keine Angst, wir gehorchen nicht". Auf Schildern stand „Die heilige Familie ist ein Tatort“ und „Wir sind im Iran und in der Türkei für unsere Freiheit auf der Straße“.
Rüya Kurtuluş verlas eine Erklärung im Namen des Bündnisses und begann ihre Rede mit der Ankündigung, dass sie sich dieses Jahr wie jedes Jahr am Taksim werden: „Wir rufen alle Frauen auf, sich unserer Demonstration anzuschließen, um unsere Kräfte gegen Gewalt zu vereinen."
„Starke Familien gebären starke Nationen"
Kurtuluş wies darauf hin, dass Erdogan im Vorfeld des 25. November den Spruch „Starke Familien gebären starke Nationen" propagiere, und erklärte, dass das Leben und die erkämpften Rechte von Frauen mit der Kopftuch- und Familienregelung in der Verfassung erneut zu einem Schlachtfeld der Politik vor den im 2023 anstehenden Wahlen geworden seien. Erdogan habe vor Jahren mit seiner Aussage, Frauen sollten mindestens drei Kinder gebären, die Unterstützung von Frauen verloren und wolle seine Herrschaft durchsetzen, indem er Frauen in der Familie einsperre. „Wir werden uns weder einsperren noch diese Verfassungsänderung zulassen“, betonte die Aktivistin.
Tatort Familie
„Eines der Hauptthemen dieser Regierung war lange Zeit der Versuch, Frauen in Familien voller Gewalt und Ausbeutung zu stecken und ihnen ständig vorzuschreiben, wie sie zu leben haben! Was heute geschieht, ist, dass die AKP versucht, die Zustimmung, die sie in den Augen der Gesellschaft verloren hat, wiederherzustellen, indem sie die Autonomie der Frauen zerstört, mit dem Versprechen, die Unterdrückung der Frauen durch die Männer in der Familie zu verstärken, sowie durch eine repressive Politik", erklärte Kurtuluş und erinnerte daran, dass männliche Gewalt gegen Frauen meist von Männern in der Familie ausgeübt wird und die Tatorte von Femiziden meist die Häuser sind, in denen die glücklichen Familienbilder gemalt werden. Kurtuluş stellte fest, dass sexualisierte Gewalt gegen Kinder zunimmt, auch wenn die Familien, die von der Regierung gestärkt werden sollen, dies verbergen, und dass die Arbeitskraft von Frauen in der Familie ausgebeutet wird.
Mütterliche Pflichten im Nationalismus
Weiter hieß es in der Erklärung: „Und was tut diese Regierung? Um den Widerstand der Frauen gegen männliche Gewalt zu unterbinden, verteidigt sie den Ausstieg aus der Istanbul-Konvention unter dem Vorwand, die Familie zu schützen. Sie versucht, unser Recht auf Unterhalt an sich zu reißen, um Scheidungen zu verhindern, und erklärt diese männliche Politik als Schutz der Familie. Das Budget der [Religionsbehörde] Diyanet und der religiöse Druck auf Familien werden von Tag zu Tag größer. Indem die Regierung die Familie in den Mittelpunkt stellt und sagt, dass Kurdinnen fünf bis zehn Kinder haben, drückt sie den Nationalismus durch die mütterliche Pflicht aus, die sie den Frauen zuweist. Sie will, dass die Frauen die materielle und psychische Last der zunehmenden Armut zu Hause tragen, und erlegt den Frauen die Pflicht zur Sklaverei innerhalb der Familie auf."
Krieg gegen Frauen
Der 25. November falle in eine Zeit, in der versucht werde, das Leben von Frauen mit verschiedenen Formen männlich-staatlicher Gewalt unter Kontrolle zu bringen, sagte Rüya Kurtuluş: „Nicht nur die Stärkung der Familie, sondern auch die polizeiliche Gewalt und die Schikanen, denen wir jedes Mal begegnen, wenn wir auf die Straße gehen, die Tatsache, dass sich Polizeistationen in Folterzentren verwandelt haben, die Straffreiheitsentscheidungen der Gerichte, die Frauenmörder geradezu belohnen, die Verhaftungen politischer Frauen und die zunehmende Folter in den Gefängnissen, die Tatsache, dass die Kriegspolitik durch die Tötung von Frauen fortgesetzt wird, die Wirtschaftskrise und die Armut, die sich in ein Instrument der Gewalt gegen Frauen verwandelt, das Problem, dass Frauen keine Unterkunft finden, und natürlich die weit verbreitete männliche Gewalt, die aus diesen Bedingungen Kraft schöpft... Es ist fast ein Krieg!
Aber die Gewinner dieses Krieges werden nicht die Frauenfeinde sein! Seit 20 Jahren haben wir vor dieser Macht nicht zurückgeschreckt. Wir haben uns gegenseitig, unser Leben und unsere Rechte verteidigt. Der 25. November ist ein Tag, der durch den Kampf der Mirabel-Schwestern gegen den Diktator in der Dominikanischen Republik symbolisiert wird. Heute rütteln die Frauen im Iran am System. Mit der Kraft, die wir aus unserer Geschichte schöpfen, mit unseren Schwestern, die neben uns Widerstand leisten, und mit unserem Kampf; wir geben nicht auf für unsere Freiheit, wir geben unser Leben nicht auf, wir gehorchen nicht der männlich-staatlichen Gewalt! Am 25. November treffen wir uns um 19 Uhr am Taksim-Tunnel!"