Frauenarchiv Ostschweiz: Wenn Geschichte geschrieben werden soll

In St. Gallen ist 1999 nach langjähriger Vorbereitung das Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz eröffnet worden. Die stellvertretende Archivleiterin Judith Grosse stellt das Projekt vor.

In der neuen Frauenbewegung der 1970er und 80er Jahre kam ein großes Interesse daran auf, wie Frauen in der Vergangenheit gelebt haben, was sie geleistet haben, was ihre Probleme und Erfolge waren. Doch ohne Quellen , also ohne Archive, in denen historische Dokumente von Frauen gesammelt werden, lässt sich diese Geschichte eben nicht erzählen und erforschen. In St. Gallen ist 1999 nach langjähriger Vorbereitung das Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz eröffnet worden.

Die stellvertretende Archivleiterin Judith Grosse hat sich in einem Interview in der Frauenzeitschrift Newaya Jin zu der Entstehungsgeschichte und ihrer Arbeit geäußert.

Zunächst einmal, wie ist die Idee zu dem Projekt entstanden? Woher kam der Bedarf nach einem Frauenarchiv? Seit wann gibt es das Frauenarchiv? Gibt es andere Frauenarchive innerhalb der Schweiz und auch in anderen Ländern?

Wenn Geschichte geschrieben werden soll, braucht es Archive – und bei der Geschichte von Frauen gab und gibt es große Leerstellen. Die Idee für das Archivprojekt entstand aus dem Interesse an der Geschichte von Frauen, die lange Zeit nahezu unsichtbar war bzw. einfach nicht erforscht wurde. In der neuen Frauenbewegung der 1970er und 80er Jahre kam ein großes Interesse daran auf, wie Frauen in der Vergangenheit gelebt haben, was sie geleistet haben, was ihre Probleme und Erfolge waren. Doch ohne Quellen, also ohne Archive, in denen historische Dokumente von Frauen gesammelt werden, lässt sich diese Geschichte eben nicht erzählen und erforschen. So kam die Idee auf, eigene Archive zu gründen. In den 1980er Jahren entstanden solche Projekte an verschiedenen Orten, immer auf Initiative von feministisch aktiven Frauen, so in Italien, Deutschland, Österreich und auch an anderen Orten in der Schweiz (in Bern gibt es das Gosteli-Archiv, das die Geschichte der organisierten Schweizer Frauenbewegung dokumentiert, es gab Initiativen in Zürich, Basel und im Tessin, aber auch in den eher ländlich geprägten Regionen Thurgau und Graubünden). So war es auch in St. Gallen: einige Frauen, die dort bereits eine Frauenbibliothek („Wyborada“) aufgebaut hatten, fanden, dass es genau solch ein Archiv brauche, um die Geschichte der Frauen in der Ostschweiz aufarbeiten zu können – denn sie konnten dazu so gut wie nichts in der männlich dominierten Geschichtsschreibung finden.

Wie ist das Archiv aufgebaut worden? Was waren Ihre Schwierigkeiten und Herausforderungen?

Die Dokumentationsstelle war zunächst Teil der Frauenbibliothek, hatte aber keine eigenen Geldmittel. darum gründeten die Frauen zunächst eine Dokumentationsstelle. So akquirierten die beteiligten Frauen also Gelder, um dieses Projekt umzusetzen und begannen 1990/91 mit ihrer Arbeit. Sie sammelten aus Bibliotheken, Staats- und Stadtarchiven alles zusammen, was sie über Frauen aus der Region finden konnten. Dank dieser Arbeit konnten wichtige historische Akteurinnen, Netzwerke und Organisationen ausgemacht werden – dieses Wissen bildete die Grundlage, um später das Archiv bzw. die Sammlung des Archivs aufzubauen. Als dem Projekt die Mittel ausgegangen waren, konnte das Projekt nicht weitergeführt werden. 1995 nahmen die Frauen von der Dokumentationsstelle in Zusammenarbeit mit Frauen von der Frauenbibliothek und den Gleichstellungsbüros von St. Gallen und Appenzell Ausserhoden einen neuen Anlauf: nach vier Jahren intensivem Lobbying und intensiver Geldsuche öffnete das Archiv 1999 seine Türen.

