Frauenbüro Cenî erinnert an Genozid und Femizid in Şengal

Das kurdische Frauenbüro Cenî erinnert an den Genozid in Şengal und weist auf die uralte Widerstandstradition der Ezidinnen hin: Der Feminizid an ezidischen Frauen ist ein Feminizid an allen Frauen, die Widerstand leisten.

Das kurdische Frauenbüro Cenî mit Sitz in Berlin hat eine Erklärung im Gedenken an die Opfer des Genozids und Femizids am 3. August 2014 in Şengal veröffentlicht. In der Erklärung wird an die Gräueltaten des selbsternannten „Islamischen Staates“ (IS) und den Widerstand der ezidischen Gemeinschaft und insbesondere der Frauen erinnert. In der Erklärung heißt es:

Die Widerstandskultur der ezidischen Frauen lebendig halten

Das ezidische Volk ist im Laufe der Geschichte bis heute immer wieder Opfer von Völkermorden geworden und wurde aufgrund seiner Identität und seines Glaubens erbarmungslos massakriert. Ziel waren vor allem die Frauen. Während des 74. Genozids wurden ezidische Frauen vor den Augen der Weltöffentlichkeit massakriert, verschleppt und auf Sklavenmärkten verkauft. Doch durch ihren Widerstand wurden sie zu Idolen für Frauen auf der ganzen Welt. Trotz aller Angriffe haben die Frauen von Sengal neun Jahre lang den Widerstandswillen der ezidischen Gesellschaft geformt und gestärkt. Sie widerstehen allen Angriffen und Plänen zur Zerstörung ihres Glaubens und ihrer Identität und verteidigen ihre legitimen Rechte. Wir können erkennen, dass die Ursprünge der Eziden auf die Naturgesellschaft zurückgehen und dass die Essenz der Merkmale der Naturgesellschaft in der Person der Frau trotz aller Unterdrückung und Verfolgung bis heute lebendig geblieben ist. Dies weist uns auf die Realität eines Volkes hin, das in der Person der Frau die Kultur der natürlichen Gesellschaft am Leben erhalten hat, weil sie immer noch Widerstand leistet.

Aufgrund dieser Realität markiert der 3. August 2014 nicht nur den Tag, an dem der sogenannte ‚Islamische Staat‘ (IS) gezielt die Ezid:innen in Şengal angriff und einen bis heute andauernden Genozid verübte. Dieser Tag markiert auch den Beginn einer der größten Feminizide des 21. Jahrhunderts.

Die Terrororganisation ‚IS‘ übte insbesondere sexualisierte Gewalt gegen ezidische Frauen aus und führte Krieg über den weiblichen Körper. Obwohl die genaue Bilanz dieses Feminizids nicht bekannt ist, gibt es fast 20.000 Tote und Entführte. Zusätzlich zu den Tausenden von Frauen, Kindern, alten Menschen und erwachsenen Männern, die erbarmungslos ermordet wurden, wurden mehr als 7.000 Frauen und Kinder entführt und als Sklav:innen auf dem Markt von Mossul verkauft.

Die Frau steht für eine tiefe Erinnerung, die nicht vergessen werden darf, für den tiefen Schmerz von fünf Jahrtausenden Unterdrückung. Die Realität eines unterdrückten Volkes, das immer versucht hat, sich von Ausbeutung zu befreien, war zweifellos erst durch die Gefangenschaft der Frau möglich. Im Laufe der Geschichte hat sich die Frau als Hüterin der sozialen Werte und im Bewusstsein ihrer natürlichen sozialen Qualitäten allen Erlassen widersetzt und sich weder der Verbannung noch der Folter, der Beleidigung oder der Vergewaltigung unterworfen. Auch der Widerstandswille von Yade Gule zum Beispiel, die sich dem IS nicht unterwarf, ist Teil dieser Widerstandskultur der Frauen.

Es darf nicht vergessen werden, dass die Widerstandskultur, die die Machthaber fürchten, in diesen Frauen lebendig ist. Der Angriff des IS auf Frauen während des letzten Genozids war ein Beispiel dafür. Die Bandenorganisation des IS hatte eine hochideologische und bewusst faschistische Mentalität, die sich der Widerstandstradition des kurdischen Volkes bewusst war. Die strategische Lage von Şengal und das Schicksal der ezidischen Frauen waren also kein Zufall.

Deshalb müssen die europäischen Staaten den Völkermord in Şengal anerkennen und eine selbstverwaltete und bestimmte Autonomie ermöglichen. Nur so kann sich Şengal vor zukünftigen Angriffen schützen. Auch wenn wir noch nicht wissen, was das schmutzige Konzept für Şengal morgen bringen wird, die Haltung der Menschen, insbesondere der ezidischen Mütter, gegen diese Völkermordmentalität ist klar und sie werden alles tun, um diese Haltung zu verteidigen.

Erst im Januar dieses Jahres hat der deutsche Bundestag die Ereignisse von 2014 als Völkermord anerkannt. Auch die britische Regierung schloss sich kürzlich an. Dies sind wichtige Schritte zur Anerkennung und Heilung der kollektiven Traumata der Ezid:innen. Ebenso wichtig wäre es jedoch, Şengal beim Wiederaufbau und Frieden zu unterstützen, den die kurdische Freiheitsbewegung auf den Weg gebracht hat. Denn die Menschen in Şengal werden immer wieder von türkischen Drohnen angegriffen und ermordet. Doch die deutsche Bundesregierung nimmt dazu trotz der formalen Anerkennung des Völkermordes keine Stellung.

Am 3. August erinnern wir nicht nur an diesen Genozid, sondern an die lange Verfolgungsgeschichte der Ezid:innen, die sich bis heute in jeglicher Form von Gewalt und Diskriminierung ausdrückt. Gleichzeitig erinnern wir uns an die vielen anderen Frauen in der Welt, wie in Afghanistan, im Sudan, in Abya Yala, die dieser männerdominierten Welt ausgesetzt sind und dennoch einen unglaublichen Kampf für Freiheit führen.

Wir verurteilen die Gräueltaten und Verbrechen an den Ezid:innen aufs Schärfste und fordern endlich Anerkennung und Aufarbeitung  in der gesamten Region. Der Feminizid an ezidischen Frauen ist ein Feminizid an allen Frauen, die Widerstand leisten, deshalb müssen wir uns allen Angriffen und Feminiziden entgegenstellen und die Kultur des Widerstandes der Frauen aufrechterhalten und verteidigen. Jin Jiyan Azadî!