Frauendorf Jinwar: „Entschlossen zu bleiben“

Durch die neuen Machtverhältnisse in Syrien und die militärische Intervention der Türkei im Nordosten des Landes hat sich auch das Leben im Frauendorf Jinwar verändert.

Krieg in Nordostsyrien

Das Frauendorf Jinwar in der Nähe der nordostsyrischen Kleinstadt Dirbêsiyê ist seit 2018 ein alternativer Lebensraum für Frauen jeglicher Herkunft. Das Dorf wurde auf dem Prinzip der Selbstversorgung gegründet, um Frauen die Möglichkeit zu geben, für ihre eigenen Grundbedürfnisse aufzukommen. Von Frauen für Frauen aufgebaut, soll das Dorf Frauen aller Kulturen und Religionen sowie ihren Kindern ein Zuhause bieten. Jinwar ist eine der Institutionen, die im Zuge der Revolution von Rojava entstanden sind, als Teil der Jineolojî-Bewegung.

„Jinwar ist eine Lösung gegen Gewalt und Völkermord, die auf den Werten der Frauenbefreiung, des demokratischen Gemeinschaftslebens, der Ökologie und der Freundschaft zwischen den Völkern und Religionen beruht.“

Auch das Leben in Jinwar hat sich in den letzten Wochen geändert. „Die Assad-Diktatur ist gefallen. Doch nun kämpfen verschiedene Kräfte um die Macht über Syrien, über das Land und die Menschen. Die Gruppen, die Rojava und andere Teile Syriens angreifen, sind von der Türkei unterstützte Gruppierungen, die zu Ende bringen wollen, was der IS nicht geschafft hat. Mit Waffen und Ausbildung aus der Türkei und anderen westlichen Ländern greifen sie unsere Städte und Dörfer an und begehen Massaker an den Menschen. Wieder einmal haben sie Tausende von Familien zur Flucht gezwungen und Kinder ohne Wohnung, Nahrung und Schule zurückgelassen“, heißt es in einem auf der Website Jineolojî veröffentlichten Statement aus dem Frauendorf.

„Wir kämpfen ums Überleben und ihr diskutiert über Abschiebungen"

Die türkische Armee und die Dschihadistenmiliz SNA haben parallel zu dem Sturz des Assad-Regimes weitere Gebiete in Nordsyrien besetzt und eine Massenflucht ausgelöst. Über 100.000 Menschen haben Zuflucht in der selbstverwalteten Region Nord- und Ostsyrien gefunden. Auch in Jinwar wurden Vertriebene aufgenommen:

„Familien, die aus Manbij und Sheba flohen, dies zum zweiten Mal nun, seit die Türkei im Krieg 2018 die Region Afrin besetzte, waren für einige Tage hier – Kraft tanken, bevor sie weiterzogen. Es waren Tage, in denen pausenlos Brot gebacken, Medizin und Essen verteilt wurde. Einige der Familien und Kinder erzählten von den Grausamkeiten, den sie erleben mussten, als die türkisch-dschihadistischen Kräfte in ihre Wohnviertel eindrangen und vor ihren Augen Familienmitglieder und Freunde hinrichteten. Was ihre Zukunft betrifft, so wie die der fast 200,000 weiteren Fliehenden, gibt es noch viele Fragezeichen. Trotz der großen Bereitschaft der Gesellschaft, die überall in Aktion getreten ist, um den Menschen zu helfen, fehlt es an fast allem.

Wo bei euch in Deutschland und in der EU bereits über Abschiebungen von Menschen zurück nach Syrien diskutiert wird und alle über einen Neuanfang sprechen, werden hier täglich weiter Menschen zur Flucht gezwungen. Überall wird von der Türkei angegriffen, und neue Operationen sind angekündigt. Es gibt eigentlich keinen sicheren Ort für die Menschen. Diese Unsicherheit betrifft auch das Leben hier bei uns im Dorf. Die Auswirkungen des langjährigen Angriffskrieges der Türkei sind zu spüren und Schlafplätze, Essen, Medizin sind knapp. Den Menschen Sicherheit zu bieten, ist kaum möglich.

In dem sonst so klaren Nachthimmel mischen sich unter die Sterne auch die Drohnen – ihr Sirren durchzieht die Stille der Nacht, nur unterbrochen vom Geräusch der Bomben, die auf die umliegenden Orte fallen. Allen hier ist klar, hier bedeutet Leben Widerstand. Das Leben geht weiter, Tag für Tag, zwischen Hoffnung und Sorge, zwischen Normalität und Ausnahmezustand. Jinwar ist eines der gelebten Beispiele von Selbstorganisierung und Widerstand der Frauen in Rojava, gegen Gewalt, Feminizid und für ein freies und selbstbestimmtes Leben. Die Häuser, gebaut aus dem Lehm der Erde hier, in denen gelebt und gelernt wird, das Naturkrankenhaus Sifa Jin und die Beete mit Gemüse und Blumen sind Samen der wachsenden Veränderung.

Die Frauen hier sind entschlossen zu bleiben. Entschlossen, dafür zu kämpfen, dass die Kinder wieder zu Schule gehen können, um auf ihrer eigenen Sprache zu lernen und mit den Werten der Demokratie und Frauenbefreiung aufwachsen. Entschlossen, der Gewalt und dem Tod entgegen etwas Schönes, das voller Leben ist, aufzubauen.“

 

In ihrem Statement rufen die Frauen von Jinwar alle Frauen und Völker der Welt dazu auf, ihre Stimme zu erheben: „Jetzt ist die Zeit gekommen, um für Rojava zu kämpfen. Denn das Leben, das hier aufgebaut wird, ist ein Beispiel für die ganze Welt.“