Die Hauptschwierigkeit bestand darin, die Wichtigkeit und Legitimation dieses Projekts an Politik und potenzielle Geldgeber:innen zu vermitteln – das war die Voraussetzung, um überhaupt Gelder einwerben zu können. Die Notwendigkeit eines solchen Archivs überhaupt erst in die Köpfe zu bringen, brauchte viel Überzeugungsarbeit.

Wer hat dieses Projekt finanziell und moralisch unterstützt?

Anfangs gab es noch eine klare Unterstützung von staatlichen Institutionen: Für vier Jahre war die Finanzierung recht großzügig und es konnte viel Aufbauarbeit im Archiv geleistet werden: es wurde intensiv gesammelt, geordnet und erschlossen. In dieser Phase kam allerdings die Diskussion auf, die Sammlung ins kantonale Staatsarchiv zu übergeben, was von den am Archivprojekt beteiligten Frauen abgelehnt wurde – Träger des Archivs ist ein Verein. Das Archiv blieb eine autonome Einrichtung, doch in den nächsten zehn Jahren erhielt das Archiv nur projektbezogene Gelder – keine institutionsbezogenen, wie am Anfang. Dafür gab es eine große moralische Unterstützung aus den lokalen Frauenstrukturen, die bis heute wichtig für das Überleben des Archivs ist: eine großzügige Spendenbereitschaft und die Bereitschaft, Freiwilligenarbeit im Archiv zu leisten. Dank guter Lobbyarbeit ist die staatliche Unterstützung inzwischen wieder angestiegen – wenn auch noch nicht auf einem ausreichenden Niveau. Ein informelles Netzwerk von Frauen ist solidarisch und stützt das Archiv nach wie vor.

Welche Kategerien gibt es innerhalb des Archivs? Machen Sie nur die Archivarbeit oder haben Sie andere Projekte?

Das Archiv umfasst neben der archivalischen Sammlung zur Geschlechter- und Sozialgeschichte der Ostschweiz auch eine Handbibliothek und eine Dokumentation zur regionalen Frauengeschichte (hervorgegangen aus der Dokumentationsstelle) und die entsprechenden Datenbanken. Unsere Sammelschwerpunkte sind neben der Alten und Neuen Frauenbewegung auch soziale Bewegungen und Migrationsgeschichte. Dabei sammeln wir sowohl personen- als auch institutionenbezogenes Material – also biographisches Material ebenso wie Aktenbestände von Vereinen, Organisationskomitees und Projektgruppen. Daneben sammeln wir auch Fotografien und führen Oral History-Interviews mit Personen, die einen Bezug zu unseren Sammelschwerpunkten haben und die dann bei uns im Archiv zugänglich sind.

Neben der klassischen Archivarbeit (Sammeln, Erschließen, Zugänglichmachen) ist die Geschichtsvermittlung von Beginn an eine wichtige Tätigkeit unseres Archivs. Dazu zählen neben Lesungen, Vorträgen und Archivführungen auch das Herausgeben von Büchern zu unseren Schwerpunktthemen bzw. unseren Beständen. Zudem hat das Archiv in regelmässigen Abständen auch Ausstellungen kuratiert, zum Beispiel zur Schriftstellerin Elisabeth Gerter, zur italienischen Arbeitsmigration in der Ostschweiz, zur Sozialgeschichte in der Schweiz und zuletzt zum Frauenstimm- und Wahlrecht in der Schweiz, das in der Schweiz erst im Jahr 1971 eingeführt wurde. In dieser Ausstellung „Klug und Kühn – Frauen schreiben Geschichte“ ging es darum, wie Frauen für dieses politische Recht seit der Gründung der modern Schweiz 1848 gekämpft haben, aber auch um andere gesellschaftliche Bereiche, in denen Frauen aktiv waren – sei das im Bereich Bildungsgerechtigkeit oder Selbstbestimmung über den Körper.

Gibt es auch Themen und Projekte zu anderen Völkern und Frauen außerhalb der Schweiz? Enthält Ihr Archiv auch etwas zu Kurdistan und kurdischen Frauen?

Bereits im Bereich Frauengeschichte hat das Archiv schon sehr früh auch versucht, die Geschichte von Migrantinnen in der Ostschweiz zu dokumentieren – ein wichtiges Werkzeug dazu sind die Oral History Interviews mit Frauen aus verschiedenen Ländern, die von ihrer Migrationsgeschichte und ihrem Leben in der Ostschweiz erzählen. Ausserdem besitzen wir die Archive von verschiedenen Vereinen von italienischen Migrant:innen aus der Region Ostschweiz, neben schriftlichem Material auch Objekte, Oral History Interviews und viele Fotos. Im Bereich der sozialen Bewegungen haben wir ebenfalls Bestände, die Material zu verschiedenen Ländern enthalten: Die Liga für Menschenrechte etwa, deren Archiv wir haben, hat eine umfangreiche Sammlung von Zeitungsartikeln zu internationalen Konflikten angelegt. Spezifisch zu Kurdistan gibt es viele Zeitungsartikel 1972 bis 1995. Zudem hat das Archiv einige Zeitschriften, sowie Archivmaterial der Organisation „Freundschaftskreis Kurdistan“, die in den 90er Jahren von der Ostschweiz aus begonnen hat, Solidaritätsarbeit zu leisten. Und auch die St. Galler Organisation „CaBi Antirassismus-Treff“ enthält Dokumente zur Solidaritätsarbeit für Kurdistan. Bei allem, was wir sammeln, sollte einfach ein lokaler Bezug zur Ostschweiz bestehen.

Wie wir auf Ihrer Webseite gelesen haben, haben Sie bis 2016 jährlich fünf bis sechs Mal einen Newsletter veröffentlicht, machen Sie das noch weiter?


Ja, unseren Newsletter gibt es weiterhin,wir haben einfach 2016 auf ein anderes System umgestellt. Sie sind auf der Website einsehbar. In unserem Newsletter berichten wir über neue Bestände und Veranstaltungen des Archivs und befreundeter Organisationen und stellen in jedem Newsletter eine Frau aus unserer Sammlung vor. Abonnieren kann man ihn hier: https://frauenarchivostschweiz.ch/newsletter.html

Ist Ihr Archiv für Besichtigungen und Recherchen geöffnet? Was muss man für einen Online-Zugang tun?

Da wir stets mit begrenzten Mitteln arbeiten mussten, sind nicht all unsere Datenbanken online durchsuchbar – das möchten wir gern ausbauen, sofern wir finanzielle Mittel dafür einholen können, das ist ein größeres Projekt. Man kann aber bereits jetzt über die Website sehen, zu welchen Personen und Organisationen wir Material haben. Dort findet sich eine Liste unserer Archivbestände, die jeweils auch zu einem detaillierten Beschrieb der Bestände verlinkt sind. Es gibt zudem eine Liste mit Personen/Organisationen, zu denen wir Fotos bzw. audiovisuelles Material besitzen sowie eine Auflistung der von uns gesammelten Zeitschriften. Unsere Plakatesammlung ist bereits digitalisiert und die Hälfte auf der Website einsehbar.

Die Datenbank für das audiovisuelle Material, die Frauenbiografien/Dokumentation und der Bibliothek ist leider momentan nur bei uns vor Ort benutzbar – wenn wir Anfragen erhalten, geben wir den Interessierten aber Auskunft was wir haben und helfen dann auch vor Ort bei der Recherche. Archivbestände können grundsätzlich nur vor Ort eingesehen werden – das hat auch datenschutzrechtliche Gründe. Am besten kontaktiert man uns zunächst per Mail und kann dann auch einen Termin vereinbaren – wir helfen gerne weiter.